INTERSTELLAR

Große, staunende Kulleraugen, ein Kribbeln in der Magengegend, Gedanken, die um einen Atomkern emotionaler Filmleidenschaft kreisen, so etwas ist eigentlich ein Relikt der Vergangenheit, der Kindheit. Ob und wie sich andere dieses Gefühl bewahrt haben oder nicht, ich weiß es nicht. Bei mir ist es wohl der Beruf und das Überangebot an audiovisueller Kunst, welche jenes Gefühl gedämpft haben. Ob nun dieser oder jener Film früher, später oder gar nicht ins Kino kommt, ich nehme es hin ohne Betroffenheit oder Groll. Lange hab ich nicht mehr so etwas wie kribbelige Vorfreude empfunden für einen Film, für eine Geschichte, eine Reise, die mich aus der Realität entführt. Aber wie aus dem Nichts war dieses Gefühl wieder da, knapp eine Woche vor dem Kinostart von INTERSTELLAR. Nun sitze ich hier und könnte über Blaubeermuffins schreiben, wohl aber keine rationale Rezension über den neuen Film von Christopher Nolan (THE DARK KNIGHT TRILOGY, INCEPTION). Muss ich aber auch nicht, Fakten gibt’s auf Wikipedia, Zahlenspielereien auf imdb, selbstgerechte Verrisse allerorten. Bei mir gibt es Blaubeermuffins.

 

INTERSTELLAR ist die neunte Spielfilmarbeit von Christopher Nolan. Bei all dem (gar nicht so penetranten) Tamtam um sein neues mutmaßliches Meisterwerk stellt sich schon die Frage, ob INTERSTELLAR auch seine persönliche neunte Sinfonie ist. Nolan hat klein angefangen, 69 Minuten in schwarz weiß (FOLLOWING). Aber Nolans Phantasie sprengte in den Folgejahren nicht nur erzählerische Perspektiven (MEMENTO), sondern auch audiovisuelle Grenzen (IMAX-Sequenzen in THE DARK KNIGHT + RISES und INCEPTION). Von 69 Minuten FOLLOWING zu 169 Minuten INTERSTELLAR, was sich geändert? Sind Nolans Filme wirklich egomane Gigantomanie, style over substance, ein Akt filmischer Selbstbefriedigung? Woher soll ich das wissen?

 

Cooper (Matthew McCornaughey) und seine Tochter Murph (Mackenzie Foy) spielen unfassbar ergreifend.

In INTERSTELLAR tritt die Menschheit zu einer ersten und einzigartigen interstellaren Raumdurchquerung an, denn die Erde in einer unbestimmten Zukunft verliert nach und nach alle lebenswichtigen Ressourcen. Anstatt das drohende Sterben menschlichen Lebens auf der Erde in kantigen und überdramatisierten Fernsehausschnitten zusammenzufassen, schildert Nolan diese Fakten eher dokumentarisch über rekapitulierende Zeugenaussagen.

 

Gleichzeit verlegt er den Focus gänzlich auf die Familie von Cooper (Matthew McConaughey), die eine einsame Farm im amerikanischen Nirgendwo betreiben. Cooper, seine Kinder Murphy und Tom sowie sein Schwiegervater (John Lithgow) kämpfen ums Überleben, bilden eine starke Gemeinschaft aus Liebe und rationalem Denken.

 

Das vermeintliche Auftreten eines Poltergeistes, der über einen binären Code Nachrichten hinterlässt, führt Cooper zu einer Handvoll Wissenschaftler, die sich in einem geheimen Stützpunkt verschanzen – es handelt sich um die Überreste der NASA. Diese forscht, trotz größerer Schwierigkeiten, an der Lösung des Menscheitsproblems. In der Nähe des Saturns ist ein Wurmloch aufgetaucht. Drei Wissenschaftler sind bereits durch das Wurmloch in ein anderes Sternensystem gelangt und haben Daten für drei potentielle Planeten übermittelt, auf denen die Menschheit vor dem Untergang bewahrt werden könnte. Cooper und ein Team (Anne Hathaway, Wes Bentley, David Gyasi und eine extrem fesche künstliche Intelligenz) folgen den Datenspuren, um sich Gewissheit zu verschaffen.

 

Der interstellare Raumflug und das Durchdringen des Wurmlochs haben ihre Quantentücken, unter anderem das Phänomen der Zeitdiletation. Während Cooper auf dem ersten potentiellen Planetenkandidaten nur Stunden verbringen, vergehen auf Erden als auch in dem Raumschiff ENDURANCE 23 Jahre. Zwar ist Zeit relativ, dennoch verrinnt sie für die Rettungsmission viel zu schnell, als sich der erste Kandidat als unbewohnbar erweist. Das zweite Ziel ist ein Eisplanet, auf dem einer der vorgeschickten Wissenschaftler, Dr. Mann (Matt Damon) verweilt. Diese Welt ist karg, doch ein Leben scheint möglich. Doch auch auf diesem Planeten erlebt Coopers Crew einen herben Rückschlag.

 

Keine CGI-Sonnenaufgänge, Meteoritenschauer oder Sternenexplosionen – INTERSTELLAR ist kein Effektgewitter.

Gleichzeitig führt Nolan auf Erden die Geschichte von Murphy, Coopers zehnjähriger Tochter, fort, die mittlerweile erwachsen geworden ist und Professor Brand (Michael Caine) bei der Lösung des Gravitationsproblems hilft. Während die Mission im fremden Sternensystem zu scheitern droht, eröffnet ein letzter Flug in den Ereignishorizont des schwarzen Loches einen Weg in eine Art vierdimensionalen Hyperwürfel, in dem die Lösung des Gravitationsproblems zu liegen scheint…und noch weit mehr.

 

Versuchen wir trotzdem nüchtern an INTERSTELLAR heranzugehen. Die stärksten Momente bezieht der Film aus dem persönlichen Fokus auf Coopers und Brands Familie, auf das starke Band von familiärer Liebe und Hoffnung. Dabei ist INTERSTELLAR alles andere als pathetisch oder übertrieben gefühlsduselig. In Szenen größter Emotionalität liegt keine Verschwurbelung, sondern Klarheit und Vernunft. Es gibt eine Diskussion über Liebe, die nicht von Menschen erschaffen wurde, einer Kraft, die über den Tod hinausgeht, das klingt vielleicht schwulstig, ist es aber nicht, es sind die stärksten Zeilen, die Jonathan und Christopher Nolan geschrieben haben und sie werden unglaublich stark von Anne Hathaway verbalisiert. Matthew McConaughey reißt mir in seiner Performance um die Videobotschaften von seinen Kindern das Herz aus der Brust, aber es ist nicht schmalzig, es wirkt echt. Nach dem Zusammentreffen mit Dr. Mann auf dem zweiten Planeten entwickelt sich ein gewaltiger Ereignissog, der ab diesem Moment den Film bis fast zu seinem Ende als einzige Sequenz erscheinen lässt, treibend, atemberaubend und ab diesem Zeitpunkt auch von unfassbarer visueller Wucht.

 

Die Crew der ENDURANCE (u. a. Anne Hathaway und David Gyasi) wecken Dr. Mann aus dem Kryoschlaf

Denn INTERSTELLAR ist vieles, aber kein Effektfilm. INCEPTION mag das größere Feuerwerk besitzen, in INTERSTELLAR ist es fast optische Nüchternheit, der Vorbeiflug am Saturn bewusst schlicht, das Betreten des Wurmlochs kein CGI-Gewitter. Brachiale Schlichtheit, das trifft es, dagegen wirkt GRAVITY fast wie eine Tüte buntes Popcorn. Die größte Leistung jedoch, nach meiner Auffassung, ist die klare und beinahe bescheidene Auflösung des Gravitations- Zeit-Paradoxons. Denn es ist nicht so, dass sich Nolan hinter einer Schutzmauer von Surrealität und Abstraktheit versteckt. Am Ende gibt es keine brache Mindfuck-Wendung, keine schwülstige Erkenntnis des Menschenhirns, die gibt es schon, aber sie fußt auf Emotionalität, nicht auf Verkopftheit. Man kann sich hinsetzen und versuchen, alle Fakten und Paradoxien zusammen zu puzzeln, aber der Film gibt einem einen schlichteren Weg heraus aus der Geschichte.

 

Was ist weniger gut gelungen? Der Anfang des Films um Coopers Familie hat starke Szenen, beispielsweise in Murphs Schule oder Coopers Worte über Wissenschaft und konstruktives Denken. Die Szenen danach, die sich um die Begegnung mit den Resten der Nasa bis zum Start der ENDURANCE beschäftigen, wirken dagegen beinahe gehetzt und zu schnell. Zu schnell willigt Cooper ein, das Raumschiff zu steuern, zu getrieben wirkt hier die Geschichte bis zum Aufbruch. Vielleicht ein Kompromiss bezüglich der Filmlänge, hier hätte ich mir fast noch mehr Zeit gewünscht. Coopers Sohn Tom geht unter, sowohl als Kind als auch als Erwachsener (gespielt von Chasey Affleck). Jessica Chastain, sie sonst immer sehr kalt rüberkommt, spielt hier allerdings den stärkeren Part. Michael Caine sehe ich zu gern, aber auch seine Figur hätte mehr Beleuchtung vertragen. Ein 180minütiger Directors Cut ist unwahrscheinlich, dafür ist Nolan nicht der Typ. Bleibt noch die Musik von Hans Zimmer, die nicht ganz so fesselt wie der Soundtrack zu INCEPTION.

 

Anne Hathaway als Amelia Brand ist sogar noch besser als Sandra Bullock in GRAVITY.

Was bleibt von INTERSTELLAR? So unfassbar viel. Am Ende des langen Wartens scheint es fast unfair, dass dem Film mitunter auferlegt wurde, wissenschaftliche wie gesellschaftpolitische Zukunftsfragen zu stellen und sogar zu beantworten. Es ist und bleibt ein Film. Wer keinen Ausgleich zwischen Erwartungen und daraus resultierenden Enttäuschungen in seinem Brustkorb schafft, ja, der kann vielleicht auf hohem Niveau unbefriedigt sein. Aber auch das ist nicht die Schuld Nolans. Wer Logikfehler angesichts eines quantenphysikalischen Plots sucht, wird in jedem Fall auch welche finden. Wer meint, Nolan holt sich mit seinen Filmen einen runter, der soll das tun. Ich will vermeiden, zu überschwänglich zu klingen, aber INTERSTELLAR hinterlässt bei mir ein ähnliches Gefühl, als ich zum ersten Mal ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT gesehen habe. Ich meine damit weniger den Film selbst als den Traum von der Überwindung von Grenzen, eine Sehnsucht nach Weite, Ferne.

 

Wer sich auch nur einen Samenkorn dieser kindlichen Sehnsucht nach den Grenzen der Zeit und des Universums bewahrt hat, der kann das vielleicht nachvollziehen und INTERSTELLAR weniger als Filmrezept eines möglicherweise zu sehr geschätzten Filmemacherkochs aufnehmen, an dem es hier und da an frischen Zutaten mangelt. Michael Caine fasst dieses Gefühl mit einem Vers von Dylan Thomas perfekt zusammen: “Geh nicht gelassen in die gute Nacht. Brenne. Rase. Wenn die Dämmerung lauert. Dem sterbenden Licht trotze, wutentfacht!”

 

Danke Christopher Nolan für dieses lang nicht gekannte Gefühl. Und Danke an die Person, die dies gestern mit mir geteilt hat.

 

Warner Bros. Pictures Germany

 

  • magnetischer Ereignissog
  • starke Emotionen
  • kein Effektgewitter…
  • …dennoch visuell atemberaubend
  • Matthew McConaughey
  • weder verkopft noch abstrakt
  • der Traum eines Kindes
  • Szenen um die NASA zu hastig
  • Figur Tom Cooper zu blass

 

FAZIT:

INTERSTELLAR entwickelt einen unglaublichen Erzählsog zwischen brachial-schlichter Visualität und ganz großen Emotionen. Ein Meisterwerk? Absolut!

 

INTERSTELLAR, USA, UK 2014, Regie: Christopher Nolan, Drehbuch: Jonathan & Christopher Nolan
Für Fans von CONTACT, DAS SCHWARZE LOCH & 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM

 

6 Comments

  1. Antworten

    […] Andererseits bereiten sie mir auch Unbehagen und Angst. Große Wellenberge, wie zuletzt in INTERSTELLAR, finde ich schaurig. Dieses Phänomen nennt sich Cymophobie, die Angst vor Wellen. Abseits dieser […]

  2. Antworten

    […] sind wir auch fast durch, mit dem Filmjahr, meine ich. Bis ganz zum Schluss blieb es exzellent, INTERSTELLAR hat längst verschwunden geglaubte Fernsucht neu entfacht, DER HOBBIT – DIE SCHLACHT DER […]

  3. Antworten
    Daniel 9. Februar 2016

    Danke für diese Rezension, ich fand den Film ebenfalls klasse, allerdings fand ich den ersten Teil, bei dem es um die Familie ging doch irgendwie hastig erzählt, hattest Du denselben Eindruck?

    • Antworten
      Christian Hempel 9. Februar 2016

      Hey Daniel! Also nicht unbedingt hastig erzählt, nur etwas unausgewogen. Coopers Sohn geht innerhalb der Familie etwas unter, gehetzt fand ich maximal die NASA-Szenen, das wurde mir zu schnell abgehakt. Ich könnte mir INTERSTELLAR aber mal wieder anschauen, fällt mir grad ein.

  4. Antworten

    […] paar Young Adult Dystopien. Dieses und letztes Jahr waren maximal PASSENGERS, GHOST IN THE SHELL, INTERSTELLAR oder EX-MACHINA veritable […]

  5. Antworten

    […] INTERSTELLAR von Christopher Nolan geht es erstmalig um den Begriff Zeitdilatation, jenes Phänomen um alle inneren Prozesse eines […]

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