THE POUGHKEEPSIE TAPES
In der Geschichte des Horrorfilms gab es immer wieder Marksteine des Genres, welche Trends auslösten. Fanden diese genügend Nachahmer oder Trittbrettfahrer, wurden aus Trends Subgenres. So begründete beispielsweise HALLOWEEN 1978 den Slasherfilm, eine Kannibalenfilmwelle überschwemmte Anfang der achtziger Jahre Europa und der Erfolg von RINGU zog jede Menge Japan-Horror nach sich. Subgenres können eine feinere Auslese der Zielgruppe sein, definieren sich aber auch über den Inhalt oder das Konzept. Bereits 1980 drehte Ruggero Deodato den Klassiker CANNIBAL HOLOCAUST teilweise in dokumentarischem Stil.
Als 1998 zwei Filmstudenten in ähnlicher Weise BLAIR WITCH PROJECT inszenierten, sprach man noch von Pseudo-Dokumentation oder „unsäglicher Wackelkamera“. Es dauerte noch bis 2007, als mit dem Erfolg von PARANORMAL ACTIVITY das neue Subgenre einen treffenden Namen bekam – Found Footage. Wie der Begriff andeutet, definiert sich der Found-Footage-Film folgendermaßen: gefundenes, aufgetauchtes, zurückgehaltenes oder streng vertrauliches Filmmaterial wird dem Zuschauer als echt oder authentisch verkauft. Dieses Konzept ist verhältnismäßig kostengünstig und einfach zu produzieren und so entstanden bislang eine Vielzahl von paranormalen Überwachungsvideos, Beweisaufnahmen von Infizierten (REC), Hexenaustreibungen (DER LETZTE EXORZISMUS), Monsterangriffen (CLOVERFIELD) oder Handyfilme von frisch gebackenen Superhelden (CRONICLE). Ähnlich verhält es sich mit THE POUGHKEEPSIE TAPES. Zwar steckt der Streifen aus dem Jahr 2007 eher im Korsett einer Mockumentary, dennoch dreht sich alles um gefundenes, ganz spezielles Videomaterial.
(!ACHTUNG! Review enthält Spoiler!)
In einem Haus im Bundesstaat New York findet die Polizei über 100 Videokassetten, die als THE POUGHKEEPSIE TAPES schaurige Berühmtheit erlangen. Es handelt sich um die private Videosammlung eines der grausamsten Serienkiller der amerikanischen Geschichte.
Im Stil einer Ermittlungsreportage rekonstruieren Profiler, Polizisten und FBI-Agenten die Verbrechen, die auf den Videobändern dokumentiert sind und machen sogleich deutlich, dass die Aufnahmen weit über die Grenzen des Erträglichen hinausgehen. So bemerkt ein FBI-Spezialist, dass seine Frau, die nur wenige Minuten aus den Videobändern gesehen hat, sich danach ein Jahr lang nicht von ihrem Gatten berühren ließ. Solche und ähnliche Interviewaussagen bauen gemächlich eine gewisse Spannung auf.
Trotzdem ist man als abgebrühter Genrekenner skeptisch, was man denn nun für abscheuliche Gräuel seitens der Filmmacher geboten bekommt. Als man nach knapp 10 Minuten erstmalig Einblick in die POUGHKEEPSIE TAPES bekommt, wird klar, die Reise in die Abgründe menschlicher Perversion geht eher in die psychologische Richtung.
Eine Prostituierte posiert vor einer Videokamera und wird von einer ruhigen, eindringlichen Stimme aufgefordert, einen großen Sitzballon aufzublasen und sich danach darauf zu setzen. Sie soll auf und ab wippen, bis der Ballon platzt. Die Aufforderungen werden immer ernster und schlagen nach kurzer Zeit in harschen, brutalen Befehlston um. Die kurze Szene wirkt grotesk, krank und man ahnt, was einen erwartet: kein blutiges Folterspektakel, viel mehr psychische Qual und Demütigung.
Kurz darauf hält der Killer vor einem Haus und geht auf ein Mädchen zu, die im Garten spielt. Nach einer kurzen, beklemmenden Unterhaltung ein dumpfer Schlag, der Killer rennt hastig zum Auto zurück und wirft Kamera sowie Opfer auf den Rücksitz. Man sieht nicht wirklich viel, zu verwackelt die Bewegungen, zu unscharf und grobkörnig die Aufnahmen. Dennoch bewirkt das Kopfkino, die Vorstellung über diese Tat, mehr kalten Schauer als ein blutiges Gemetzel. Viele der Aufnahmen aus den Tapes funktionieren so, viel geschieht im Off, wird durch Verzerrungen, Unschärfe oder Störstreifen verfremdet, nie wird explizit draufgehalten, und erreicht dadurch eine verstörende Wirkung. Dabei versucht der Film nur oberflächlich, realistisch rüberzukommen. Denn der Einsatz von Soundeffekten und Musik sind eher filmischer denn dokumentarischer Natur. Die Interviews mit den Profilern und Pathologen sind zwar sachlich und ähneln realistischen Reportagen, wirken aber teilweise übersteigert und parodistisch.
THE POUGHKEEPSIE TAPES nimmt sich durch verstörende Soundcollagen, Animationen über Tatorte und Wirkungskreise des Killers oder kleine Details wie die ausgebreitete Knochensägensammlung des Forensikers nicht wirklich ernst. Aber genau dieser Umstand macht ihn zu einem der gelungensten Found-Footage-Streifen. Denn er hat einerseits verstanden, dass die Vortäuschung, es handelt sich um echtes Videomaterial, nicht wirklich mehr zündet, und umgeht diese Prämisse demzufolge recht geschickt durch Übersteigerung und feinem, ironischen Unterton, hält aber immer die Waage, dass man es noch ernst nimmt.
Dass der Film nicht nur eine Nummernrevue an verstörenden Einblicken in die Welt eines Serienmörders ist, wird durch die Figur Cheryl Dempsey deutlich, die im Film als roter Faden fungiert. Der Killer stalkt die junge Frau, dringt in ihr Haus ein, beobachtet sie unter der Dusche und versteckt sich im Schrank. In der Nacht kommt er wieder hervor, trägt eine Schnabelmaske, was schaurig genug ausschaut. Diese Sequenz ist deswegen einzigartig, weil sie genau wie eine fiktionale Horrorfilmszene funktioniert. Man folgt aus der Perspektive des Killers durch Flure und Zimmer hin zum Opfer, welches flüchtet und dann doch niedergeschlagen wird. Dramaturgisch und auf technischer Ebene unterscheidet diese Szene kaum etwas von HALLOWEEN oder anderen Slasherfilmen. Sie bildet allerdings nur den Auftakt für ein kaum erträgliches Martyrium.
Cheryl Dempsey wird in ein typisches Serienkiller-Kellerloch gesteckt, gefesselt, gedemütigt. Doch die nun folgende Tortur ist weitestgehend psychologischer Natur, der Killer agiert als Meister und erschafft aus Cheryl seinen eigenen Sklaven. Ab da beginnt der Film auch vehement mit den Erwartungen der Zuschauer zu spielen, Pointen zu setzen, die man so nicht erwartet. Als der Killer zwei Pfadfinderinnen in seine Wohnung lockt, geht man von allem aus, nur nicht davon, dass Sklavin Cheryl als lebender Tisch agieren muss. Auch wenn man diese oder ähnliche Pointen beschmunzelt, es bleibt immer ein dicker Kloß im Halse stecken.
Aus diesem Grunde zweifelt man auch, als nach knapp einer Stunde ein Verdächtiger präsentiert wird. Die Ermittlungsarbeiten führen die Polizei zu einem Mann, der mittlerweile als „Water Street Butcher“ bekannt geworden ist. Sein wackeliger Indizienprozess wird, wie seine Hinrichtung durch eine Giftspritze, derart lang gezogen und theatralisch inszeniert, dass man dieser falschen Fährte gar nicht erst folgt. Diese Irreführung kann demzufolge auch keinen Spannungsabfall verhindern. Dennoch ist man sich sicher, dass das keineswegs alles gewesen sein kann, und der Film liefert auch ein Finale, was einem nicht so leicht wieder los lässt.
Erstes Highlight ist die Spritzenszene, welche ungemein an die frühen Kurzfilme von David Lynch erinnert und welche einem mit einem Schlag wieder fesselt. Im letzten Segment FOUND wird dann der dramaturgische Bogen zum Anfang geschlossen. Es handelt sich um die Szene, in der die Polizei das Haus des mutmaßlichen Killers durchsucht und auf die Tapes stößt. Es wurde jedoch verschwiegen, dass dies nicht der einzige Fund war. In einer Holzkiste findet das SWAT-Team Cheryl Dempsey – lebend. Acht Jahre nach ihrer Entführung hat sie der Killer zurückgelassen, ihr Finden möglicherweise sogar fingiert. Das anschließende Interview mit Dempsey verdeutlicht noch einmal ganz prägnant den bitteren Witz der Inszenierung.
Dempsey sitzt apathisch auf einer Couch und bekundet ihre Zuneigung zu ihrem Entführer, den sie weiterhin Meister nennt. Es kostet Überwindung, dieser abgemergelten, entstellten Frau zuzuhören. Als sie den Arm hebt, um sich am Kopf zu kratzen, sieht man für eine Sekunde, dass sie keine Hände mehr hat, sondern lediglich Stümpfe. Das ist erschreckend, wirkt nachhaltig und ist als Schlussbild die Quintessenz des fiesen Zynismus, die der ganze Film ausstrahlt. Vielleicht ist man ein wenig enttäuscht, wenn man einen Hammerschlag erwartet hat. Das Ende wirkt eher ruhig und beklemmend und hallt noch bis in den Abspann nach. Dort setzt THE POUGHKEEPSIE TAPES dann doch noch einen hundsgemeinen Schlusspunkt, bei dem einem ein letztes Mal das gequälte Lachen im Halse stecken bleibt.
Regisseur John Erick Dowdle (QUARANTÄNE, DEVIL) hat mit einem seiner ersten Filme eine unerwartet überraschende und detailverliebte Fake-Dokumentation erschaffen. THE POUGHKEEPSIE TAPES atmet viel morbides Flair von Filmen wie DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER, SIEBEN oder MARTYRS, garniert mit bitteren Pointen in verzerrter VHS-Optik und der Atmosphäre von David Lynchs Frühwerken. Es fließt kaum Blut, in den entscheidenden Momenten wird weggeblendet oder aber die Kamera findet Positionen, die man so gar nicht lang betrachten möchte. Durch einfache Mittel entfaltet der Film eine große Wirkung, ist grotesk überzeichnet und teilweise fast parodistisch. In manchen Szenen funktioniert er durchaus auch als fiktionaler Horrorfilm, als Reportage ist er durch die Segmentierung erzählerisch flüssig und spannend. Aber es ist hauptsächlich das Nicht-Gesehene, das in einem kleben bleibt und das lange unverdaut nachhallt.
Definitiv kein Wohlfühlfilm, wohl aber für jene, die glauben, dass sie nichts mehr schocken kann.
- beklemmend und beängstigend
- zynischer Humor
- sehr realistisch
- gelungene VHS-Optik
- Cheryl Dempsey!
- führt den Zuschauer an der Nase herum
- Alpträume garantiert!
- …leider unveröffentlicht
FAZIT:
DIE Found Footage Referenz ist erschreckend, alptraumhaft und voll zynischem Unterton. Leider blieb der Schocker bislang unveröffentlicht.
THE POUGHKEEPSIE TAPES, USA 2007, Regie: John Eric Dowdle, Drehbuch: Drew & John Eric Dowdle
Für Fans von DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER, SIEBEN & die Frühwerke von DAVID LYNCH
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