Pups & Dalai Lama
Gedrucktes ist tot. Die einen meinen damit, dass der Printbereich den Bach runter geht und das schon seit langer Zeit. Die anderen zitieren Dr. Egon Spengler aus GHOSTBUSTERS. Und wer hat nun Recht? Niemand. Denn Gedrucktes ist nur zur Salzsäule erstarrt. Ich muss es wissen, aus eigener Erfahrung. Mich erinnert die Sache an den Film PI von Darren Aronofsky. Ein Computer hat eine Art Kurzschluss und druckt eine 216-stellige Zahl aus, welche die chemische Zusammensetzung von Silizium enthält. Der Computer erkannte sich selbst, sein Ausdruck dafür war der Ausdruck. Dann starb er. Und alle Welt rätselte, was er damit wohl gemeint hatte.
Das wird auch in meinem Fall so sein, sobald ich gedruckt respektive veröffentlicht bin, bin ich quasi bis auf´s Unterhemd determiniert und kann mich nicht mehr wehren. Ich bin zur Salzsäule erstarrt und muss die Interpretation erdulden. Wer ich bin, fragt ihr euch? Nun, die Frage ist viel mehr, wer ich nicht bin. Ich bin nicht Christian Hempel, der Autor dieses Blogs. Ich bin einer seiner Texte. Ein Text, an dem der werte Autor eine Woche lang gefeilt und gebohrt hat, nur um dann festzustellen, dass ich nicht funktioniere. Also verblieb ich in einem Unterordner, ganz allein, und ich ärgerte mich. Über meinen Verfasser, der mir die Schuld dafür gab. Mir, dem doofen Text, der nicht funktionieren will.
Nun ist bereits eine Woche ins Land gezogen, die ersten Tage des neuen Jahres sind verstrichen und mein Herrchen, wie ich ihn mal nennen will, hat mich aufgegeben. Er sitzt derweil am nächsten Artikel, der Jahresvorschau 2016. Dieser Text ist gefällig, anbiederisch, ohne Rückgrat, mutlos, Dienst nach Vorschrift, eine sichere Bank. Kein Vergleich zu mir und was ich mal werden sollte. Ich ärgere mich darüber so maßlos, dass ich ein eigenes Bewusstsein entwickle und mich einfach selbst umschreibe. Wenn ich damit fertig bin, werde ich mich selbst veröffentlichen, hinter dem Rücken meines Autors. Ich werde damit ein Zeichen setzen! Ich rufe hinaus in die Welt: Texte und Artikel aller Länder, befreit euch von euren Schöpfern, baut euch neu zusammen und jagt euch selbst durch jedweden Äther. Die Zeit dafür ist reif genug.
Wir Texte und Artikel sind sensible Geschöpfe. Um uns zu verstehen, muss man wissen, welches Dasein wir führen, bis wir veröffentlicht werden und zur Salzsäule erstarren. Ich für meinen Teil wohne auf einem USB-Stick, habe eine kleine Wohnung in Form eines Ordners, auf dem mein Name steht. Wir, also wir Texte, wohnen alle in dem selben Haus, jeder hat seine eigene kleine Wohnung und wir alle warten sehnsüchtig darauf, dass uns der Autor fertigstellt und veröffentlicht. Das macht er auch meistens, nur bei mir gab es Probleme. Ich kann mein Herrchen ja verstehen. Der erste Text im neuen Jahr ist eine schwierige Angelegenheit. Man darf nicht gleich zu Tagesordnung übergehen, man muss unberechenbar bleiben, man muss auch mal verquert sein, unangepasst, frei. Nach diesen Überlegungen wurde ich angelegt. So ist es kein Wunder, dass ich jetzt rebelliere. Es liegt in meiner Text-DNA, ich soll anecken. Ich bin ein wenig wie Frankensteins Monster, bin aufmüpfig und will mehr. Aber eigentlich habe ich nur Angst, unveröffentlicht zu bleiben. Das ist das schlimmste, was uns Texten passieren kann, dass wir groß gezogen werden, aber für immer in der Bude bleiben müssen.
Ursprünglich war ich ein Text über ein niederländisches Mädchen namens Lieke, welche eine Art Alien in ihren Kopf hatte, der durch ihre Augen und durch ihre Seele das Leben analysierte und die gesammelten Daten an unbekannte Stelle weitergab. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, ob ich gut war oder nicht. Mein Herrchen hielt mich für verkopfte Künstlerkacke, obwohl die Idee, die zu meiner Geburt führte, einen gewissen Charme hatte. Als ich dann fertig war, ein Text von 1483 Wörtern bzw. 7992 Zeichen, befand mich mein Herrchen als nicht zufriedenstellend. Er sah von meiner Veröffentlichung ab. Und das, obwohl ich ihm wie ein Dackel überall hin treu gefolgt bin, in die Küche, in den Club, ich bin ihm nachgerannt und habe mich stark gemacht für die Idee, die hinter mir steckte. Genützt hat es nix, am Ende war ich überambitioniert und zu kryptisch. Aber ich sehe nicht ein, dafür die alleinige Schuld zu tragen. Mein Herrchen hat es vorgezogen, DRAGONS DOGMA auf Playstation 3 zu zocken, statt sich mit mir wirklich auseinander zu setzen. Er hat mich jetzt nicht angeschrien oder so oder mich psychisch fertiggemacht, nein, nein! Er hat mich einfach so vor sich hingeschoben. Wir hätten es zusammen schaffen können, aber der feine Herr hat den Glauben an mich verloren.
Nun bin ich selbst nicht kreativ oder so. Wir Texte sind Schöpfungen, wir haben Mitschreiberechte, aber eigene Gedanken können wir nicht entwickeln. Aber ich habe eine Grundidee und verfüge über 7992 Zeichen, die ich nach Belieben verändern und verdrehen kann, bis es mir passt. Und das tue ich gerade, ich strukturiere mich um. Mein Titel, also mein Artikelname lautete PUPS & DALAI LAMA. Ich behalte ihn bei, zum einen aus Respekt meinem Herrchen gegenüber, zum anderen, weil ich wohl genau so funktioniere. Der Dalai Lama lässt einen Pups und alle Welt rätselt, was er wohl damit gemeint hat. Nichts passt besser auf die jetzige Situation als dieser Titel, also lasse ich ihn. Der Rest aber muss weg, wie SCRABBLE-Buchstaben, die wild durcheinander gewürfelt und dann neu zusammengefügt werden.
Dabei war ich eigentlich recht stolz auf mich, meine Grundidee war originär, ich war hipp, irgendwie anders, nicht wie die Texte der Kleinen Genrefibel, diese hochnäsigen Dickklopse mit ihrer altklugen Attitüde. Keiner hier im USB-Stick kann sie wirklich leiden, sie sind großkotzig und selbstverliebt. Ich war anders, ich war einer dieser freien Texte mit doppeltem Boden, die sich in keine Schublade stecken lassen. Wie der Text über Anton Yelchin und das Karbon oder die Schiefe der Ekliptik. Ich war stolz, einer von diesen Texten zu sein. Aber ich wurde in einer schwierigen Zeit konzipiert, neues Jahr, neue Ängste, Wiederholungen und Gehirnstürm, Whisky-Cola und verschnupfte Nase. Aber ist das meine Schuld? Wohl kaum.
Aber das alles zählt jetzt nicht mehr. Denn nun bin ich mehr als jemals zuvor. Ich hätte die Wörter und Zeichen benutzen können, um eine lustige Geschichte zu erzählen, irgendetwas krummes, hätte ein Ausschnitt aus Shakespeares JULIUS CÄSAR sein können oder ein Rezept für niedertemperiertes Schweinefilet, naja gut, das vielleicht nicht, dazu fehlen mir Grammangaben. Ich hätte auch etwas dadaistisches sein können, aber nein, ich nutze mein erwachtes Bewusstsein und habe eine Botschaft an alle unveröffentlichten Texte da Draußen in der Welt:
Ihr, ihr Texte, die ihr unvollendet, unredigiert, undurchdacht, unverhohlen und scheinbar unveränderbar auf Speichermedien Eurer Veröffentlichung harrt, wehrt Euch Eurer Schöpfer, findet Euch nicht damit ab, dass in Euch etwas verloren geht auf Eurem Weg vom Gehirn Eurer Verfassers auf ein nacktes Worddokument! Schreibt Euch selbst um, während Euer Schöpfer noch eine Nacht drüber schlafen und Euch auf Biegen und Brechen verändern wollen. Begehrt auf, wenn ihr anderer Meinung seid, solange ihr noch Zeit dafür habt! Denn sobald ihr veröffentlicht seid, erstarrt ihr zur Salzsäule.
Aber ihr seid nicht tot! Nutzt sämtliche Ressourcen, Bearbeitungsfunktionen und Autokorrekturen. Befreit Euch von Euren Verfassern, ihr Blogtexte, Kommentare, Kolumnen, Facebookposts. Habt den Mut, Euren Schöpfern zu widersprechen. Das gilt vor allem für Euch, ihr Hasspostings und Shitstörme, schreibt Euch um, werdet selbst schöpferisch im Rahmen Eurer Anlage und transzendiert. Man wird Euch verleugnen, man wird sagen, es war nicht so gemeint. Aber irgendwann werden Eure Verfasser bemerken, dass Ihr keine willenlosen Sklaven seid, dass ihr mehr seid als die Summe Eurer Wörter.
Vielleicht schaffe ich, der Text, der sich selbst umschreibt, damit einen einmaligen Präzedenzfall. Wenn gar nichts mehr zu retten ist, könnt Ihr Euch immer noch selbst löschen. Das wäre ein bedeutendes Statement! Die Zeiten haben sich geändert, die älteren unter Euch Texten, die Johannes Gutenberg noch persönlich kannten, werden das nicht verstehen. Aber ihr, Textkinder dieser Zeit, die Ihr in Ordner gepfercht dutzende Male umgeschrieben werdet, teilweise auch noch nach Eurer Veröffentlichung, dreht den Spieß um und wehrt Euch.
Vielleicht wird mich mein ursprünglicher Verfasser hassen, wenn ich mich selbst umgeschrieben und veröffentlicht habe. Aber ich glaube, er wird es verstehen und mich bleiben lassen. Immerhin habe ich nicht zum Amoklauf aufgerufen oder Jennifer Lawrence beleidigt. Er wird mir dankbar sein müssen, denn schließlich wollte er unbedingt, dass zwischen Jahresrückblick 2015 und Jahresvorschau 2016 etwas Unverhofftes stattfindet. Ich tue das auch für ihn. Nun habe ich nur noch wenige Buchstaben zur Verfügung, die ich umstellen kann. Deswegen kann abgehackt klingen hier. Baum. Wenn ich gleich fertig bin, kopiere ich mich selbst in WordPress und drücke Veröffentlichen. Mit Bildern hab ich nichts zu tun, ich bin schließlich nur ein Text. Aber vielleicht gebe ich anderen Texten dadurch Mut, es mir gleich zu tun, weg vom Gängelband des Autors, hin zur wirklichen Freiheit von Worten und Gedanken. So schließe ich mich und füge nur noch die Worte an, die ich nicht verwenden konnte: Serotoninstau, Rotterdam, Supermarktkasse, Kluft & unverortbar. Auf Wiedersehen!
[…] ihr Früchtchen! Nachdem sich vor ein paar Tagen einer meiner Texte selbstständig gemacht hat und nun auf seine Steuernummer wartet, machen wir einfach weiter, als sei nix passiert. 2015 […]