Die kleine Genrefibel Teil 36: spy versus spy
Früher war alles einfacher, man hatte klare Identifikationen. Zuerst wollte man Marienkäfer sein, schickes rotes Cape mit schwarzen Punkten drauf, fertig war das Kindergartenkostüm. Dann kam Sindbad, Cowboy und Indianer, eventuell Kreuzritter, wenn man cool drauf war. War eigentlich eine schöne Zeit. Wenn alles glatt lief in der Kindheit, sehnte man sich später danach, der schwarze Rächer mit den Fledermausohren zu sein, ein Zeitreisender und natürlich Detektiv oder Agent, mit Lupe, schwarze Farbe für Fingerabdrücke, Dienstausweis und Wasserspritzpistole. Diese Phase hat mich bis weit über das Mindesthaltbarkeitsdatum meiner Kindheit begleitet. Kostümiert habe ich mich dann nicht mehr, Gott bewahre. Aber ich habe darüber geschrieben. Geschichten über Geheimagenten, die im Dunkel agieren, irre Gadgets besitzen, schöne Frauen bezirzen und deren Spielplatz die ganze Welt war.
Wer wollte nicht wie James Bond sein, mit Haut und Haaren ein waschechter Agent? Heute ist das schwieriger. Agenten und Spione sind nicht mehr so dufte wie früher. Schuld daran hat wieder mal die blöde Realität. Denn wo in der Phantasie Agenten und Spione Helden waren, in der Realität wurden sie plötzlich zu Finsterlingen, die Daten von unschuldigen Omas abgreifen, Freund wie Feind aushorchen und denen nicht mehr zu trauen war. Geheimdienstmissbrauch, Spionageaffäre, Datenskandale – sie haben den Agenten und Spionen heftig zugesetzt. Niemand erscheint mehr im Trenchcoat zum Schulfasching. Traurig, traurig. Aber so ist es.
Heute geht es in der kleinen Genrefibel ausschließlich um Spione und Agenten. Ich wurde von einem Geheimdienst mit diesem Artikel beauftragt, jenes Gewerk wieder ins rechte Licht zu rücken. Aber ich habe abgesagt. Deswegen muss ich ein wenig leiser schreiben, damit das keiner von denen merkt. Wovon reden wir hier überhaupt? Spionagekrimi, Verschwörungsthriller, Agentenfilme, die Subgenres sind zahlreich, doch wir nähern uns der Materie mal stärker über die Personifikation. Der Agent, das unbekannte Wesen, im Film ein fester Charakter mit nicht ganz so klaren Eigenschaften, ein Beleg für Zeitgeschichte, Politik und Gesellschaftsordnung? Beginnen wir mal ganz faktisch.
Das Psychogramm des Geheimagenten
Was ist ein Agent, was ein Spion? Die Tätigkeitsfelder mögen Überschneidungen besitzen, doch Agent ist nicht gleich Spion. Agenten wie Spione sind keine Erfindung des Kinos und auch nicht der Neuzeit, sie hat es in der Geschichte schon immer gegeben und der Reiz an ihnen liegt in der Gefährlichkeit ihres Berufsstandes. Jeder Herrscher, ob in der Antike, im Römischen Reich, Könige, Kaiser, jeder, der über Feinde verfügte, besaß auch Mittel und Wege, sich ihnen gegenüber Vorteile zu verschaffen.
Spione wurden ausgesandt, um beim Feind Informationen zu sammeln, das war entscheidend für Feldzüge, Kriegsstrategien oder Heiratspläne. Sie waren Augen und Ohren der Machthaber, Werkzeuge, um diese Macht zu erhalten. Filmgeschichtlich sind antike Spione und Agenten aber nicht wirklich stilprägend gewesen. Natürlich gab es hier und dort Spitzel und Lauscher, unter Kyros, Deiokes, Herodot, Kleopatra, Julius Cäsar, doch spricht man von Agenten und Spionen im Film, tangiert das Thema vorrangig Bespitzelungstätigkeiten seit Beginn des 20. Jahrhunderts.
Ein Spion beschafft in erster Linie Informationen. Ein Agent natürlich auch, nur geht sein Beschäftigungsverhältnis weit darüber hinaus. Der Agent muss zusätzlich anpacken können, Kameraden oder Zeugen aus Krisengebieten herausholen, Attentate verüben, unliebsame Gegner ausschalten. Was Spione und Agenten eint ist, dass sie beide Gesandte im Sinne eines Auftraggebers sind. Ihr Status ist geheim, sie müssen Befehlen folgen, loyal zum Auftraggeber sein.
Das Innenleben eines Spions oder Agenten ist von immenser Bedeutung, wenn es um einen waschechten Genrefilm geht. Denn weniger die Exotik fremder Länder, Explosionen, Verfolgungsfahrten, Schusswechsel oder waghalsige Aktionen bestimmen den Reiz des Genres, viel mehr das Psychogramm der Akteure in ihrem Denken und Handeln.
Ziehen wir zum Vergleich mal die kleine Genrefibel Teil 21 zu Rate, dort ging es ebenfalls um einen Berufsstand, den des Polizisten. Der ist ebenso psychologisch motiviert, dennoch ist der Agent oder Spion wesentlich komplexer. Ein Polizist macht seinen Job, auch er hat Vorgesetzte sowie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ein Agent hingegen ist weit mehr. Er ist ein Teil einer Organisation, extrem funktional, er muss loyaler sein, nicht nur seinem Arbeitgeber gegenüber, auch seinem Land, dessen Interessen er vertritt.
Darum ist er auch vielschichtiger, wenn es darum geht, die eigene Weltanschauung mit der seines Auftrages in Einklang zu bringen. Ein Agent legt für gewöhnlich sein Tagwerk nicht mit der Jacke am Haken ab, ein Agent ist immer Agent, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ein Agent und ein Spion sucht Geheimnisse, hat aber im besten Fall selbst keins. Er ist eine Maschine, ohne Privatleben, ohne Privatsphäre, getrieben von Funktionalität und Loyalität. Aus diesem Grund stecken in Agentenstoffen so viel dramaturgisches Potential. Ein Agent oder ein Spion ist ein zerrissenes Wesen oder kann zumindest zu einem solchen werden.
Tinker, Tailor, Soldier, Spy
Denn bereits sein normales Tätigkeitsfeld mit klarem Blick auf´s Vaterland ist dramaturgisch spannend. Ein Agent sollte gebildet sein, mehrere Sprachen sprechen, denn sein Einsatzort ist oft feindliches Territorium im Ausland. Er muss eine schnelle Auffassungsgabe besitzen, reaktionsschnell sein, kräftig, mutig, beinahe furchtlos. Die Kehrseite der Medaille ist, dass ein Agent meist kein Privatleben hat. Auch ein Cop hat so seine Probleme mit Bindungen, aber ein Agent oder ein Spion muss sich weit mehr verbieten preiszugeben. Sein Leben und die Sicherheit der Nation könnten davon abhängen.
Darüber hinaus kann ein Agent in eine psychologisch vertrackte Lage geraten. Was, wenn die Ziele seines Auftraggebers nicht mehr vereinbar sind mit der eigenen Humanität. Doppelagenten beispielsweise sind innerlich zerrissen, sie tragen Entscheidungen in sich aus, welche die Seele zerfrisst. Obwohl der Doppelagent das Psychogramm jenes Gewerks noch weiter zuspitzt, im Film sind das weniger Haupt- als Nebenfiguren, an dessen sich der Agentenheld selbst reibt. Gerade weil Vertrauen ein so wichtiges Gut ist im Agentenalltag, kann man schnell daran zerbrechen, wenn ein Kollege für beide Seiten arbeitet. Agenten sind oft tragische Wesen.
Im besten Fall sind es Abenteurer, aber das ist auch schon das einzig Erstrebenswerte. Ein Agent selbst hat keine Pläne, ein Agent führt Pläne aus, und das selten im schwarzen Smoking. Agentenalltag ist oft triste Büroarbeit, verqualmte Büros, scheußliche Anzüge, graue Menschen, verbrauchte Analytiker. Aber woher weiß man das?
Richtig, man weiß es eben nicht. Vieles, wenn nicht alles, ist geprägt durch Filme, die den Agenten zwar dramatisch, aber nicht unbedingt realistisch abbilden. Das muss man aber auch differenzieren. Es scheint klar, dass es Paradebeispiele für Agenten wie etwa James Bond nicht wirklich gibt, sie sind vielmehr eine überzeichnete Karikatur. Das mag sein, aber auch Bond wurzelt in seinem Wirken in der Geheimdienstrealität. Denn obgleich die Aufträge oder Gegner der Fantasie entsprungen sind, die Konflikte, auf denen der Agentenfilm fußt, sind ziemlich real, in jeglicher Dekade. Spione im ersten und zweiten Weltkrieg, Agenten im Kalten Krieg, im Nah-Ost-Konflikt, im Zeitalter von Terrorismus und Datenanalyse, thematisch bildet der Agentenfilm über die Jahrzehnte sehr deutlich Weltgeschichte ab. Darüber hinaus bleibt der Agent schwammig. Im Ernst, wer kennt schon einen Geheimagenten?
Es gab sie, die großen Spione und Agenten, sie alle waren aber deutlich weniger Bond, als man uns weis machen will. Mata Hari (Spitzel der Deutschen im ersten Weltkrieg), Thomas E. Lawrence (Agent der Briten in Arabien), Juan Pujol Garcia (Doppelagent im zweiten Weltkrieg), die Familie Rosenberg (Atomspione der Russen), Günther Guillaume (STASI-Spitzel im Kanzleramt) – sie alle waren Vorbilder für Kinofiguren, vielleicht sogar Legenden. Darüber hinaus fällt eine Recherche über Agenten heutzutage schwieriger aus als beim Polizisten. Agenten und Spione trifft man selten bei McDonalds oder an der Supermarktkasse.
Oder vielleicht doch, nur man erkennt sie nicht. Besonders Spione waren meist normale Bürger, die von diversen Diensten angeheuert wurden, Informationen zu beschaffen. Nicht jeder war dann gleich ein Bond oder ein Jerry Cotton.
Agent zwischen den Fronten
Die ersten Agenten im Film waren Akteure der beiden Weltkriege, Kriegsspionage, Attentate, das ganze Programm. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Geheimdienste gegründet wurden, war allen voran Großbritannien sehr erfolgreich im Spionagegeschäft. Es ist nicht verwunderlich, dass der Prototyp des Geheimagenten aus Großbritannien entstammt. Ian Flemming, Schöpfer von James Bond, war selbst ein Agent im Zweiten Weltkrieg, Obgleich die Romane um den berühmtesten Agenten der Filmgeschichte erst in den fünfziger Jahren erschienen, sie basierten auf Flemmings Erfahrung im Nachrichtendienst in der britischen Marine. Doch der Agentenfilm hat frühere Wurzeln.
Die ersten Agentenstreifen waren O.H.M.S (“On His Majesty’s Service”) von 1913 und THE GERMAN SPY PERIL aus dem Jahr 1914, beide stammen aus Großbritannien. Es ging, fiktional wie in der Realität, um die Angst vor ausländischen Invasoren. Besonders in der Auseinandersetzung zwischen Briten und Deutschen lagen die Ursprünge für Agentengeschichten, zuerst natürlich als Romane und Kurzgeschichten, später auch im jungen Medium Film.
1909 wurden sowohl der MI5 als Inlands- sowie der MI6 als Auslandsgeheimdienst in London gegründet. Jene Geheimdienste sind somit weit älter als beispielsweise die amerikanische CIA, die erst nach dem zweiten Weltkrieg entstand. Frühe Agentenklassiker gingen vor allem auf das Konto des Regisseurs Alfred Hitchcock, der mit DER MANN, DER ZUVIEL WUSSTE, DIE 39 STUFEN, GEHEIMAGENT und SABOTAGE in den dreißiger Jahren die bekanntesten Agentenfilme schuf. In den vierziger und frühen fünfziger Jahren waren es vor allem Bereiche der Kriegsspionage, die im Film thematisiert wurden.
Ein Agent definiert sich immer auch aus seinen Gegenspielern heraus. In den ersten Agentenfilmen waren das die Nazis, viel wurde aufgrund von Propaganda inszeniert, das Feindbild aber war immer klar. Informationen waren im zweiten Weltkrieg überaus wichtig und konnten kriegsentscheidend sein. Da sich die Weltordnung aber nach 1945 grundlegend änderte, beeinflusste das auch das Agentengeschäft.
On Her Majesty’s Secret Service
Der Kalte Krieg war Dreh- und Angelpunkt rund um Spionage und Agententätigkeit. Anders als im Krieg war die Auseinandersetzung der großen Blockmächte Amerika und Russland eine stille. Geheimdienste anderer Länder mischten zwar kräftig mit, doch die großen Player hießen nun CIA und KGB, beide in den fünfziger Jahren gegründet. Die späten fünfziger, vor allem aber die sechziger Jahre waren die Bühne für den Agentenfilm. Entgegen reiner Spionagetätigkeiten, also Informationsbeschaffung, waren nun auch Geheimoperationen im Ausland ein wichtiges Instrument der Verteidigung des jeweiligen Landes. Bei all den unterschiedlichen Geheimdienstenorganisationen kann man schon mal durcheinanderkommen.
Neben dem MI5 und MI6 als britischer In- und Auslandsdienst gesellten sich nach dem zweiten Weltkrieg andere Organisationen hinzu. Die CIA hatte ihren Schwerpunkt im Bereich human intellgence, Beschaffung von Informationen durch andere Menschen. Der rein technische Aspekt von Abhörung und Datenauswertung unterlag in den Staaten der NSA. Agenten sind natürlich auch beim FBI zu finden, die neben Strafverfolgung auch nachrichtendienstliche Tätigkeiten ausüben.
Im Ostblock war der KGB führend sowie die STASI in Ost- und der BND in Westdeutschland. Aber auch der MOSSAD, der israelische Auslandsgeheimdienst, mischte kräftig mit. Nahezu jedes Land besaß einen solchen Apparat, auf der Weltbühne hingegen waren hauptsächlich CIA, NSA, MI5 und KGB die Strippenzieher.
Aus ihnen erwuchsen manch heroische Agentenfiguren. Allen voran James Bond, der auch heute noch als Prototyp eines Agenten gilt, obwohl ihn die Realität längst eingeholt hat. Bond ist mit dem Kalten Krieg verknüpft wie kein anderer. In drei Jahrzehnten spiegelte diese Figur die Angst vor einem möglichen dritten Weltkrieg, die Gefahr einer russischen Machtübernahme und eines atomaren Erstschlages. Das Ausschalten von Doppelagenten und Befreiung von inhaftierten Spitzeln und Befehlsträgern, so sehr Bond auch Parodie des Agentengenres war, so real waren die Wurzeln seiner Arbeit. Die Bondfilme schufen eine Parallelwelt, die dem Wunsch entsprachen, den kalten Krieg zu überwinden. Natürlich aus Sicht derer, die sich als die Guten wähnten.
Bond war für mich eine entscheidende Figur. Nicht nur, dass sie durch die Exotik fremder Länder, Frauen, Gadgets und coole Sprüche extrem beliebt war, die innere Einsamkeit und das Gefangensein im System waren spannend und regte die Phantasie an. Die ersten Geschichten, die ich als kleiner Bub schrieb, waren Agentenabenteuer. Noch immer benutze ich heute mit Rikenbaker mein damaliges Agentenpseudonym, mein Alter Ego. Jetzt, wo die Geheimdieste eh alles wissen, kann ich das ja offenbaren.
Bondfilme, meist Sonntag, 20:15 Uhr auf der ARD, das waren immer Ereignisse. Ich bin mit Roger Moore aufgewachsen, nicht mit Connery, auch wenn der Schotte zugegeben der Ideal-Bond ist, so verband ich den smarten Agenten immer mit Roger Moore. Was Bond so aufregend machte, war gar nicht seine Selbstbestimmtheit.
Bond war in den sechziger und siebziger Jahren ja irgendwie vogelfrei. Erst spätere Verfilmungen banden ihn eher an den MI6, an die Vorgesetzte M und an andere Agenten mit Doppelnull-Status. Mögen spätere Bondmimen wie Daniel Craig realistischere Züge haben, Bond bleibt immer noch Bond und ist trotz seiner immensen Bekanntheit eine Agentenausnahmeerscheinung.
Da wir filmisch stark vom amerikanischen Kino geprägt sind, gab es außer bösen Russen kaum eine andere Projektionsfläche für internationales Makakentum. Aber auch die UDSSR produzierte Agentenfilme. Der Höhepunkt dieser Welle lag in den sechziger Jahren. Ein Jahrzehnt später, der Kalte Krieg war noch immer präsent, drängten sich aber auch gern inländische Konflikte auf, die es zu überwinden galt, vor allem in den USA. Die Watergate-Affäre, das Versagen in Vietnam, militärische Operationen, denen immer Geheimdienstarbeit vorausging, all das wurde in der Öffentlichkeit stärker hinterfragt. Damit auch die Rolle der Geheimdienste.
In den Siebzigern waren das vor allem Auseinandersetzung innerhalb der CIA, Affären, Doppelagenten, Brüche von Konventionen, Selbstbespitzelung. Der Apparat drohte einzustürzen. Naja, nicht ganz, aber so vorbehaltlos waren Bevölkerung, Medien und der Film dann nicht mehr von staatlichen Tätigkeiten. Besonders in den achtziger Jahren gingen bis auf Bond die Agentenfilme zahlenmäßig zurück. Das lag zum einen an der Entspannungspolitik zwischen den Großmächten, Atomwaffensperrvertrag, etc, als auch in der Hinterfragung, wer eigentlich die Guten und die Bösen waren.
Neue Helden braucht das Land
Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht das Ende der Geheimdienste, im Gegenteil. Das war für Filme schwieriger als für die Realität, diese hatte bereits 1991 mit Beginn des ersten Golfkrieges wieder genug zu tun für Agenten und Spione. Im Film war so, dass der größte Gegner einfach wegfiel, die Russen.
Daran hatten die ersten Bondfilme der neunziger Jahre zu kämpfen, die, geprägt vom jahrzehntelangem Antagonismus, neue Feindbilder suchen musste. GOLDENEYE von 1995 klammerte sich noch krampfhaft am zerfallenem Sowjetstaat. Was die Russen als Gegenspieler ablöste, war der internationale Terrorismus. Und den galt es mit ganz anderen Mitteln aufzuhalten.
Obwohl alle Bondfilme über deftige Actionszenen verfügten, ich würde sie nicht als reine Actionstreifen bezeichnen. Jedenfalls nicht, wenn man Bonds Erben ab 1990 ins Visier nimmt. War Spionage und Agententätigkeit im Kalten Krieg auch immer ein Schachspiel, wurde es nach dem Zusammenbruch der UDSSR und dem Erstarken des Terrorismus zunehmend handgreiflicher. Neue Helden mussten her, sie mussten noch mehr auf dem Kasten haben. Einen guten Bond-Nachfolger zu finden oder zu kreieren, war nicht ganz leicht. Der Name war da meist wichtiger als sein Innenleben. Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass die Nachfolger von James Bond über die selben Initialen verfügen? Jason Bourne, Jack Bauer…na gut, dann hört es auch schon auf.
Im direkten Duell der Superagenten trat in den frühen Neunzigern vor allem Ethan Hunt in der Kinoadaption MISSION IMPOSSIBLE in Erscheinung. Er schien über alle Fähigkeiten eines Spitzenagenten zu verfügen, inszenatorisch war Hunt 1996 dem ein Jahr früher erschienenen ersten Brosnan-Bond aber weit überlegen.
Diese Wendung hat sich bereits in den Achtzigern abgezeichnet, in denen der Actionheld geboren wurde. Somit waren die Agenten nach dem Kalten Krieg aus anderem Holz geschnitzt. Die MISSION IMPOSSIBLE Reihe war Bond auf Speed. Während 007 mit einem Raketenrucksack zu einem Schornstein hochflog, hängt sich Ethan Hunt an Schnellzüge oder klettert an Hochhausfassaden.
Die neuen Agenten waren unabhängiger vom Auftraggeber, der sie meist in die Pfanne hauen wollte und mehr Actionheld als bedachter Agent. Schwarzenegger mischte kräftig in TRUE LIES auf, Val Kilmer wurde in THE SAINT hasenwild und auch zarte Mädchen konnten ziemlich rabiate Agentinnen abgeben (NIKITA, 3 ENGEL FÜR CHARLIE). Selbst Bond machte in den neunziger Jahren eine Wandlung vom smarten Onliner-Agenten zum mürrischen Hau-Druff-Spezialisten. Das änderte sich aber relativ schnell wieder mit dem 11. September, wie so vieles.
Die Unberechenbarkeit des Apparats
Sicher würde eine genaue Betrachtung der Materie jeden Rahmen einer Genrefibel sprengen. Aber plakativ kann man sagen, der 11. September war auch ein großer Rückschlag für die Geheimdienste, die den Terroranschlag trotz Hinweise nicht hatten vereiteln können. Dabei sind geheimdienstliche Rückschläge keine Seltenheit, schon immer ging in diplomatisch-geheimer Mission besonders von Seiten der CIA einiges schief.
Der 11. September bedeutete aber eine generelle Neuerfindung der Geheimdienste, in der Realität wie im Film. Hatte der Agent ohnehin schon wenig Persönlichkeit oder komplexes Innenleben abseits seiner Funktionalität, wurden ab dem Jahr 2001 filmische Außen- wie Inneneinsätze zunehmend noch unpersönlicher.
Der Agent ist heute stärker in das System involviert, bondsche Alleingänge verbleiben in purer Fiktion. Das hat auch seine Tücken, wie es das System selbst hat. Ein Jason Bourne, eine Adaption der Romanfigur von Robert Ludlum, kämpf in der BORUNE-Reihe vor allem gegen den Feind im Inneren. Ob zu Geheimdienstarbeit Intrigen, Affären und jede Menge Leichen im Keller gehören, weiß ich nicht, zu den Filmen gehören sie in jedem Fall dazu. Die Faszination von Agentenfilmen ist ihre Komplexität. Diese gestattet es, Extremfälle auszumalen, die es nicht gibt, aber durchaus geben könnte. Der Agentenfilm ist in seinen Hintergründen stark in der Realität verankert. Wie der Held aber letztendlich entscheidet und was er entscheidet, ist hierbei die Wunschvorstellung.
Woher kommt also dieses Wissen, was unglaublich komplex in einigermaßen realistischen Filmen über Spione und Agenten thematisiert wird? Wenn doch alles so geheim ist? Die großen Agenten im Film basieren alle auf großen Helden in der Literatur, einem eigenen Subgenre, zu dessen Schöpfern vor allem die Autoren Ian Flemming, Robert Ludlum und John le Carré (TINKER, TAILOR, SOLDIER, SPY) gehören, die allesamt für Geheimdienste gearbeitet hatten. Andere Quellen sind zeitgeschichtliche Fakten, aber mehr Visionen, was wirklich passierte hinter Attentaten, Anschlägen und Kriegsmissionen. Wahrheit und Fiktion peitschten sich praktisch gegenseitig auf.
Ein weiterer bekannter Autor mit eigenen Superagenten ist Tom Clancy, der mit der Figur Jack Ryan einen stark patriotischen Agenten schuf, der es inzwischen zu fünf Kinoauftritten gebracht hat. Obwohl Jack Ryan auf den ersten Blick wie ein typischer Bond erscheinen mag, Clancys Bücher und auch die Filme zeigen vor allem Grauschattierungen des Agentendaseins und der Geheimdienste. Auch ist in JAGD AUF ROTER OKTOBER der Russe nicht per se der Böse. Wenn auch Filme inhaltlich wie in der Vision den Kalten Krieg, Terrorismus und Cyberkriminalität überwunden zu scheinen haben, in der Realität tun sie das weniger. Vor allem deshalb, weil der Agent oder Spion schnell durch etwas anderes ersetzt wurde.
Heute sind es weniger Agenten und Spione, die für Aufregung sorgen. Heute ist es die Unkontrollierbarkeit des Apparates selbst. Wir fürchten keine Spitzel, wir fürchten die Organisation, zum Teil auch deshalb, weil wir sie nicht verstehen. Was heißt das, Überwachung, Datenabfangen, Verletzung der Persönlichkeitsrechte? Im Film wird gejubelt, wenn ein Agent die Bestimmungen über den Haufen wirft und handelt. Es steht ja was auf dem Spiel. Doch es ist trivial.
Die Argumentation für die verdachtsunabhängige Auskundschaftung aller Bereiche ist nach wie vor die Terrorabwehr. Schön und gut, aber niemand kann ein solches Was-Wäre-Wenn-Szenario verstehen, geschweige steuern.
Eine NSA gibt es nicht erst seit gestern, Filmliebhaber haben sie schon entdeckt in SNEAKERS, STAATSFEIND NR. 1, DAS MERCURY-PUZZLE, EAGLE EYE, das war natürlich Fiktion, oder doch nicht? Wenn ich´s doch nur genauer wüsste. Und inwiefern kann man Filmen über Geheimdienste noch trauen? Vielleicht braucht es die auch gar nicht mehr, wenn eine Dokumentation wie CITIZENFOUR spannender als jeder Geheimdienstthriller ist?
Das spannende an dieser Überlegung ist, dass dem Filmfan und dem Weltpolitisch Interessiertem in Zukunft ein weit besserer Einblick in dieses Geschäft gegeben ist als bisher, das auch Dank Edward Snowden und Plattformen wie WikiLeaks. Im politischen Bereich steht der Film und entsprechende Subgenres da ohnehin vor einer interessanten Schwelle. Naja, wie dem auch sei, der klassische Agent fällt da durchs Raster, er ist ein Anachronismus. Im Kino darf er natürlich noch existieren, er ist eine perfekte Ablenkung. Bond geht noch immer, der Wunsch, die Welt durch einen feschen Agenten zu retten, noch immer eine Traumvorstellung, der man sich in diversen Medien hingibt, Film, Serie, Games, der Agent ist präsenter denn je.
The Man Who Knew Too Little
So gibt es im Jahr 2015 auch immer noch den gleichen Agentenquatsch wie in den Achtzigern. Der Agent und der Spion selbst ist und bleibt ja auch eine Karikatur. Bond war selber eine, aber er hat sich gut verkauft, die Parodie der Parodie wurde später von AUSTIN POWERS und JOHNNY ENGLISH verkörpert. Aber es gibt auch charmante Agentenkomödien ohne Holzhammer und Fäkalhumor. Seltene Perlen sind ES MUSS NICHT IMMER KAVIAR SEIN, UNDERCOVER BLUES und natürlich der Coen-Brothers-Streifen BURN AFTER READING.
Sogar die kleinsten werden mit manch Agentenfilm bedient, klar, ist Agent neben Cowboy und Indianer ja eine tolle Rolle für junge Hüpfer, wie ich selber einer war. Hätte ich in meiner Kindheit sowas wie SPY KIDS gesehen, ich wäre ausgeflippt.
Über Agenten und Spione im Film zu schreiben ist nicht ganz einfach, denn die Materie ist komplex. Jede einzelne Filmbesprechung im Hinblick auf tatsächliche historische Begebenheiten wäre eine interessante politische Analyse von ausufernder Komplexität. Zumal sich die Dinge ins Nebulöse entwickelt haben, was Geheimdienstarbeit betrifft. Zwar weiß man nun weitaus mehr, aber das geht mit der Erkenntnis einher, dass da noch eisbergmäßig was im Verborgenen liegt. Wir stecken da mitten in einer irren Aufholarbeit, Filme wie ZERO DARK THRITY wären vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen, bald kommt eine Edward Snowden Verfilmung von Oliver Stone, es wird nicht das letzte Wort in Sachen Abhörskandal sein. Besonders im Fernsehen, wo komplexe Handlungsbögen mittlerweile massenkompatibel sind, finden Serien wie HOMELAND oder BURN NOTICE unzählige Fans.
Klassische Agenten werden immer Bestandteil des Kinos bleiben, auch wenn man sich eher retrospektiv mit ihnen auseinandersetzt (THE IMITATION GAME, TINKER TAILOR, SOLDIER, SPY). Wenn man heute Geschichten um Geheimdienstarbeit angeht, braucht es den Agenten streng genommen kaum noch. Internationale Verstrickungen gibt es zu Hauf, heute sind Leute wie Edward Snowden eine neue Art von Agent – nämlich ohne Organisation, ohne Auftrag, wenn, dann im Auftrag der Wahrheit. Welche Folgen das hat, ist schwer einzuschätzen. Sowohl im Film, als auch in der Realität.
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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.
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