SCHNEEFLÖCKCHEN

Jungs, wir müssen mal wieder…oh fuck, Verzeihung, ich meinte natürlich Jungs und Mädels, wir müssen mal wieder über deutsches Genrekino reden. 27 Jahre nach Helmut Kohls Vision von blühenden Genrelandschaften wird dieser Traum mehr und mehr Wirklichkeit. 2017 ist bislang ein fantastischer Jahrgang für den deutschen Genrefilm, nach der fünften GENRENALE, dem Kinostart von IMMIGRATION GAME und BERLIN FALLING nun auch noch zwei deutsche Genreproduktionen auf dem 31. FANTASY FILMFEST. Da kann man fast schon wieder die alten Weltherrschaftspläne herauskramen. Wer das alles nicht glauben will, kann sich ja auf dem FANTASY FILMFEST eines Besseren belehren lassen, denn mit SCHNEEFLÖCKCHEN von Regisseur Adolfo Kolmerer und Drehbuchautor Arend Remmers läuft dort einer der abgedrehtesten Mindfuckfilme der letzten Dekaden.

 

 

Gangster, Auftragskiller, Hinterwäldler, Engel – Willkommen bei SCHNEEFLÖCKCHEN

Das Berlin der nahen Zukunft ist nach dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch ein Schmelztiegel der Anarchie. Mittendrin: die beiden Kleinganoven Tan (Erkan Acar) und Javid (Reza Brojerdi) auf ihrem persönlichen Rachefeldzug gegen einen faschistoiden Polizeipräsidenten und Mörder.

 

 

Dabei gehen sie selbst über einen Berg von Leichen, was wiederum die Studentin Eliana auf den Plan ruft, deren Eltern Tan und Javid zufällig über den Haufen geschossen haben. Auf ihrer Odyssee durch die Hauptstadt finden Tan und Javid plötzlich ein Drehbuch, welches von ihnen selbst handelt. Es erzählt Wort für Wort das, was die beiden Gangster getrieben haben und scheinbar noch vorhaben. Wer zum Kuckuck hat dieses Script namens SCHNEEFLÖCKCHEN geschrieben? Ein Blick auf´s Cover verrät, jener Drehbuchprophet heißt Arend Remmers, Hauptberuf Zahnarzt.

 

 

Alexander Schubert als drehbuchschreibender Dentaldramaturg Arend Remmers

Das Beste an SCHNEEFLÖCKCHEN, selbst das ist schon zu viel Info über die durchgeknallte Handlung der clever verschachtelten Gaunergroteske, irgendwo zwischen THE BOONDOCK SAINTS, BEING JOHN MALKOVICH, PREACHER und STRANGER THAN FICTION. SCHNEEFLÖCKCHEN funktioniert am besten, wenn man so wenig wie möglich über den irren Plot weiß.

 

Wähnt man sich am Anfang noch in einer schnittigen PULP FICTION Parodie, in der es um Döner mit Dünnpfiffsoße statt um Big Kahuna Burger geht, wird man spätestens ab Minute Acht in ein völlig abgefahrenes High Concept geschleudert, welches nur mittels drei Wörtern zu beschreiben ist: “What The Fuck?”

 

 

Dabei ist eine Geschichte innerhalb einer Geschichte, ein Film im Film oder in dem Fall ein Drehbuch im Film als dramaturgisches Gerüst nicht unbedingt neu, das gab es bereits in DIE UNENDLICHE GESCHICHTE. Auch in STRANGER THAN FICTION gerät das Leben eines Mannes außer Kontrolle, der feststellt, eine Romanfigur zu sein. Doch SCHNEEFLÖCKCHEN macht aus der Ausgangslage Nägel mit Köpfen und spielt das Konzept nach allen Regeln der Kunst aus. Denn einfach das Ende lesen und alles ist gut, so einfach macht es Drehbuchautor Arend Remmers den Figuren und dem Zuschauer nicht.

 

 

Emilia Clarke…äh nein, Xenia Assenza als smarte Killerin Eliana

Das Drehbuch von Arend Remmers ist der eigentliche Star der Geschichte und des Films selbst, es ist MacGuffin, Rosebud, Tschechows Knarre und Deus Ex Machina in Personalunion. Wie das Drehbuch die Wege der Figuren auf ihrer Odyssee beeinflusst, ist ausgefuchst und unvorhersehbar.

 

Hier wird kein fauler Kompromiss eingegangen, alles passt, ist abgefahren, doch schlüssig und vor allem, es ist verdammt witzig und clever. Der echte Autor Arend Remmers versteht es vorzüglich, auch mit vermeintlichen Drehbuchklischees ironisch umzugehen und nicht nur eitle Selbstdarstellung zu betreiben. Allein die Ausführung des Rekursionseffektes, also wenn die Figuren durch das Vorlesen des Drehbuches in eine rückkoppelnde Zeitschleife geraten, ist ein dramaturgischer Geniestreich.

 

 

Auch wenn das Drehbuch der Star des Films ist, die Regie steht der genrefesten Cleverness in nichts nach. SCHNEEFLÖCKCHEN als Genremix zu bezeichnen, ist fast noch untertrieben. Wo andere Regisseure aber nur zitieren, spielt Adolfo Kolmerer das volle Programm aus: urige Gangstergebärden, rauer Backwoodslasher Charme, kantiges Superheldenkino, biblische Epik, das sind nicht nur Versatzstücke, sondern fügen sich organisch zu einer illustren Einheit zusammen. In der Summe sind das mehr als nur Gags oder Zitate, alles ist mit dem obskuren Drehbuch in der Geschichte verzahnt.

 

 

Cool wie kein Zweiter: David Gant als Caleb

Auch darstellerisch gibt es nix zu meckern, die Hauptfiguren Tan und Javid werden von Erkan Acar und Reza Brojerdi derart sympathisch gespielt, dass man sie einfach ins Herz schließen muss. Daneben agieren Xenia Assenza als smarte Killerbeauftragte Eliana, Gedeon Burkhard als Hitler 2.0, Alexander Schubert als Dentaldramaturg Remmers, Mathis Landwehr (IMMIGRATION GAME) als Hyper Electro Man, Judith Hoersch als Schneeflöckchen sowie Sven Martinek und Genrehaudegen David Gant als Caleb.

 

 

Attack of the Hyper Electro Man (Mathis Landwehr)

Gibt’s denn gar nix zu meckern an SCHNEEFLÖCKCHEN? Die überaus witzige Kapiteleinteilung wird gegen Ende leider völlig fallengelassen, was nicht tragisch, aber etwas schade ist. Auch wird nicht wirklich ersichtlich, warum manche Szenen in englischer Sprache gedreht wurden. Zudem hätte es die Midcredit Szene nicht wirklich gebraucht.

 

Doch das sind Marginalien gegenüber der Ideenflut, der cleveren Story mit irren Wendungen im Minutentakt und der sagenhaften Kurzweiligkeit des immerhin 120 Minuten langen Films. Was SCHNEEFLÖCKCHEN an Drive, Pacing, Gagdichte und What-The-Fuck Momenten in zwei Stunden ausspielt, davon können sich andere (auch internationale) Genreproduktionen ein paar dicke Scheiben vom Dönerspieß abschneiden.

 

 

 

 

Warum eine vorgezogene Review zu einem FANTASY FILMFEST Beitrag, wenn doch Ende September die große Abrechnung im Quick`n`Dirty kommt? Weil es dann zu spät ist, auf SCHNEEFLÖCKCHEN hinzuweisen, der bislang noch keinen offiziellen Kinostart hat. Denn jeder genreaffine Filmfreak muss diese wilde Farce auf der Leinwand gesehen haben. Hier stimmt wirklich fast alles und das will was heißen in Sachen deutsches Genrekino. Wer also eins der Highlights des Filmjahres 2017 nicht verpassen will, zwischen dem 06. September und dem 01. Oktober hat man in sieben deutschen Städten die Möglichkeit, SCHNEEFLÖCKCHEN während des FANTASY FILMFESTES erleben zu können.

 

Hoffentlich danach auch im regulären Kinoprogramm.

 

FANTASY FILMFEST, Capelight Pictures

 

  • Cleveres Mindfuck High Concept
  • toller Cast
  • rasant & unvorhersehbar
  • Alexander Schubert als Arend Remmers
  • Hyper Electro Man
  • Rekursionseffekt
  • witzige Kapiteleinteilung…
  • …die am Ende leider fallengelassen wird
  • Midcredit Szene hätte es nicht gebraucht

 

 

FAZIT:

“Geil!” Mehr als nur eine wilde Hatz durch die Genrefilmgeschichte. Eine der cleversten Buch-im-Film Variationen mit reichlich Mindfuck und einem überaus sympathischen Ensemble.

 

SCHNEEFLÖCKCHEN, D 2017, Regie: Adolfo J. Kolmerer, Drehbuch: Arend Remmers
Für Fans von THE BOONDOCK SAINTS, PREACHER & STRANGER THAN FICTION

 

5 Comments

  1. Antworten

    […] SCHNEEFLÖCKCHEN haben wir bereits gebührend abgefeiert. Selten erlebt man ein so ungezügeltes und frisches deutsches Genresahnestück, deshalb muss SCHNEEFLÖCKCHEN im Quick`n´Dirty nochmal Erwähnung finden. Das komplette Review zum FANTASY FILMFEST Highlight findet ihr hier. […]

  2. Antworten
    31. Fantasy Filmfest 25. Oktober 2017

    […] Auch deutsches Genrekino ist mal wieder auf dem FANTASY FILMFEST vertreten, allen voran SCHNEEFLÖCKCHEN von Adolfo J. Kolmerer nach einen wahnwitzigen Drehbuch von Arend Remmers. In einem Berlin der Zukunft finden zwei Gangster eben jenes Drehbuch, in dem genau das steht, was beide sagen und erleben. Doch damit fängt der irrwitzige Genrespaß erst an. EXKLUSIV HIER bereits die (P)review zu SCHNEEFLÖCKCHEN! […]

  3. Antworten

    […] auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest heißt LUZ von Tilman Singer. Nachdem im letzten Jahr SCHNEEFLÖCKCHEN von Adolfo Kolmerer und Autor Arend Remmers ein Mindfuckfeuerwerk vor dem Herrn abgefackelt hat, […]

  4. Antworten

    […] kleine Welle an Heimkinoauswertungen erfolgreicher Festivalfilme, allen voran die Genresensation SCHNEEFLÖCKCHEN vom Vorjahr, die auch ein Special Screening der GENRENALE spendiert bekam. Nach dem Startschuss auf […]

  5. Antworten

    […] Genrefilm wirklich tot sein. Das war er aber gar nicht. Zwar gab es in diesem Jahr kein zweites SCHNEEFLÖCKCHEN, dafür aber einen erstklassigen Thriller über ein Stück deutsche Geschichte, spannend, […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de