Martyrs, Martyrs

Horrorfilme sind wie gute Weine, dunkelrot, trocken und wohlig im Abgang. Und wie beim Wein gibt es gute und weniger gute Jahrgänge. 2008 ist ein solcher besonderer Jahrgang für den Horrorfilm. Als Indikator dafür dient manchmal das FANTASY FILMFEST, auf dem in eben diesem Jahr 2008 moderne Klassiker wie EDEN LAKE, INSIDE, FRONTIER(S), REC, THE STRANGERS oder SO FINSTER DIE NACHT aufgeführt wurden. Und obwohl ich selbst gar nicht auf den NIGHTS oder dem FANTASY FILMFEST 2008 war, drang eine Kunde auch an mein Ohr. Es erinnerte mich an die gute alte Zeit, in der man noch ahnungslos von so mancher Horrorperle erfuhr, die man unbedingt gesehen haben musste. Ein Raunen ging durch die Foren, da gibt es einen Film, der alles Vorstellbare sprengt, der so extrem und kontrovers war, dass man sich vor ihm fürchten müsse – MARTYRS von Pascal Laugier.

 

 

 

 

 

Knapp sieben Monate später, am 1. April 2009, erschien MARTYRS in Deutschland ungeschnitten mit SPIO/JK-Freigabe. Diese sieben Monate waren eine Achterbahnfahrt der Erwartungen, selten habe ich einen Film so herbeigesehnt wie MARTYRS. Für gewöhnlich enden solche großen Erwartungen in einer Enttäuschung. Aber MARTYRS war anders. Zum einen überstand ich diese Zeit relativ spoilerfrei. Was ich indes las war, dass MARTYRS polarisierte, auf extreme Weise. Für die einen war der französische Terrorfilm der Heiland unter den Horrorschockern, für andere kranke Gewaltpornografie. Gerüchte schwirrten im Raum, dass Gäste in Scharen geschockt das Kino verließen, bevor der Film vorüber war.

 

Dabei ging es nicht nur um Grenzen des Zeigbaren, auch dramaturgisch wurde MARTYRS zu gleichen Teilen bejubelt wie zerrissen. Und das nicht einmal zu Unrecht, denn MARTYRS brach in der Tat mit allerlei Genrekonventionen, er ließ sich noch nicht einmal wirklich einem Subgenre zuordnen. MARTYRS war Torture Porn, Revenge, Creaturehorror, Drama und Science-Fiction gleichermaßen und manipulierte den Zuschauer durch nicht festgelegte Hauptfiguren, abrupte Wendungen und Brüche mit Genreerwartungen.

 

 

Weiterlesen auf eigene Gefahr

 

Schon lange wollte ich mal über MARTYRS schreiben, nun endlich bietet sich eine günstige Gelegenheit. Denn knapp acht Jahre nach MARTYRS erschien nun Ende Januar das US-Remake auf Blu-ray und VOD. Wie immer kreischt und schreit es von den Dächern, Remake, Blasphemie, scheiß Hollywood und so weiter. Wir aber schauen genauer hin. Die Besprechung zu MARTYRS 2015 wird ein dramaturgischer Vergleich mit dem französischen Original, welcher gleichsam aufzeigt, wie Genreregeln funktionieren und wie weit man sie biegen kann, bevor das Gesamtgerüst einzustürzen droht.

 

Für eine derartige Analyse ist es natürlich unabdingbar, wichtige Plotpoints und Wendungen zu benennen, somit vorab schon mal eine Spoilerwarnung! Wer MARTYRS, egal ob Original oder Remake, noch nicht gesehen hat, auf keinen Fall weiterlesen und sofort den Film anschauen!

 

 

 

 

Vorweg, das US-Remake von MARTYRS aus der Feder von Mark L. Smith (VACANCY, THE HOLE, Co-Autor von THE REVENANT), inszeniert von Kevin und Michael Goetz (SCENIC ROUTE), ist keine Eins-zu-Eins-Neuverfilmung. Ab einem gewissen Zeitpunkt erzählt der Film eine deutliche abgewandelte Geschichte. Das ist deshalb so interessant, weil es genau die Punkte betrifft, die das Original so streitbar machen. Doch von Anfang an.

 

Beide Filme beginnen mit Ereignissen in der Vergangenheit. Ein junges Mädchen namens Lucie flieht aus einem Industriekomplex, in dem sie gefangen gehalten und gefoltert wurde. Lucie landet in einem katholischen Waisenhaus, wird von Polizisten befragt, doch es gibt keine Beweise oder Spuren ihrer Misshandlung. Lucie selbst ist stark traumatisiert, sieht sich einem Monster ausgeliefert, welches sie jagt und ihr schwerwiegende Verletzungen zufügt. Doch Lucie lernt im Waisenhaus auch die gleichaltrige Anna kennen. Beide Mädchen freunden sich an und Anna wird für Lucie die einzige Person, der sie sich anvertraut. Niemand weiß, was wirklich in dem alten Fabrikgelände vorgefallen ist. Doch jede Nacht wird Lucie von dem furchterregenden Monster heimgesucht.

 

Wie im Original beginnt MARTYRS (2015) direkt und ohne Erklärungen mit der Flucht Lucies aus ihrer Gefangenschaft. Das fesselt in beiden Fällen, egal ob man das Original nun kennt oder nicht. Die wenigen Minuten der Installation von Ereignissen und Figuren reichen, um eine höchst beklemmende Ausgangslage zu schaffen. In beiden Fällen sind die Jungdarstellerinnen von Lucie und Anna treffend besetzt und inszeniert worden, eine Bindung an die Figuren funktioniert in beiden Filmen.

 

Original links, Remake rechts: In beiden Fällen ist die Eröffnung des Martyriums spannend inszeniert und mit tollen Jungdarstellern besetzt.

MARTYRS aus dem Jahr 2008 weiß aber bereits in der Inszenierung der Vorgeschichte zu verwirren, setzt den Titel spät und lang nach den Vorspanncredits als Zäsur zum Geschehenen und wirkt somit wie ein Weckruf. Das Remake hingegen verzichtet auf solche Spielereien und setzt mehr auf eine Elegie der Bilder durch lange Schwarzblenden und bedrückender Musikuntermalung. Inszenatorisch hinterlässt das Monster, welches Lucie in MARTYRS 2008 sieht, natürlich einen größeren Eindruck. Aber auch jene Szenen im Remake, in denen sich Lucie unter der Bettdecke versteckt, weil im Zimmer etwas lauert, wissen durchaus zu verstören.

 

 

Lucie & Anna

 

Beide Filme springen nach der Einführung von Lucie und Anna sowohl um einige Jahre in die Zukunft als auch in eine andere Location. Ein abgelegenes Einfamilienhaus, ein Vater, eine Mutter sowie Sohn und Tochter am Frühstückstisch. Generell führt diese Szenerie in beiden Filmen zum gleichen Ergebnis, das Original aus dem Jahr 2008 lässt sich in dieser Entwicklung aber wesentlich mehr Zeit. Von dramaturgischen Standpunkt her gesehen, wem gelingt das besser?

 

Keine leicht zu beantwortende Frage. In MARTYRS von 2008 gibt es innerhalb dieser Szene eine leicht ausufernde Diskussion um banale Dinge wie Studium und Wochenendausflüge. Diese Diskussion befindet sich im Original hart an der Grenze der Redseligkeit, müsste man sie nur anhand eines Drehbuches bewerten, könnte man auch sagen, das sei zu viel des Guten, weil der örtliche und zeitliche Wechsel der Szenerie ohnehin schon verwirrt. In MARTYRS (2008) ist das aber sehr gewollt, denn es gibt dem, was folgt, einen größeren Impact. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Dampfplauderns klingelt es an der Tür und die erwachsene Lucie (im Original gespielt von Mylène Jampanoï) steht mit einer Schrotflinte im Türrahmen. Ohne Vorwarnung erschießt sie den Vater, Mutter und beide Kinder.

 

MARTYRS 2008: Mylène Jampanoï spielt Lucie über die Maßen physisch und geschunden, ihr innerer wie äußerer Leidensweg ist realistisch und erschreckend inszeniert.

Im Remake hingegen wirkt diese Sequenz straffer. Es vergeht nicht einmal eine Filmminute zwischen der Einführung der Bilderbuchfamilie und ihrer Exekution durch Lucie (gespielt von Troian Bellisario). Streng genommen wirkt das im Remake dichter, erreicht aber nicht die Schockwirkung des Originals. Denn diese ist ein Resultat aus dem Spiel der Erwartungen, welches Pascal Laugier immer wieder mit dem Zuschauer spielt. Kind flieht aus Folterhölle, Kind sieht Monster, dann befinden wir uns in einer liebreizenden Familie wieder, ohne einen Zusammenhang herstellen zu können, was wiederum in einem schockierenden Blutbad endet.

 

MARTYRS 2015: Auch wenn Troian Bellisario als Lucie von allen Darstellern noch die beste Figur macht, ist ihr Martyrium nicht annähernd so intensiv wie im Original.

Das Verkürzen dieser Szene im Remake führt dazu, dass der Schock über Lucies Tat nicht so hart und unvermittelt trifft wie im Original. Schlecht inszeniert ist das deswegen nicht, eher konservativ, ohne die Verwirrspielchen von Laugier. MARTYRS 2015 ist in dieser Hinsicht schnörkelloser und geradliniger, was das Remake in den ersten Szenen zwar dichter, aber eben auch berechenbarer macht.

 

 

Nachdem Lucie die Familie hingerichtet hat, ruft sie Anna an und bittet sie unter Tränen, zu ihr zu kommen. Lucy sagt, sie hätte sie gefunden, nach all den Jahren und sie hätte es getan. In beiden Filmen tritt nun die erwachsene Anna ins Geschehen. Im Original wird Anna von Morjana Alaoui gespielt, im Remake von Bailey Noble (TRUE BLOOD).

 

MARTYRS 2015: Die Beziehung zwischen Lucie und Anna (Bailey Noble, rechts) krankt an fehlender Figurenmotivation.

Sowohl Lucie als auch Anna sind im Original besser besetzt als auch charakterisiert. Während Lucie im Remake noch recht gut funktioniert, verblasst Anna sowohl in ihrer Ausstrahlung als auch in ihrer Motivation. Dazu muss man auch sagen, dass sich das Original an der Figur Anna deutlicher festlegt. Es gibt dezente Hinweise und eine konkrete Szene, in der man verstehen kann, warum Anna Lucie beisteht, auch wenn sie gerade vier Menschen kaltblütig erschossen hat. Denn Anna ist in Lucie verliebt. Das Remake spart diese Motivation aus. Doch die Offenbarung Annas und Lucies Zurückweisung im Original sind hier für die Figuren einfach treffender, wenn auch Anna im Remake eine deutlich untergeordnete Rolle einnimmt.

 

MARTYRS 2008: Für die Motivation von Anna (Morjana Alaoui, rechts), Lucie zu helfen, bedarf es nur einer winzigen, aber wichtigen Szene.

Unmittelbar nach den Szenen, in denen Lucie wieder von dem Monster angegriffen wird, welches sie seit ihrer Entführung verfolgt, ändern sich Story und Figuren im Vergleich zum Original erheblich. Lucie offenbart Anna, dass es sich bei der Familie um jene Menschen handelt, die sie als Kind entführt und misshandelt haben. Doch nach deren Tod ist Lucies Trauma noch immer präsent, noch immer verfolgt sie das Monster und fügt ihr schwere Verletzungen zu. Auch im Original weiß man spätestens nach der Szene, in der Lucie von dem Monster malträtiert wird, dass es sich nur um eine Einbildung handelt. Im Original erliegt Lucie ihren Verletzungen und stirbt in dem Haus. Im Remake hingegen überlebt sie nicht nur, sie wird zur Hauptfigur der Geschichte.

 

Was Pascal Laugier in jener Szene um Lucies Tod in MARTYRS 2008 inszeniert hat, ist streng genommen ein dramaturgisches Wagnis. Denn in MARTYRS 2008 ist Lucie anfangs die Hauptfigur, Laugier lüftet zuerst ihr Trauma und lässt sie dann sterben. Bereits das Trauma um das Monster ist eine geschickte Finte von Laugier gewesen, Lucies Tod hingegen bringt den Film dann plötzlich zu einem unerwarteten Stillstand. Wenn ich ein Drehbuch lese, in dem nach der Hälfte der Geschichte die Hauptfigur verstirbt, ist in jedem Fall Skepsis angesagt. Als ich MARTYRS 2008 das erste mal sah, war auch ich verwirrt. Wie sollte es nun weitergehen?

 

 

“Es ist ja so einfach, ein Opfer zu erschaffen!”

 

Im Original schafft es Laugier, Anna zur neuen Hauptfigur zu machen. Im Remake hingegen bleibt es Lucie und Anna wird zu einer unbedeutenden Nebenfigur. Wenn auch MARTYRS 2015 durch diese Veränderung per se erstmal fesselt, weil man nun eine ganz andere Geschichte erzählt, für Figurenbindung und Motivation ist diese Entscheidung eher von nachteiligem Charakter.

 

Im Original erfährt Anna erst nach Lucies Tod, dass es sich bei der Bilderbuchfamilie tatsächlich um unmenschliche Peiniger handelt. Denn im Keller des Hauses befindet sich eine Art Folterstudio, modern und steril ausgestattet. Im Original trifft Anna hier auf ein weiteres Opfer, befreit sie von ihren Fesseln, doch auch dieses Opfer hat ein Trauma, glaubt, von Maden und Insekten übersät zu sein und will sich davon mit einem Messer befreien.

 

Das Remake hingegen verzichtet komplett auf die alptraumhafte Szenerie und gibt hier eindeutig dem Thrill Vorrang, in dem es ein Fluchtszenario schildert, in dem Anna, Lucie und das dritte Opfer im Keller zu entkommen versuchen. Denn mittlerweile haben sich diverse Leute im Haus der Opfer eingefunden. Möglicherweise handelt es sich bei den Männern und Frauen um eine Art Sekte, welche noch immer Menschen demütigen, foltern und brechen wollen. Aber aus welchem Grund?

 

Original links, Remake rechts: In MARTYRS 2008 fasst die Madmoiselle die Beweggründe der Folterer in klare Worte innerhalb einer einzigen Szene. Im Remake hingegen rechtfertigt sich ihr Pendant pausenlos.

Der Grund ist in beiden Filmen der Gleiche. Bei den Verantwortlichen handelt es sich um eine Art Geheimbund, die sich der Forschung über das Jenseits hingeben. Eine ältere Dame erklärt in beiden Filmen den Typus des Märtyrers, einen ganz besonderen Menschen, der unvorstellbaren Schmerz und Leid erträgt und darüber hinaus wächst. Es gibt Opfer und es gibt Märtyrer. Sperrt man einen Menschen ein und quält ihn systematisch, wird er sich verändern. Die meisten halten diese Pein nicht aus und entwickeln ein Trauma, wie es Lucie getan hat. Nur wenige Menschen ertragen die Qual und erdulden den Schmerz, sie transzendieren und werden zu etwas völlig anderem.

 

In dieser Phase treten sie in eine Art Wachkoma ein und können die andere Seite sehen, ein Indiz dafür sind unnatürlich strahlende Augen. In diesem Zustand ist es Märtyrern möglich, zu sehen, was nach dem Tod mit uns passiert. In über siebzig Jahren “Forschung” gab es im Original nur vier Fälle einer solchen Transzendenz, doch berichten konnte bislang noch keiner von der anderen Seite.

 

Das Ziel dieser Gruppierung ist also, einem Menschen so viel Leid und Schmerz zuzufügen, bis dieser in jenen transzendenten Zustand gerät und das Geheimnis über ein Leben nach dem Tod lüftet. Nach dem Tod von Lucie in MARTYRS 2008 wird Anna das Versuchsobjekt der Forschergruppe. Im Remake hingegen bleibt es Lucie, Anna wird lebendig in ein Massengrab geworfen, doch gelingt ihr die Flucht. Nun will Anna im Remake Lucie aus den Händen jener Sekte befreien, mit Hilfe von Lucies Schrotgewehr. Ab diesem Punkt der Neuerzählung zerfällt dann das gesamte Gerüst des Remakes, denn die Motivationen und Handlungen aller Beteiligten nimmt reichlich fragwürdige Züge an.

 

MARTYRS 2008: Anna wird aus reiner Pragmatik zu einem neuen Testobjekt.

Das betrifft zum einen Lucie, wenn auch nur indirekt. Für die Gruppe ist Lucie im Remake ein Hoffnungsträger, ein Testobjekt, welches den Übertritt schaffen kann. Warum die Gruppe das in Lucie sieht, bleibt unklar. Rein faktisch gibt es dafür keinen Grund, denn auch Lucie entwickelte nach ihrer Misshandlung als Kind ein Trauma und ist eindeutig ein unbedeutendes Opfer als ein Märtyrerkandidat. Auch sind inzwischen viele Jahre vergangen, die Gruppe hat sich schon längst anderen Kandidaten zugewandt, es gibt kein offensichtliches Zeichen, dass Lucie etwas besonderes ist.

 

MARTYRS 2015: Für Anna im Remake hingegen bedarf es keiner Folterszene, denn die Gruppe zieht sie als Testobjekt gar nicht in Erwägung. Demzufolge ist ihre Folterung pure, unmotivierte Effekthascherei.

Im Original wurde Lucie als Opfer beschrieben, ihr Geist ist nicht stark genug, den Schmerz zu ertragen, er bricht, entwickelt Abwehrmechanismen, lässt ein Monster entstehen. Im Remake hingegen wird uns Lucie als etwas besonderes beschrieben, doch ohne dafür Begründungen zu liefern. Hinzu kommt die Unglaubwürdigkeit, nach so vielen Jahren wieder mit der “Behandlung” anzusetzen und auch gleich das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

 

 

 

Rachegirl statt Märtyrerin

 

In MARTYRS aus dem Jahr 2008 ist das gänzlich anders. Die Gruppe forscht seit Jahrzehnten, aber ihr Ziel scheint unerreichbar. Genau das ist der Grund, es immer wieder versuchen zu müssen, weil man einfach nicht weiß, wer in einen solchen transzendenten Zustand geraten kann. Dieser Umstand bestimmt die Motivation der Gruppe. Die Fixierung auf Lucie im Remake verwässert diese Motivation, zum anderen wirkt es dort berechnend und demzufolge unglaubwürdig, nach dem Motto: “Wir müssen es nur noch zu Ende bringen mit Lucie, dann ist unser Ziel erreicht.” Aber gerade, weil im Original dieser Zustand extrem selten und unberechenbar ist, schürt das Wut und Abscheu gegenüber der Gruppierung, bringt sie weg von purem Sadismus hin zu einer unfassbaren Studie, deren Ergebnis die Taten zu relativieren scheint. Doch dazu gleich mehr.

 

In MARTYRS (2008) nimmt Anna Lucies Platz ein. Sie wird systematisch gefoltert, ist aber genauso wenig ein Favorit wie es Lucie war. Doch dann geschieht das unglaubliche. Anna verändert sich, sie erduldet den Schmerz, sie erträgt es, nimmt das Leid in sich auf und beginnt, sich zu verwandeln.

 

Original links, Remake rechts: Annas letzte Stufe ihres Martyriums ist eine Hommage an HELLRAISER, im Remake hingegen wird auf unpassende christliche Symbolik gesetzt.

Es gelingt Laugier, das auch nachvollziehbar zu erzählen, denn auch die Pein, die Anna angetan wird, erstreckt sich nur über einen kurzen erzählerischen Zeitraum. Aber Anna wurde von Anfang an so angelegt, dass man ihr den Wandel abkauft. Anna ist in MARTYRS 2008 in jedem Fall der Typ, der ertragen kann. Anna ist selbstaufopfernd, Anna ist selbstlos, die Verwandlung in einen Märtyrer wird glaubhaft erzählt. Das funktioniert im Remake gar nicht, nicht nur, weil es auf die Figur Lucie übertragen wurde. Was bleibt von Anna im Remake? Nicht wirklich viel. Sie wird zwar genretypisch zum Rachegirl, die sich der Peiniger entledigt, nur fehlt dafür jegliche Motivation. Anna ballert sich im Remake genüsslich mit der Schrotflinte durchs Finale, aber es zeigt keinerlei befriedigende Wirkung innerhalb des Genrekontextes. Denn es gibt für Anna keine Gründe für eine derartige Rache.

 

Anna wird im Remake als Abfall entsorgt, kommt zurück und will Lucie retten, die derweil gekreuzigt wurde und kurz vor der Transzendenz steht. Anna räumt innerhalb der Gruppierung auf, erschießt alle Beteiligten, kann Lucie aber auch nicht retten. Im Grunde ist das Ende des Remakes eher ein typischer Rape and Revenge Plot, nur fehlt ihm dafür die Motivation der Tat, die einem mit dem Opfer in ihrer Rache mitfühlen lässt. Das gelingt MARTYRS 2015 nicht, weil es dramaturgisch nicht gelingen kann.

 

Damit entfernt sich MARTYRS 2015 zu weit vom Original, was dem Film letztendlich das Genick bricht. Im Original tritt Anna am Ende ihres Martyriums tatsächlich in einen transzendenten Bewusstseinszustand ein, erfährt von der Existenz der anderen Seite, doch diese Erkenntnis führt dazu, dass sich die Leiterin der Gruppe selbst umbringt. Das Ende des Originals ist sehr offen gestaltet, man kann nicht genau sagen, was passiert und aus welcher Erkenntnis heraus die Figuren am Ende tun, was sie tun. Auch wenn sich viele an diesem unkonkreten, verstörenden Ende reiben, es ist der Grund dafür, dass es so lange nachklingt. Das Remake erreicht dieses Gefühl in keinster Weise.

 

Original links, Remake rechts: Annas Transzendenz wurde im Original eher abstrakt und surreal inszeniert, im Remake hingegen wirkt dieser Zustand grenzwertig albern.

Im Gegenteil, es gerät am Ende zur Farce. Wenn man ganz objektiv an MARTYRS 2015 herangeht und ihn nicht von Anfang an als unnötiges Remake verschreit, muss man feststellen, dass trotz kleiner Änderungen die erste Filmhälfte durchaus spannend geraten ist, die Figuren zwar nicht so viel Ausstrahlung und Geheimnis besitzen, man ihnen aber dennoch gespannt folgt.

 

Möglicherweise kann man auch den Mut anerkennen, ab der zweiten Hälfte eine andere Geschichte aus anderen Perspektiven zu erzählen.

 

Aber mit der gleichen Objektivität muss man dann auch feststellen, dass es sowohl für die Hintergrundgeschichte als auch für die Figuren Anna und Lucie so einfach nicht funktioniert. Am Ende lehnt sich Anna an die zwar gerettete, aber im Sterben liegende Lucie, deren Augen weit aufgerissen sind, ihr Geist befindet sich möglicherweise auf der anderen Seite. In diesem Moment verändern sich auch Annas Augen, völlig grundlos, ohne Folter, ohne Konzept, nur eines müden Effektes wegen. Auch Anna transzendiert, warum und wieso bleibt unbeantwortet. Waren die letzten zwanzig Minuten des Remakes eher unmotiviert und fahrig, ist das direkte Ende sogar albern und dämlich geraten.

 

 

Die Evolution des Terrors

 

Das verrückte dabei ist, theoretisch dürfte das Original auch nicht funktionieren. Es verweigert sich einer stringenten Dramaturgie, es lässt die Hauptfigur nach der Hälfte der Laufzeit sterben und es verdreht Sympathie, Wut und Moral in ein unangenehmes Dilemma. Doch irgendwie funktioniert es. Das Remake folgt brav dem dramaturgischen Regelwerk, es bleibt bei der eingeführten Hauptfigur, es führt einem nicht an der Nase herum und es endet konventionell. Die Schwächen des Remakes liegen nicht in der Inszenierung, die ist ziemlich straff und schnörkellos geraten, obgleich der Film in Sachen Härte und grafische Gewaltdarstellung beinahe handzahm ist. Natürlich war auch das Original nicht auf Splatter ausgelegt, aber es hatte eine Wirkung zwischen dem Gezeigtem und dem Nichtgezeigtem. Das Remake hingegen lässt die wichtigste Wirkung der Geschichte einfach außen vor.

 

Denn das, was MARTYRS aus dem Jahr 2008 so kontrovers und polarisierend gemacht hat, ist weniger die Folter und die Misshandlung an sich. Es ist etwas völlig anderes, was bislang kein Film erreicht hat. Es geht darum, ob man bereit ist, zuzugeben, dass man, wenn auch nur zu einem winzigen Teil, den Wunsch der Gruppe nachvollziehen kann. In MARTYRS wird einem eine Geschichte über menschenverachtende Misshandlungen erzählt und man entwickelt einen Groll gegen die Täter im Hintergrund. Man hat in sich einen moralischen Kompass, wo auch immer der geeicht wurde. Aber man ist sich sicher, dass es keine Rechtfertigung für die Taten der Gruppe geben kann. Doch dann erfährt man am Ende den Grund und dieser Grund lässt einen zweifeln. Man sieht unzählige Filme, in denen man eine klare Perspektive zum Opfer hat, die Taten geißelt und mit dem Opfer mitfühlt, sei es in Flucht oder Rache. Bei MARTYRS ist das anders. Man glaubt, nichts könne so ein Martyrium rechtfertigen und am Ende bemerkt man bei sich, dass der Grund für das alles vielleicht doch eine Rechtfertigung sein kann.

 

Man will es vielleicht nicht wahr haben. Aber ich bin erschrocken darüber, dass ich am Ende fühlte, für das Wissen um eine so große Sache, einen Beweis für die Existenz eines Lebens nach dem Tod oder des Jenseits, ja gut, möglicherweise käme das einer Rechtfertigung ziemlich nahe.

 

MARTYRS 2008: Der Film endet offen und vielseitig interpretierbar. Das Remake beschäftigt sich mit diesem moralischen Dilemma in keiner Szene.

MARTYRS 2008 polarisiert genau deswegen. Denn die einen lehnen diesen Gedankengang völlig ab, andere ziehen ihn in Erwägung. Wieder andere sind sich unsicher. MARTYRS macht das so erschreckend gut, weil man sich ob dieser ganzen Gedanken am Ende überhaupt erstmal wieder Gewahr werden muss, dass es sich nur um einen Film handelt.

 

Das ist meines Erachtens die größte Stärke des Originals, neben allen dramaturgischen Experimenten verwischt er die Grenzen zwischen Opfern und Tätern und deren Motivationen. Das Remake erreicht diese Tiefe nie, es spart diese unangenehmen Fragen zu Gunsten von Thrill und Revenge aus. MARTYRS 2015 ist zwar in der ersten Hälfte spannend und kurzweilig, vergaloppiert sich aber in der zweiten Hälfte aus Angst vor dramaturgischen Ausbrüchen und lässt moralische Fragen völlig außen vor. Möglicherweise traute man dem amerikanischen Publikum diesen Zwiespalt nicht zu.

 

Remakes bleiben ein Dilemma. Zwar rechne ich es dem Remake an, neue erzählerische Wege gehen zu wollen, dennoch passen in dieser Neufassung Figurenmotivation und Plot ab der Hälfte einfach nicht mehr zusammen. Obgleich viele Remakes als kreative Bankrotterklärung bezeichnen, im Fall von MARTYRS 2015 wäre mir eine direktere Neuverfilmung fast lieber gewesen. So bleibt alles beim Alten, das Original ist ein Muss, das Remake verzichtbar.

 

ANCHOR BAY (US) Import & VOD

 

  • straffer und schnörkelloser Anfang
  • gute Jungdarsteller
  • Anna wird zur Nebenfigur
  • fahrige Figurenmotivation
  • Übererklärung der Tat
  • endet in billigem Racheplot
  • kaum Härte und Schocks
  • kein moralisches Dilemma
  • albernes Ende

 

FAZIT:

MARTYRS, das Remake, versucht neue Wege in Sachen Story und Figuren zu gehen und scheitert in allen Belangen, nicht nur an der grandiosen Vorlage.

 

MARTYRS, USA 2015, Regie: The Goetz Brothers, Buch: Mark L. Smith
Für Fans von MARTYRS (2008), THE LAST HOUSE ON THE LEFT & DEADGIRL

 

3 Comments

  1. Antworten
    Steffen 5. Februar 2016

    Wenn ich mich nicht täusche, sind deine Bildunterschriften bei den rechts-links Gegenüberstellungen vertauscht ;)
    Ansonsten schöne Review. Wie gewohnt :)

  2. Antworten
    Christian Hempel 6. Februar 2016

    Den is korrekt! Vielen Dank! Hoffentlich kommt nicht noch ein Remake, sonst bringt mich das noch mehr durcheinander!

  3. Antworten

    […] MARTYRS aus dem Jahr 2008 dekonstruierte Regisseur Pascal Laugier recht clever die Mechanismen des […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de