Lass uns drüberreden
Script Development VIII: Voice Over
Es war einmal, vor vielen, vielen Jahren, in einem Land namens Posemuckel. So beginnen Märchen, Erzählungen am Lagerfeuer oder Gute-Nacht-Geschichten. Auch in der Bibel heißt es: “Es begab sich aber zu der Zeit…” Eine Geschichte braucht einen Erzähler, könnte man meinen, aber es stimmt nicht. Nicht die Geschichte braucht einen Erzähler, vielmehr der Leser. Es ist die warme, beruhigende Stimme einer Mutter, die ein Märchen am Bett ihres Kindes vorliest, während das Kind vom sanften Klang der Worte zuerst in eine Geschichte, später dann in den Schlaf getragen wird. Märchen werden nach wie vor vorgelesen, nacherzählt, umgedichtet, der Vorleser übernimmt eine Rolle, ist Mittler der Geschichte, der Begebenheit. Aber manche Eltern sind auch faul und setzen ihre Kinder einfach vor die Glotze oder eine Märchen-App. Immerhin leben wir nicht mehr in einer Zeit, in der Kinder im Wald zurückgelassen wurden, ganz allein, die Hosentaschen voller Brotkrumen.
Eine Geschichte bleibt eine Geschichte, egal in welchem Medium. Buch, Film, viele sehen darin eine Evolution, eine Weiterentwicklung. Früher gab es Bücher, heute Filme. Aber so ganz einfach ist das nicht. Sind Filme wirklich eine Evolution von Büchern? Sind sie nicht eher eine Evolution von Höhlenmalereien, Gemälden, von Bildern? Ein Film, das ist ein visuelles Medium, ein Buch hingegen ein Medium der Sprache. In beiden stecken Geschichten, die mit Hilfe von Werkzeugen geformt werden. Beim Film sind das vorrangig Bilder, im Buch sind es Wörter. Doch auch das gesprochene Wort hat beim Film eine wichtige Bedeutung. Es ist als Handwerkszeug der Dramaturgie und des Drehbuchschreibens nicht ausschließlich dem Dialog zugeordnet. Wenn im Film eine Stimme erklingt, die dem Zuschauer Informationen jedweder Art unterbreitet, dann nennt man das Voice Over. Ein Voice Over beim Film beschränkt sich allerdings nicht auf einführende Worte, begleitende Worte, abschließend formulierte Gedanken und Erkenntnisse á la “…und wenn sie nicht gestorben sind…” Gesprochene Worte, das sind vielseitige Instrumente der Visualisierung.
Die Stimme aus dem Off?
Warum kann man sich selten an gute Voice Over erinnern? “Schau mir in die Augen, Kleines!” oder “I´ll be back!”, dererlei Schlachtparolen der Dialogschreibkunst werden zu geflügelten Sätzen, die jedes Kind zuordnen kann. Naja, fast jedes. Fällt jemanden spontan ein kerniges Voice Over ein? Vielleicht vermittelt ein Voice Over nicht so direkt Informationen, wie es ein Dialog tut? Ja und nein. Zwar sind manche Formen von Voice Over hauptsächlich der Informationsweitergabe unterworfen, ein Voice Over wird jedoch nicht direkt mit einem Gesicht in Verbindung gebracht und somit auch anders vom Gehirn aufgenommen. Bevor man sich aber solche Fragen stellt, sollte man den Begriff Voice Over etwas detaillierter aufspalten. Denn vorrangig im Prozess des Drehbuchschreibens gibt es da immer wieder Missverständnisse und Fehlauslegungen.
Ein Voice Over ist eine Stimme, die über etwas gelegt wird. Das geschieht nicht nur im Spielfilm, sondern auch im dokumentarischen Bereich, im Fernsehjournalismus und im Hörfunk. Eine Stimme ohne visuellen Bezug, richtig, aber da gehen die Verwechslungen schon los. Nicht jede Stimme ohne visuellen Bezug ist auch gleichzeitig ein Voice Over. Ich selbst habe früher, als ich noch ein junger Spund war, die Begriffe Voice Over und Off-Text im Drehbuch verwechselt.
Was schreibt man denn nun hin, wenn die Geschichte beginnt und eine sanfte Männerstimme die Worte “Schauen Sie genau hin!” raunt? Natürlich Voice Over, oder abgekürzt (V.O.). Da man jene Stimme ohne visuellen Bezug wahrnimmt oder der visuelle Bezug etwas ganz anderes ist, kommt diese Stimme natürlich aus dem Off, also von Außerhalb des Bildes. Aber im Film gibt es viele Stellen, in der eine Stimme aus dem Off kommen kann, ohne gleich ein Voice Over zu sein. Eine Person sitzt am Küchentisch und schlürft Kaffee, aus dem Bad plärrt eine Frauenstimme, die ihren Haartrockner nicht finden kann. Brisante Situation. Die Kamera fokussiert die Person in der Küche, das Geschrei aus dem Bad kommt aus dem Off, also aus dem Nichtsichtbaren Teil des Szenerie. Das gleiche gilt für Telefonate ohne Splitscreen oder ein Gespräch von Tür zu Tür, in dem nicht umgeschnitten wird. Solche Beispiele sind Texte aus dem Off, die im Drehbuch auch als solche gekennzeichnet sind:
KATRIN (Off): “Wo ist der beschissene Föhn?!” – Soviel zu Unterscheidung von Voice Over und Off-Text.
Ein Voice Over kommt immer aus dem Off, darüber hinaus ist ein Voice Over strukturell sehr unterschiedlich. Es gibt verschiedene Arten, wie ein Voice Over gestaltet sein kann. Das schauen wir uns anhand von Beispielen mal genauer an.
Auktoriale Narration versus homodiegetischer Position versus Freeman
Die geläufigste Form eines Voice Overs ist die Erzählerstimme. Doch bereits da muss man unterscheiden, ob es sich bei jener Stimme um einen Erzähler handelt, der in die Geschichte involviert ist oder nicht. Eine Erzählerstimme kann eine Figur sein, die völlig außerhalb der Geschichte steht. Man möchte meinen, diese Gestaltungsweise sei die gängigste aller Voice-Over-Variationen, doch eine Erzählerstimme, die vollkommen autark von Story und Figuren spricht, ist relativ selten. Als erstmals in den 30er und 40er Jahren das Voice Over im Film Verwendung fand, vorrangig im Bereich Film Noir, war das noch ein häufig verwendetes Stilmittel. Neuere Beispiele sind PUSHING DAISIES, vor allem aber DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE von Jean-Pierre Jeunet:
Der Erzähler hat keine Beziehung zu den Figuren im Film, dennoch weiß sie alles. In diesem Fall spricht man von einer allwissenden Erzählperspektive, einem sogenannten auktorialem Erzähler. Die Aufgabe der Erzählerstimme in DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE ist aber nicht nur auf Informationsweitergabe abonniert. Zwar erfahren wir kurz und knapp, wann und wo die Geschichte beginnt, doch da ist noch mehr. Es ist auch die Art und Weise, wie der Erzähler jene Einführungen spricht, die viel über die Tonalität und das Gefühl der Geschichte verraten. Die Stimme ist sanft, märchenhaft, genau die die Gestaltung des Films selbst in allen Details und sie verfügt über eine gewisse Ironie. Einem auktorialem Erzähler kann man leicht folgen, sich auf die Geschichte einzulassen, ein Gefühl zuzulassen. In dieser Form erinnert das Voice Over ganz klar an die Struktur von Märchen, in der ein allwissender Erzähler ohne Bezug zu den Figuren die Geschichte begleitet. Das jedoch ist, wie gesagt, er selten.
Häufiger trifft man auf Fälle, in der die Erzählerstimme gleichzeitig eine der Figuren ist. Das muss nicht unbedingt die Hauptfigur sein, doch ist es das zum Großteil. “Mein Name ist Benjamin Button und ich bin unter ungewöhnlichen Umständen geboren…”, so beginnt DER SELTSAME FALL DES BENJAMIN BUTTON, das Voice Over stammt von der Hauptfigur Button selbst, der seine Geschichte dem Publikum erzählt. Eine solche Stimme erzählt nicht nur, sie kommentiert auch, sie fügt subjektive Ansichten des Protagonisten dem Erzählten hinzu. Filme, in denen ein Ich-Erzähler die Geschichte begleitet und kommentiert, auf die stößt man wesentlich häufiger. Neben Informationen und der Schilderung des unsichtbaren Innenlebens eines Protagonisten kann eine solche Stimme aber noch mehr Funktionen haben. Sie kann Teile der Geschichte vorwegnehmen, Gefahren andeuten, Verwirren, Lügen.
Das Voice Over ist ein Platz für verbalisierte Ironie, Sarkasmus, Zynismus, aber auch um einen Ausdruck für Hilflosigkeit, Planlosigkeit, Zweifel oder Ängste zu finden. Nicht zuletzt ist ein Voice Over aber auch eine sinnliche, klangvolle Bereicherung, die den Sog in eine Geschichte verstärken kann. In DIE VERURTEILTEN von 1994 ist ein Großteil der Atmosphäre und des Soges der Erzählerstimme von Ellis Boyd Redding (Morgan Freeman) zu verdanken, die eindringlicher nicht hätte sein können. Inzwischen gilt Morgan Freeman als einer der besten Voice-Over-Artisten, dessen Stimme häufig als Erzähler verwandt wird.
Sag ja zum Leben, sag ja zum Job, sag ja zur Karriere
Ist der Protagonist gleichzeitig der Erzähler der Geschichte, kann man das unter zweierlei Gesichtspunkten differenzieren. Das Erzählen einer Geschichte ist immer auch eine Frage der Erzählperspektive, auch hinsichtlich der zeitlichen Struktur. Die meisten Erzählerstimmen in Filmen, die gleichzeitig auch Protagonisten sind, erzählen retrospektiv. Das heißt, sie erinnern sich an das damalige Geschehen und transportieren damit nicht nur Informationen, sondern auch Randbemerkungen. Für die Dramaturgie und Spannungsentwicklung kann das direkte Auswirkungen haben. Sagt die Voice Over Stimme des Protagonisten etwa: “Als ich das Haus betrat, sah ich etwas, was ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte!”, so schürt das Erwartungen. Das kann man dramaturgisch clever auch benutzen, um den Zuschauer zu verwirren, in Sicherheit zu wiegen. Nur ist das retrospektiv schwierig, denn der Erzähler kennt ja bereits den Ausgang der Szene. Demzufolge ist ein anderer Gesichtspunkt von Erzählperspektive das gegenwärtige Kommentieren einer Szene durch ein Voice Over der Figur.
Beispiel: In der Serie BERLIN, BERLIN mit Felicitas Woll kommentiert die Figur Lolle das gegenwärtige Geschehen mit Voice Over Kommentaren. Deren Zweck ist eher der spontane Gag, der im Grunde ein unausgesprochener Dialog ist.
Als dramaturgisches Mittel, um eine Figur sowohl von Außen als auch von Innen zu beleuchten, kann so eine Art Voice Over szenisch ganz vortrefflich sein.
In ADAPTION von Spike Jonze, in dem sich eine Erzählebene auch mit dramaturgischen Fragen des Drehbuchschreibens beschäftigt, werden unterschiedliche Voice Over Arten angewandt. Zum einen Retrospektives Erzählen durch die Hauptfigur, der Nebenplot wird auch von Meryl Streeps Figur kommentiert, bis hin zu einer Voice-Over-Reaktion als unausgesprochene Gedanken. “Los, sag jetzt irgendwas, sitz nicht nur da, Charlie!” feuert sich Charlie Kaufman, gespielt von Nicolas Cage selbst an. Das Beispiel ADAPTION allerdings taugt nichts für gute dramaturgische Verwendung von Voice-Over, weil ADAPTION eigentlich gegen alle Gebrauchsgebote verstößt und dennoch fantastisch funktioniert. Doch später dazu mehr. Es gibt also Erzählerstimmen, Ich-Erzähler, die eine Geschichte erzählen, die sich vor einer gewissen Zeit zugetragen hat und Ich-Erzähler, die gegenwärtige Geschehnisse kommentieren können. Wie kann Voice Over noch eingesetzt werden?
Bleiben wir beim Fall eines Protagonisten, der auch der Erzähler der Geschichte ist. Nicht immer ist das so klar, ob man faktisch eine Geschichte über das Stilmittel Voice Over erzählt bekommt. Wir gehen von einem typischen Erzähler aus, der eine Geschichte mit “Es war einmal…” beginnt. Es gibt Voice Over, die keinen direkten Bezug zum Fortlauf der Geschichte haben, stärker auf das gegenwärtige Kommentieren bezogen sind, stärker reflektierend sind und andere Ansprüche an die Erzählung haben, eine starke Konzentration auf die Philosophie der Figur. Raul Duke, gespielt von Johnny Depp in dem Klassiker FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS, ist eine Figur, deren Kommentar eine Facette der Persönlichkeit der Figur ist. Im Falle von Terry Gilliams Adaption sogar noch mehr, es ist die Ebene der Sprache des Autors Hunter S. Thompson. Diese Auslegung geht wesentlich weiter als eine stimmliche Zugabe von Informationen und Reaktionen.
Wo andere Filme mit Voice Over Fragen auf einer Subebene beantworten, zu denen das Bild nicht in der Lage scheint, wirft das Voice Over in FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS noch mehr Fragen auf. Entscheidend für diese Wirkung ist nicht allein der Text, der Monolog, es ist die Klangfarbe der Worte, die eigene Bilder erschaffen, meist den Bilder sogar vorausgehen. Es ist Johnny Depps Stimme, die auf- und abgeht, etwas Geschriebenes wird zu etwas Akustischem wird zu etwas Visuellem.
In dieser Art werden Voice Over auch in dem Filmen TRAINSPOTTING benutzt. Der Anspruch liegt hier stärker im Lyrischen, weniger im Informellen oder Reflektierenden. Ähnlich, aber doch völlig anders ist die philosophische Art des Kommentars im Film FIGHT CLUB von David Fincher. Dort stellt das Voice Over keine zusätzlichen Fragen, es beantwortet Fragen, wohingegen das Bild lügt. Eigentlich werden zwei Geschichten in FIGHT CLUB erzählt, die visuelle und die des Voice Over, beide widersprechen sich, beide sind Puzzleteile zur Lösung. Wenn die Figur von Edward Norton sagt: “Ich bin Jacks vergeudetes Leben.”, dann ist das eine völlig andere Art der Verwendung von Voice Over, die nicht der direkten Informationszufuhr dient, nicht der direkten Befindlichkeit des Protagonisten, seiner Erinnerung oder die eines allwissenden Erzählers, es ist ein Puzzlestück der Geschichte selbst. Im Falle von FIGHT CLUB würde der Film ohne das Voice Over nicht funktionieren, zusammenbrechen, während hingegen bei anderen Anwendungen das Voice Over durchaus verzichtbar erscheint.
Pro V.O.
Andere Beispiele von Voice Over werden häufig ganz pragmatisch und ohne ganzheitliches dramaturgisches Konzept im Film benutzt. Das Vorlesen eines Briefes mit der Stimme des Verfassers oder auch vom Leser selbst, solange er seine Lippen nicht bewegt, ist ein klassisches Voice Over und muss im Drehbuch auch als solches gekennzeichnet sein. Ein Typ, der Stimmen in seinem Kopf hört oder die mahnenden Worte seiner Mutter, auch das wird über Voice Over gelöst. Ein tolles Erzählmittel ist die Tagebuchform, die einen Rahmen schafft, Ereignisse konzentriert, bündelt, weitergibt. Voice Over können von allen möglichen Figuren kommen, nur selten ergibt das Sinn, höchstens man benutzt es spontan im Slapstick-Komödienbereich. Es sei denn, man schafft eine Akzentuierung wie im Falle von STAR TREK. Spocks Worte “Der Weltall, unendliche Weiten…” sind ein stilistisches Voice Over, dem Intro zugehörig. Das kann man durchaus machen, doch ein durchgehendes Voice Over der Hauptfigur, egal in welcher Ausprägung, verlangt nach einer dramaturgischen Struktur.
So ist es einfach, das Pferd von hinten aufzuzäumen und anhand großartiger Voice Over der Filmgeschichte, von TAXI DRIVER über CLOCKWORK ORANGE bis zu GATTACCA, dramaturgische Funktionen abzulesen oder hineinzuinterpretieren. Andersherum hilft das einem kaum, für seine Geschichte ein funktionierendes Voice Over zu finden. Es gibt sogar regelrechte Kritik an diesem Hilfsmittel, oft mit dem Argument versehen, Film erzählt Geschichten durch Bilder. Das entspricht nicht der ganzen Wahrheit. Film erzählt sehr wohl Geschichten aus verschiedenen Sinneswahrnehmungen, Film ist ein audiovisuelles Medium, bestehend aus Bild, Ton, Musik und manchmal eben auch gesprochenem Wort. Für sich genommen ist das Voice Over ein fantastisches dramaturgisches Mittel, eine Wunderwaffe. Wenn man sich die verschiedenen Aspekte von Voice Over in den vorangegangenen Beispielen ansieht und alle Funktionen herauszieht, steht beim Voice Over objektiv sehr viel auf der Habenseite:
Ein Voice Over kann Handlungen, Orte, Zeiten, Geschehnisse und Hintergründe kompakt und schnell transportieren, es kann das Innenleben der Figuren ausdrücken, dort, wo keine Kamera hin kann. Voice Over kann verdichten, nichts anderes macht man sich bei Trailern zunutze, eine Trailerstimme verdichtet und liefert auf mehr oder weniger subtile Weise Informationen über den Film. Voice Over kann neue Ebenen in einen Film bringen, reflektieren, ironisieren, bezirzen, belügen, es kann einer Geschichte einen Rhythmus geben, einen Fluss, einen Bindfaden legen, Brotkrumen streuen. Voice Over an sich ist toll. Es ist aber leider auch wahr, dass Voice Over viel zu oft unnötig, falsch oder unfassbar schlecht eingesetzt wurde und wird.
Kontra V.O.
Einige der Argumente für Voice Over kann man nämlich auch durchaus hinterfragen. Natürlich ermöglicht einem ein Voice Over, das Innenleben des Protagonisten sichtbar zu machen. Dem gegenüber stehen aber unzählige Filme, die das auch allein durch Bilder, Handlungen oder nonverbalen Reaktionen auszudrücken vermögen. Es ist also nicht so, dass es außer der Verwendung von Voice Over keine Möglichkeit der Abbildung der Gedanken oder der Empfindungen gäbe. Im Gegenteil, ich persönlich würde mich immer als erstes fragen, wie ich etwas bildhaft ausdrücken kann, bevor ich mir Hilfsmittel suche.
Denn ein Voice Over kann oder sollte man nicht einfach so einsetzen an einer Stelle, wo es gerade nötig scheint. Voice Over gehört zur Erzählperspektive und diese sollte man nicht ständig wechseln oder an und ausschalten. Ob man ein Voice Over verwendet, gehört zu den ersten Überlegungen zur Struktur einer jeden Geschichte. Will man eine Geschichte mit dem dramaturgischen Hilfsmittel Voice Over erzählen, sollte man zu allererst versuchen, das strukturell und wohldosiert anzulegen. Man springt auch in einem Text nicht wild und wüst in den verschiedenen Zeitformen Präsens, Präteritum und Futur herum. Genauso wenig ist es nachvollziehbar, wenn eine Figur verschiedene zeitliche Perspektiven einnimmt. ADAPTION ist da eher eine Ausnahme.
Die größte Schwierigkeit bei der Verwendung von Voice Over liegt darin, zu bemessen, ob er wirklich benötigt wird. Als Hilfsmittel, eine Geschichte zu strukturieren, kann er wie ein Gerüst benutzt werden. Dann, nach dem Verschalen, Verputzten und Streichen muss das Gerüst aber weg. Naja, seltsamer Vergleich, aber ich würde durchaus hinterfragen, ob das Voice Over wirklich etwas liefert, was das Bild oder was auch immer nicht vermag.
Ich kenne Voice Over, die zeigen einen Mann, der auf der Couch sitzt, aufsteht und sich ein Bier holt, und darüber liegt ein Voice Over, welches murmelt: “Ich sitz den ganzen Tag auf der Couch, ich glaub, ich steh jetzt mal auf und hol mir ein Bier!” Mal als Beispiel. Auch Kommentare, die durchaus witzig gemeint sein können wie “Langweilig, man is das Langweilig!” bedarf es für diese Informationsweitergabe nicht. Andersherum verfängt man sich viel zu schnell in einer Überphilosophierung, einem wallenden Gelaber aus Zuckerwatte, bei dem wirklich jeder am Apparat einschlafen muss. Und wie oft ist das Voice Over nicht die innere Stimme der Figur, sondern die innere Stimme des Autors?
Voice Over können spoilern, dumme Zoten reißen und wegen einer unangenehmen Stimme nerven (dafür kann der Autor allerdings nichts, phu!). Und es gibt Genre, da passen Voice Over besser, in anderen schlechter. Eine Erzählerstimme, auch wenn sie nicht die Hauptfigur ist, in einem Ensemblefilm wie DER HERR DER RINGE – DIE GEFÄHRTEN, einem Fantasyepos, kann einen wunderbaren Sog entfalten. Auch historische Stoffe und sogar Science-Fiction sind dafür geeignet.
Der Horrorfilm eher nicht, denn er bezieht die Spannung hauptsächlich aus dem Ungewissen. Die Hauptfigur weiß nicht, was passiert, wo der fiese Mob lauert, der Zuschauer weiß es auch nicht, beide sind der Geschichte hilflos ausgeliefert. Wenn jetzt diese Figur ständig in Gedanken labern würde, zerstört das das Spannungspotential. Nicht nur, weil es Atmosphäre und Schocks kaputtmacht, ein Voice Over bindet auch den Zuschauer an sich, man fühlt sich nicht so allein. Man soll sich aber unsicher fühlen beim Horrorfilm, dafür ist Voice Over einfach die falsche Wahl.
Stimmbruch
Man hört ja im Zuge von dramaturgischen Tipps immer nur von dem, was man nicht darf und was man nicht machen sollte. Naja, so eng sehe ich das gar nicht. Es ist immer eine Frage, was man schaffen will. Nähe zur Figur, Verständnis für die Figur, für die Geschichte, Begleitung, Schutz, Ersatz. Manchmal kann einem ein Voice Over, so er so wundervoll gesprochen wird wie von Morgan Freeman zum Beispiel, an das elterliche Vorlesen von Märchen erinnern und man fühlt sich wohl. Aber warum soll man nicht experimentieren dürfen, klar, los, immer drauf.
Im Film SCHRÄGER ALS FIKTION gibt es eine wunderbare weibliche Erzählerstimme, scheinbar eine auktoriale Erzählerin, die den Protagonisten wirklich kennt. Der Protagonist, Harold Crick, wie soll ich sagen, eines Tages kann Harold Crick diese Erzählerstimme hören. Richtig hören! Harold flippt völlig aus. SCHRÄGER ALS FIKTION ist aber kein surrealistisches Experiment, es ist eine strukturelle Geschichte, in der das Voice Over fast als Figur benutzt wird. Es gehört zur Geschichte. Dieses Experiment ist deshalb so denkwürdig, weil es einer Sache widerspricht. Ein Voice Over gibt einen Film als das zu erkennen, was er ist, nämlich ein Film. Ein Voice Over macht uns klar, wir bekommen eine Geschichte erzählt, es schafft zwar Bindung, es schafft aber auch Distanz.
Im Fall von SCHRÄGER ALS FIKTION wird das nun umgekehrt, es wird bewusst abstrakt benutzt. Es fällt faktisch ein bisschen aus der Rolle. Das ist aber gut so, denn das macht Spaß! Auch in THE BIG LEBOWSKI, denn das dortige Voice Over ist in keiner Weise so klassisch wie es den Anschein hat. “Aber manchmal da gibts ein Mann, ich rede hier von dem Dude, also manchmal da gibts nen Mann, das ist der richtige Mann am richtigen Ort, zur richtigen Zeit.” erzählt eine raue Stimme zu Beginn, die nicht unsichtbarer Erzähler bleibt, später mal in der Bowlingbahn vorbeischaut, eine Personifizierung des auktorialen Erzählers. Oder ist es Gott?
In MEMENTO oder PI finden sich zwar strukturell klassische Voice Over, aber in interessanter Variation, Platzierung und Stilistik. Tja und letztlich HER von Spike Jonze oder auch Andrew Niccols SEELEN, die eigentlich gar keine wirklichen Voice Over sind, zeigen dennoch, wie faszinierend mit gesprochenem Wort umgegangen werden kann, mit Figuren, die nur aus Stimme bestehen.
Vielleicht sind sie der Ansatz, ein Voice Over auch mal unorthodox einzusetzen, Grenzen zu sprengen oder sogar den Zuschauer einzubinden. Aber vor der Kür kommt immer die Pflicht, und die liegt in der strukturellen Analyse der Verwendung dieses Hilfsmittels. Hat es wirklich eine Funktion oder ist es nur ein Gehstock, eine Geschichte auf Krücken oder ein schönes, neues Haus mit einem Gerüst vorn dran?
[…] Berufe und Berufungen, Dialoge, darüber hinaus Tools wie Titel, Untertitel, Loglines und Voice Over. Bleibt da noch überhaupt noch etwas übrig im dichten Dschungel der Filmstoffentwicklung? Wer […]
[…] diese Figur trifft den Klammererzähler eigentlich am Besten. Doch auch lediglich eine Stimme, ein Voice Over, kann als Rahmen fungieren. Im Bereich Horror-Anthologie sind die filmischen Klammern sehr oft […]