Ich seh, ich seh

“Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Guten Abend, gut’ Nacht, von Englein bewacht, die zeigen im Traum dir Christkindleins Baum. Schlaf nun selig und süß, schau im Traum ’s Paradies.”  –  1997 schockierte Regisseur Michael Haneke das Feuilleton mit FUNNY GAMES. In der Anfangssequenz des österreichischen Skandalfilms tönte neben Händel und Mozart der Song “Bonehead” der Avantgarde-Metallband Naked City aus dem Autoradio, schrill, schreiend, verstörend.

 

Mutter (Susanne Wuest) geht auf Distanz zu ihren Söhnen (Foto: Koch Media, Neue Visionen)

Fast zwanzig Jahre später schafft es wieder ein österreichischer Film, ein Familien-Alptraum-Szenario mit hohem Schockfaktor zu installieren. Auch ICH SEH, ICH SEH von Veronika Franz und Severin Fiala beginnt mit einem verdächtigem Lied – “Guten Abend, gut’ Nacht”, eines der bekanntesten Schlaflieder, vertont von Johannes Brahms. Szenen einer Fünfziger Jahre Idylle, Mutter im Dirndl und Kinder in Lederhosen singen herzergreifend das “Wiegenlied”, offensichtlich eine Fassade und ähnlich wie in FUNNY GAMES dauert es nach dieser seltsamen Eröffnung nicht lang und erneut bricht ein unfassbarer Schrecken über eine Familie herein.

 

Die Mutter von Elias und Lukas kehrt aus dem Krankenhaus zurück. Ihr Gesicht ist bandagiert, wohl die Folge eines Ereignisses, die im Film ICH SEH, ICH SEH lediglich einmal als “der Unfall” bezeichnet wird. Elias und Lukas, beide Zwillinge von zehn Jahren, empfangen die Mutter kühl. Verschüchtert und still spielen die drei “Wer bin ich?”, auf dem Zettel der Mutter steht “Mama”. Doch selbst bei mehr als einer Hilfestellung will Mutter einfach nicht erraten, wer diese weibliche Moderatorin mit zwei Kindern ist.

 

Der Skepsis folgt Unbehagen. Ist diese Frau, deren Gesicht bandagiert ist, wirklich die Mama von Elias und Lukas? Mutter, gespielt von Susanne Wuest, verhält sich auffällig. Natürlich braucht sie Ruhe zur Genesung, Gäste werden abgewimmelt, das Heim der Familie wird mehr und mehr zum Kokon. Mutter schirmt sich ab und lässt Elias und Lukas ratlos zurück. Auch beim Zuschauer regen sich Zweifel. Mutter verhält sich auch der schwierigen Situation gegenüber höchst verdächtig. Es dauert nicht lang und die Zwillinge sind sich einig – diese Person da ist definitiv nicht die Mama!

 

Elias und Lukas (Elias und Lukas Schwarz) zweifeln, ob die Mama noch die Mama ist (Foto: Koch Media, Neue Visionen)

Die Zutatenliste von ICH SEH, ICH SEH liest sich wie das Rezept für einen waschechten Horrorfilm. Das ist ICH SEH, ICH SEH auch, nur eben auf ganz anderer Ebene. Es gibt Zweifel, Ängste und irgendwann auch mal eine tote Katze. Wenn Elternteile zu Besessenen und Stiefmütter zu Aliens werden, folgt das im Genrefilm eigentlich immer recht konservativen Wegen.

 

In ICH SEH, ICH SEH werden diese märchenhaften Horrorstandards geschickt bedient, die böse Mutter, das einsame Haus im Wald, die Masken. Doch ICH SEH, ICH SEH ist eher im Ergebnis Horrorfilm, der Film ist weit mehr.

 

Kammerspiel, Familiendrama, Coming-of-Age, Thriller, Torture Porn – was wie ein wilder Genremix klingt, ICH SEH, ICH SEH ist kein stilistisches Durcheinander, weil alle Elemente des Films, vom Titel angefangen über die exzellente Kameraarbeit, Ausstattung bis hin zum twistreichen, aber immer bodenständigen Script perfekt harmonieren. In seiner Ruhe, die das Buch nach außen ausstrahlt, liegt die größte Beklemmung des Schreckes inne. Vieles bedarf nur einer Bemerkung, es gibt keine Übererklärungen, auch nicht im Twist, und dennoch trifft jeder Satz, jeder Blick ins Schwarze und hinterlässt ein bedrückendes Gefühl. ICH SEH, ICH SEH bleibt an einem kleben, in seiner Wirkung gleicht er FUNNY GAMES, obwohl beide Filme grundverschieden sind.

 

 

 

 

Ob einen der Film emotional packt, wird stark variieren. Denn er ist auch distanziert und kühl erzählt, das Verhalten der Mutter manchmal zu konstruiert und fragwürdig, die Kids zum Teil arg verschüchtert. Mich jedenfalls hat ICH SEH, ICH SEH stark beeindruckt. In seiner Wirkung ist der Film einer der besten Horrorfilme der letzten Jahre. Die Weinsteins haben sich bereits die Remake-Rechte gesichert. Ich seh, ich seh es praktisch schon vor mir, Nicole Kidman als Mutter, die Kids sind dann zwei Mädchen, der Look ist cool, aber die Seele wird fehlen.

 

Nicht auf´s Remake warten, ins Kino gehen. Guten Abend, gut’ Nacht …wünsche schöne Alpträume!

 

im Kino, Koch Media (Neue Visionen)

 

  • Schwer verstörend
  • behutsamer, aber wirkungsvoller Twist
  • Kamera: Martin Gschlacht
  • Susanne Wuest als Mama
  • stilvolle Ausstattung
  • Anfangssequenz
  • Besuch vom Roten Kreuz
  • sehr distanziert erzählt
  • Verhalten der Mutter grenzwertig

 

FAZIT:

Nach FUNNY GAMES erneut ein verstörender Arthouse-Horrorfilm aus Österreich. Cleverer Plot, bedrückende Inszenierung, Alptraum-Garantie!

 

ICH SEH, ICH SEH, AUT 2014, Regie und Buch: Severin Fiala, Veronika Franz
Für Fans von FUNNY GAMES, DIE HAUT IN DER ICH WOHNE & SHINING

 

 

One Comment

  1. Antworten

    […] kommen DER BUNKER von Nikias Chryssos und der österreichische Thriller ICH SEH, ICH SEH, der mich wirklich schwer begeistert hat. Zusammen mit den Highlights des Vorjahres DER SAMURAI, […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de