Ich bin real, Alter!
Als ich letzte Woche auf dem FILMFEST DRESDEN war, verschlug es mich zu Beginn in einen großen Supermarkt. Ich wollte mich mit dem eindecken, was man so braucht für eine Woche Filmfest, sächsischer Leberkäse, Mangosaft, Haribo Tropifrutti, Kokosnüsse, das ganze Ballett. Während ich so durch die Regalreihen schlenderte, flankierte ein hipper Jugendlicher mit Basecap, zerschlissenen Trainingshosen und Kapuzenpulli der Marke Bench meinen Weg. Ich folgte ihm eine Weile unbewusst, als sein Smartphone zu schellen begann. Er ging ran und sagt: “Yo?”, dann ward es einen kurzen Moment still, bis er überschwänglich äußerte: “Isch bin real! Isch bin real, Alter!” Soll nochmal einer sagen, die Jugend von heute beschäftige sich nicht mit philosophischen Lebensfragen.
Was für eine denkwürdige Begegnung! Oder doch nicht? Ich habe geflunkert, diese witzige Anekdote, sie ist nie passiert, jedenfalls nicht mir, ich habe nur darüber gelesen. Aber eine gestrenge Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion hat mich noch nie sonderlich interessiert. Kunst imitiert das Leben imitiert die Kunst imitiert Kartoffelsalat. Diese witzige Geschichte um jenen Jugendlichen, der sich selbst erkannt hat zwischen Dosenravioli und 3-lagigem Toilettenpapier, sie hat mir zu denken gegeben. Wann ist einem wirklich bewusst, dass man real ist?
Real ist, was keine Illusion ist, unabhängig von Wünschen oder Überzeugungen eines Einzelnen. So sitze ich hier und will schreiben, aber über was? Einen Artikel über das 28. FILMFEST DRESDEN? Wohl eher nicht, denn dazu fehlt mir ein Stück weit Realität, denn vom Programm und Wettbewerb habe ich nur wenig mitbekommen. Warum und weshalb ich gern auf dem FILMFEST DRESDEN arbeite, hat reale und irreale Gründe. Zum einen ist es ein Job, eine durch und durch physische, reale Sache. Ein anderer Grund ist der Drang nach Inspiration, das gehört in die zweite Kategorie. Das Verhältnis zwischen beiden Beweggründen liegt bei etwa 2 zu 98, der größere Teil also speist sich aus purer Illusion.
Ich denke, also bin ich. Nicht.
Illusion oder Irrealität sind sperrige Worte und sie passen nur bedingt. Zeit unseres Lebens bewegen wir uns in realen und irrealen Welten. Reale Welten bestehen aus Flüsterbeton, aus Sauerteig, zu harter Butter, die den Sauerteig aus dem Frühstücksbrot herausbröseln lässt, dass man barst vor Wut. Irreale Welten sind reine Kopfwelten, sie entstehen aus optischen wie akustischen Reizen, aus daraus resultierenden Gedanken, Schlussfolgerungen, Ideen, Tagträumen. Die meisten Menschen leben in dieser Dualität, ohne dass es ihnen groß auffällt. Bei mir jedoch war dieses Verhältnis seit jeher gestört. Gedankenwelten haben mich schon immer weitaus mehr eingenommen als Reale.
Gibt man sich der Kunst hin, egal ob Film, Musik, Literatur oder Malerei, verlässt man ganz automatisch die Pfade der Realität. Da mein Herz für den Genrefilm schlägt, ist es sogar noch eine Ecke brisanter. Denn im Genrefilm will man noch stärker flüchten. Keep it unreal! Dabei merkt man oft nicht, wie weit man schon abgedriftet ist, weil Fiktion einfach allgegenwärtig ist. Tonnenweise werden Filme und Serien konsumiert, man gleitet von einem Universum ins nächste. Bald geht es mit GAME OF THRONES weiter. Ich lese Geschichten und Worte werden lebendig. Ich höre Musik und aus Klängen werden Bilder. Input, Output, alles wird ein großer Knäul. Wenn dann Realität in die Gedankenwelt eindringt, ist man beschämt. Verzeihung, ich habe grad nicht zugehört, ich musste an John Snow denken.
Ich komme in Gedankenwelten hervorragend zurecht. Reale Dinge hingegen bereiten mir Schwierigkeiten. Ich bin eigentlich ständig geistig abwesend, auch und vor allem unter Menschen. Und ich habe recht überschaubare soziale Kontakte. Klingt einsam und langweilig, aber das stimmt nicht. Ich habe einen guten Ausgleich, nämlich Intellekt und Phantasie. Und materielle Dinge sind mir oft schnurzpiepegal. Mein ganzes Leben ist ein riesiger bohèmer Haufen Scheiße. Aber das ist super. Schließlich bin ich nicht ständig in irrealen Gedankenwelten, weil ich Autor bin, sondern Autor, weil ich mich fast ausschließlich in irrealen Gedankenwelten befinde. Möglicherweise bin ich deswegen eine Ausnahmeerscheinung, berufungsbedingt. Aber wenn ich mich und andere näher betrachte, dann gibt es noch weitere Faktoren des Abrückens in die Irrealität, und damit bin ich ganz und gar nicht allein.
Ich und der von meiner Facebookseite
Kunst konsumieren, zu analysieren, transcodieren und transformieren ist das eine. Was aber ist mit der Persönlichkeit? Ist die real? Wer bin ich eigentlich? Bin ich mein blog? Bin ich die Summe meiner Facebook-Postings? Was bin ich versus wie werde ich von anderen wahrgenommen? Facebook repräsentiert meinen Status, Twitter meine Kurzentschlossenheit. Instagram drückt mein Leben in Bildern aus, Quizduell belegt meinen Wissensstand, die YouTube-Playlist meinen Musikgeschmack. Und am Ende des Tages Abendessen posten.
In der Summe dieser irrealen Persönlichkeitsoffenbarungseide wird man zwangsläufig selbst zu einer irrealen Figur. Du bist, was du klickst. Alles stimmt irgendwie und trotzdem ist es nicht real, sondern ein Filtrat. Es ist schwierig, ehrlich zu sein in digitalen Welten. Weil man´s nicht muss.
Natürlich pflege auch ich mein irreales Bild im Netz. Und auch in diesem Jahr habe ich wieder krampfhaft nach etwas Irrealem gefahndet auf dem FILMFEST DRESDEN, habe versucht, aus dem Realen etwas Kreatives zu pasteurisieren. Ich habe gesucht und gesucht, an den verrücktesten Orten, an mit Zetteln zugeklebten Laternenpfählern, in kryptischen Graffitis, zwischen den Zeilen des Festivalkatalogs, im stummen Dienen und Denken, während andere sprechen.
Möglicherweise ein wenig zu sehr, denn es gibt keinen Knopf dafür, es passiert, wenn es passiert. Dieses Jahr kam ich zu keiner großen Erkenntnis wie etwa der Diskrepanz zwischen Genre und Nichtgenre, der Auslotung eigener seelischer Defizite oder dem unbewussten Widerstreben, mich auf reale Dinge einzulassen. Stattdessen las ich den Witz um diesen Jugendlichen, der sich seiner Realität bewusst wurde, ohne es selbst zu bemerken. Der fiktive Gedankenkosmos und die irreale Persönlichkeitsvortäuschung überdecken manchmal die eigene Realität.
Aber du bist real, Alter!
Du bist real, wenn du bemerkst, das Traditionen Sackgassen sind. Du bist real, wenn du das Autoradio ausmachst, weil dich die Musik vom Motorengeräusch ablenkt. Wenn du eine Person vermisst, die nicht da ist und du plötzlich jemanden kennenlernst, der diese Lücke füllt. Und du es zulässt. Du bist real, wenn du lachen musst, weil du soziale Netzabhängigkeit verteufelst und dann beschließt: “Scheiß drauf, ich muss jetzt dieses Foto posten!” Wenn dich Dank verwirrt für Dinge, die du für selbstverständlich hältst. Wenn du jemandem deine letzte Fritz-Cola schenkst, die du versteckt hältst, für einen besonderen Moment des Colatrinkens. Dann bist du real, Alter! Sei dir dessen bewusst, bevor du Erwartungen formulierst, Profilbilder änderst und die neue Staffel von GAME OF THRONES beginnt.
So kann ich auch nicht sogleich zur Tagesordnung übergehen und wieder über Fiktion schreiben. Es fühlt sich nicht richtig an. Ich würde gern länger an diesem Gefühl festhalten. Ich bin real, Alter! Ob es nun jemanden interessiert oder nicht. Wieder einer dieser Texte, die man nur schreibt, um sie aus dem Kopf zu haben. Ein Akt der Überwindung der eigenen Irrealität, aus Realität wird Fiktion wird Realität wird Fiktion. Schwerkraft, nein danke! Es gibt keine Beat Generation. Das sind nur ein paar Leute, die veröffentlichen wollen. When the seagulls follow the trawler, it’s because they think sardines will be thrown into the sea. Thank you very much!