Für Dich spiel ich noch in 150 Jahren

Wie oft hört man von dem Phänomen, dass Leute im falschen Jahrhundert geboren werden. Das passiert immer mal wieder und meist wird sowas zu spät bemerkt, nämlich erst dann, wenn diese Leute sprechen können. Die sagen dann: “Edler Vater, edle Mutter, irgendetwas ist faul im Staate Dänemark!” oder “Nein, mein Spielzeug mag ich nicht, ich hätte lieber 10 mg Methylphenidati Hydrochloridum, aber pronto, sonst klatscht´s!” Trotz dieser Schwierigkeiten können solche Leute noch ein normales Leben führen, die meisten finden sich ab der Pubertät mit diesem irreversiblen Zustand ab und äußern sich dazu nur noch widerwillig.

 

Ich kenne jemanden, der wurde zum Beispiel hundert Jahre zu früh geboren. Toller Typ, er hieß, glaube ich, Sir Armin von Müllermilch Schoko oder so, ein Tarnname, denn er wollte lieber nicht, dass die Anderen wissen, wo er eigentlich hingehört. Diese Sache, also im falschen Jahrhundert geboren zu sein, macht dem armen Mann ganz schön zu schaffen. Es ist jetzt nicht so, dass solche Leute ein konkretes Wissen über die Zukunft hätten, es ist eher so eine Art Bauchgefühl. Sie registrieren das temporäre Weltgeschehen und bekommen Bauchschmerzen, als hätten sie zwei Schwedeneisbecher gegessen und dann einen halben Liter Birnensaft getrunken. Auch glauben solche Menschen, das alles in Zeitlupe abläuft, an der Supermarktkasse, im Straßenverkehr, dieser Typ hatte zum Beispiel ganz viele Punkte in Flensburg, das ist halt so, meinte er dazu nur gelangweilt. Leute, die hundert Jahre zu früh geboren werden, denen kommt das Leben sehr sehr langsam vor. Und eben die ganze Zeit Aua im Bauch.

 

Die futuro-unlogische Actress

Wir trafen uns kürzlich im Martin-Gropius-Bau zur David Bowie Ausstellung. Der Typ, der 100 Jahre zu früh geboren wurde, ist gerade mal 29, und er persönlich glaubt nicht daran, dass er mal den Tag erlebt, an dem er regulär geboren worden wäre. Dazu müsste er hundert werden, darauf muss man erstmal kommen. Wir reden ständig über solche komplizierten Sachen. Während wir durch die Ausstellung trotteten, sprachen wir über einen Film, den wir beide kürzlich gesehen hatten, THE CONGRESS von Ari Folman, der lose auf dem Roman von Stanisław Lem “Der futurologische Kongress” basiert. Es ging um die Frage, wie das Gewerk der Schauspielerei so in einhundert Jahren aussähe. In dem Film bekommt die echte Schauspielerin Robin Wright ein Angebot, ihre physische Erscheinung in jeder Emotion von einem Computerprogramm scannen zu lassen, um es auf ewig zu bewahren. Weil es beruflich nicht so läuft, überlegt Robin, das zu machen.

 

Robin Wright im Einweckglas ihrer eigenen Ausstrahlung, THE CONGRESS (2013)

Doch damit nicht genug, es bestünde zudem die Möglichkeit einer digitalen Verjüngung, die nicht nur hautstraffender Natur ist, sondern auch den jugendlichen Charme zurückbringen soll, der über die Jahre dem armen Körper von Robin Wright entwichen schien. Eine junge Robin Wright, wer möchte die nicht nochmal mit frischen 23 Jahren auf der Leinwand herumhopsen sehen.

 

Der Typ, der hundert Jahre zu früh geboren wurde, belächelte das alles nur, obwohl er Bauchschmerzen hatte. Er hatte nämlich ein völlig anderes Bauchgefühl über die Zukunft der Schauspielerei. Ihn erheiterte das Festhalten am Status Star, den er für nicht ganz zu Ende gedacht hielt. Was soll das für ein Modell sein, bei dem man erst überhaupt einmal einen Star braucht, um ihn dann konservieren zu können? Was dort als Problemlösung präsentiert wurde, löst in keinster Weise die Misere, die ein solches Tun überhaupt hatte notwendig erscheinen lassen. Obendrein kannte er Robin Wright nicht einmal.

 

 

Viktor Taransky (Al Pacino) wird nicht so recht glücklich mit seinem digitalen Star in S1MONE (2002)

Ein digitaler Schauspieler, sowas gab es bereits in Andrew Niccols Film S1MONE mit Al Pacino und Rachel Roberts als computergenerierter Megastar, patzte der Typ. Ich pflocht dem Mann in diesem Beispiel bei, auch wenn der Film eher die Auswirkungen auf ein Massenpublikum thematisiert, ist die Geschichte doch in sich stimmiger als THE CONGRESS. Wenn man die Möglichkeiten hat, einen Mensch am Computer zu generieren, dann ist die Mithilfe einer Robin Wright oder eines jeden anderen Stars reichlich überflüssig, sagt er. Ich muss widersprechen, nicht insgesamt, aber in einem wichtigen Punkt.

 

Ich finde es schon bedauerlich, dass manche Schauspieler ihre jugendlich-frische Ausstrahlung irgendwann man verlieren, man schaue sich nur die ganzen Kinderstars wie Haley Joel Osment oder Daniel Radcliffe an, schaurig, schaurig, wenn ich daran denke, was mal aus Maisie Williams, der Arya Stark aus GAME OF THRONES werden soll. Nicht jede hat das Glück, eine Drew Barrymore zu sein. Vielleicht gibt es mal einen Markt für Retro-Darstellertum, vielleicht sollte jemand James Cameron drauf ansprechen, dann hat er wieder eine fixe Idee.

 

Ein Star als Ware, das gefällt auch meinem Kumpel aus dem falschen Jahrhundert. Die Initiative müsse in so einem Fall aber vom Schauspieler selbst ausgehen, mahnt er an. Der Schauspieler muss sich als Ware verstehen, was er ohnehin heute schon tut, und muss sich für die Zukunft besser absichern. Die Robin Wright aus THE CONGRESS hatte ihre besten Jahre bereits hinter sich, so die Geschichte. Sie hat leider auch das Pech, ebenfalls zu früh geboren worden zu sein. Für spätere Generationen von Schauspielern und Schauspielerinnen empfiehlt mein Kumpel, sich früh um einen solchen Youth-Scan zu kümmern und das Ganze dann fachmännisch zu vermarkten. So und nicht anders!

 

“Amen!”

 

 

Ich klatsche in die Hände. Das gefällt mir, auch wenn es sich für meine Bedürfnisse nachträglich nicht mehr realisieren lässt. Man stelle sich vor, nochmal einen neuen Film mit einer 20-jährigen Winona Ryder sehen zu können, so aus der Zeit zwischen BEETLEJUICE und DRACULA, das würd ich sofort kaufen wollen. Wie gut könnte sich Winona Ryder vermarkten, sie könnte in hundert Filmen pro Jahr auftreten, in denen sie nochmal so frisch und frei wirken könnte wie in EDWARD MIT DEN SCHERENHÄNDEN. Sie könnte Werbespots schalten für ihre größten Fans. Winona lächelt mit ihrer schönen Frisur aus MEERJUNGFRAUEN KÜSSEN BESSER in die Kamera und haucht: “Für Dich spiel ich noch in hundertfünfzig Jahren!”

 

Ich finde, sie ist schmal geworden so um die Backen, sie ist nicht mehr so hübsch wie früher. Mein Freund regt sich tierisch über meine Oberflächlichkeit auf, der Markt wäre viel größer, als dass es nur um solche profanen Gelüste ginge. Ich protestiere, es geht mir um Ausstrahlung, nicht um Optik, aber ich muss grinsen, denn es stimmt nicht. Ich schiebe es auf David Bowie, der auch immer alles sexualisiert in seiner Kunst und dass er mal am Kleistpark gewohnt hat, zusammen mit Iggy Pop. Das wiederum nennt mein Kumpel nur üble Klugscheißerei und wir verlassen die David Bowie Ausstellung, denn letzten Endes macht uns Bowie irgendwie beide aggressiv.

 

Kill Your Idols, Now!

Auf einer Parkbank nehmen wir Platz, da fällt meinem Freund doch noch ein Film mit Robin Wright ein, nämlich FORREST GUMP, wohl wegen der Parkbank. Aber da hieß sie noch Robin Wright Penn und war mit Sean Penn verheiratet. Das Thema Winona aber ist durch und ich erspare mir lieber, auch noch Lara Flynn Boyle zu erwähnen. Mutmaßliche Schauspielerei in der Zukunft lässt ihn aber nicht los, er redet sich richtiggehend in Rage deswegen. Heute bekleiden sich Schauspieler mit Noppen und Nippeln an schwarzen Ganzkörperleggins und springen in grünen Kästen herum, das filmt man dann und bearbeiten es so nach, dass diese Schauspieler wieder realistisch aussehen, mittels Computer. Mindestens so realistisch, als wie sie aussehen würden, hätte man sie einfach so gefilmt. Nur halt eben mit blauer Hautfarbe oder schrumpeligem Gesicht. Irre!

 

Als FINAL FANTASY – DIE MÄCHTE IN DIR 2001 in die Kinos kam, konnte man dort animierte Figuren sehen, die bis auf das letzte Pixel exakt wie echte Menschen aussahen. Das hat man als Fortschritt verkauft oder auch nicht, der Film ist gefloppt wie Bölkstoff. Aber das soll die Zukunft sein? Das ist irgendwie so, als würde ich über Jahrzehnte hinweg eine saure Gurke von den Aminosäuren angefangen bis zur Cuticula aus dem Nichts heraus erschaffen – eine tolle Leistung, man hätte aber auch gleich in den Supermarkt gehen können, um ein Glas Spreewaldgurken zu kaufen.

 

Kein Mensch könnte über Wasser gehn (außer Jesus, Anm. Jesus). Zum Glück gibt es CGI!

Das steckt alles noch so dermaßen in den Kinderschuhen, dass sich mein zu früh geborener Freund eigentlich darüber kaputtlachen könnte, würde ihm das nicht solche Bauchschmerzen bereiten. Aber generell glaubt er schon, dass das alles mal komplett digitalisiert wird. Aber der Status Star, der wird vergehen.

 

In einer solchen Zeit sind nämlich die Programmierer die wahren Produzenten, sie sind so etwas wie eine neue Generation von Schauspielagenten, die ihren Mandanten, in dem Fall ein formschöner Pixelhaufen, auf dem freien Markt feilbieten. Vielleicht gibt es Kooperationen mit Schauspielern oder Leuten, die sich für solche halten, aber Filme, sollte es die so noch geben, werden wesentlich stärker auf Nachfrage produziert. Und sollte es möglich sein, einen echt-wirkenden Menschen komplett in einem Computerprogramm zusammen zu schustern, dann gäbe es noch ganz andere Anwendungsmöglichkeiten.

 

Denn heute rennen wir noch dem Star hinterher, der einen Helden auf der Leinwand verkörpert, einen Heroe, der man selbst nicht ist oder nicht sein kann oder eben nicht sein darf. Heute spricht man von Identifikation mit der Figur, später einmal wird genau das Programm sein. Da muss kein Bruce Willis mehr im Feinripp einen Aufzugschacht raufklettern, das kann man dann selbst sein, per personalisierter Besetzung. Der Konsument ist gleichzeitig der Hauptdarsteller. Einfach biometrische Daten faxen, STIRB LANGSAM 9 – HARDER DIE DAY ordern und Schwupps ist man sein eigener Bruder Jörg! Oder einmal Bond sein, und das Bondgirl ist dann die fesche Nachbarin, die man seit 2 Wochen mit einer ULF-Kamera durch die Wand ablichtet. Macht 440.000 Nordeuro bitte. Per KEÄS? Selbstverständlich!

 

“Willis Muss Weg!” rufen die Revolutionäre. “Feinripp für Alle!”

Solche Fragen wurden in THE CONGRESS zwar auch gestellt, hake ich ein, doch der Schuss geht ins Leere, mein Freund sagt, er sei noch im Realteil eingepennt. Er brauch aber nicht mehr für seine Argumentation. Irgendwann wird auch das letzte Idol einmal vergessen sein. Wenn jeder sein eigener Held sein kann, braucht es gar keine Projektionsflächen für Minderwertigkeitskomplexe und Konsumantrieb mehr, dann hat man sich selber in den Kreislauf geworfen wie eine Barbiepuppe, die in einem Kreis herumgereicht wird und jeder darf ihr etwas anderes anziehen. Über diesen Vergleich von meinem Kompagnon aus dem falschen Jahrhundert muss ich so doll grübeln, dass ich auf der Parkbank einnicke.

 

 

 

Man findet keine Freunde mit Sa-la-at

Ich sitze, beziehungsweise stehe in einem Riesenfarmwald, neben mir hockt Anton Yelchin, wir sind im Karbon, vor 300 Millionen Jahren, nix weiter los. Ich mag das Karbon, nur die Luft ist schwierig zu atmen, viel weniger Sauerstoff, dafür aber weicher im Abgang. Ich weiß, Anton kann das Karbon nicht leiden, er ist viel lieber im Tertiär und sieht den Alpen beim Wachsen zu. Wir reden kaum. Ich grüble über die Frage, warum ich eigentlich mit Anton Yelchin im Karbon abhänge und nicht mit Léa Seydoux oder Ludivine Sagnier. Das hört Anton, direkt aus meinen Gedanken heraus und fühlt sich beschämt, weil er kein Französisch spricht, sondern nur Englisch, Russisch und Tschechisch.

 

Er musste damals für STAR TREK Tschechisch lernen, komplett, doch er wurde nur von J.J. Abrams und anderen aus der Crew verarscht, die hatten das beim ersten Teamtreffen nur so zum Spaß gesagt. Aber Anton hat das dann gemacht, naja, das ist ihm heute sehr peinlich und er mag es gar nicht, wenn ihn jemand darauf andenkt. Ich versuche das Ruder herumzureißen und sage, mir würde auch Christina Ricci reichen oder der Melitta-Mann. Der Melitta-Mann könnte Kaffee kochen, Christina Ricci hätte eine Badekappe auf und es wäre so wie früher. Aber Anton antwortet nicht mehr. Ich gehe ein paar Schritte und hole mir ein Pane Integrale mit rohem Schinken, Tomaten und Peccorinokäse, hier entsteht gerade Südtirol und ich bin von Anfang an dabei.

 

Das Karbon wird Ihnen präsentiert von Melitta-Filterpapier!

Da verdunkelt sich der Himmel und es beginnt zu schneien, mitten in der Wüste und denke, wo kommt denn die Wüste auf einmal her? Richtig, die Evolution hat einen Sprung gemacht, überall gelber Raps, es stinkt und ich muss niesen. Der Untergrund bewegt sich, die Erde reißt auf und aus dem Erdinneren kriechen riesige Würmer, mit Satteln und Geschirr, durchnummeriert, Rodeowürmer und sie sind sich ihrer seltsamen Erscheinung durchaus bewusst. Jemand geht um und will Eintritt kassieren. Ich diskutiere mit ihm über den Eintrittspreis, 5 Dollar halte ich für überzogen, wo der Dollar noch nicht einmal erfunden wurde. Dann schau ich ihn an und erschrecke, er sieht genau so aus wie George Washington auf der Ein-Dollar-Note.

 

 

Hab ich irgendwas verpasst? Dann müssen die Würmer aber weiter, Wanderzirkus, Glück gehabt, stattdessen verbrannte Erde wohin das Auge reicht. Anton läuft an mir vorbei, er hat keinen Bock mehr auf das Karbon, steigt in seinen grünen C-Klasse Kadett, dreht die Boxen voll auf, es dröhnt “Du entschuldige – i kenn di” von Peter Cornelius, dann rast er davon und ich höre nur noch: “… die i schon als Bua gern g’habt hab…”. Dann is Ruhe. Das ganze Karbon ist muxmäuschenstill. Unheimlich. Man glaubt, jeden Moment kommt jemand um die Ecke und will einem irgendein Brillengestell verkaufen, ohne Zuzahlung! Nicht mit mir!

 

Ich wache auf. In Wirklichkeit sitze ich nämlich noch auf der Parkbank neben meinem Freund, der im falschen Jahrhundert geboren wurde. Der redet immer noch über die Zukunft der Schauspielerei, von den Enkeln von Guido Knopp, die personalisierte Geschichtsfilme produzieren. Man kann sich dort selbst visuell in verschiedene Szenarien versetzen lassen, vorproduziert natürlich, mit dem neusten Know How. Steineschleppen beim Bau der Pyramiden zum Beispiel. Oder Steinewerfen an das Fenster von Jackie Kennedy. Oder noch einmal zu Fuß durch Nagasaki spazieren, bevor es knallt. Ich bin entsetzt. Aber auch interessiert, die Möglichkeiten sind in der Tat mannigfaltig. Das wäre aber auch nur so ein Übergangsding, meint er, der wichtigste Schritt in Richtung Zukunft sei der, die Vergangenheit loszulassen. Nix Jackie Kennedy oder Winona Ryder mehr, näh!

 

Die (wirklich) allerletzte Drehbuchbesprechung im Jahre 2079 (v.L.n.R.: Emma Watson, Elle Fanning, Meryl Streep, Chloë Grace Moretz, Kristen Steward, AnnaSophia Robb, Alexis Bledel & Emma Schweiger)

Vielleicht so in Richtung STRANGE DAYS, frage ich, wo man sich aufgezeichnete oder produzierte Clips in sein Gehirn spielen lassen kann und das Ganze miterlebt? Das Miterleben sei gar nicht das Entscheidende, es geht schon noch um den Akt des Geschichtenerzählens. Es wird immer jemand geben, der sich von jemand anderem etwas ausdenken lässt, schon aus Faulheit, entgegnet mein Kumpel. Nur wird das alles viel persönlicher sein, mehr von den Menschen an sich kommen, nicht mehr diktiert durch Studios oder so. Man bucht praktisch seinen eigenen Regisseur. Der kommt dann, zu Kaffee und Kuchen, und bespricht mit einem das Drehbuch, sinnbildlich. Der Kunde möchte gerne eine Art “Film”, in der sein “Held” eine metaphysische Reise durch das Innere des Kyllopsknoten unternimmt.

 

Bei ihm ist eine wunderschöne Frau, die nix sagt die ganze Zeit, nur irgendwelche Tasten drückt. Action braucht der Kunde keine, er will einfach nur so zum Kyllopsknoten reisen, schön bunt soll es sein und nicht zu laut. Vielleicht werden dann aber auch die Programmierer Schrägstrich Agenten kleine Diven, die dann intellektuelle Unterscheidungen treffen, wozu sie Bock haben oder nicht. Aber keiner ist unfreundlich dem anderen gegenüber, alle quatschen sie nur die ganze Zeit seicht und am Ende ist es der selbe Mist wie jetzt auch. Mein Freund wird wieder pampig und wir wollen es gut sein lassen. Vorher aber noch ein paar Runden Ringbahn fahren, das machen wir immer zum Abschluss, erst vier Berliner Kindl auf Ex und dann Ringbahn.

 

Der Empörkömmling

Wir sitzen in der S46 und fahren, bis uns schwindlig wird. Mein Kumpel klopft mir auf die Schulter und sagt, ich wäre zwar nicht wie er hundert Jahre zu früh geboren, aber wir verstünden uns so, als ob es so sei. Dann rülpst er. In einigen Dingen gleichen wir uns tatsächlich. Auch mir kommt manchmal alles verdammt langsam vor. Andererseits verzweifle ich an der Hektik meiner gegenwärtigen Mitmenschen. Sind mir alle zu aufgeregt. Mein Freund nickt und bringt einen Vergleich aus dem Bereich Film, aus einer Zeit, wo der Tonfilm angefeindet wurde. “Stoppt den Tonfilm!” wurde skandiert, die Leute waren aus dem Häuschens damals, unvorstellbar.

 

Empörung über Abhörung bereits vor hundert Jahren!

Das ist mir hingegen schon wieder zu filmspezifisch, es geht mir um eine allgegenwärtige Flatterhaftigkeit, mir waren die dämlichen Neunziger Jahre fast lieber, wo keiner auch nur einen blassen Dunst hatte von globaler Vernetzung und Politik und so, wo es das Guidomobil gab und jeder gesagt hat: “Guidomobil?” Heute sind sie alle wahnsinnig und man muss aufpassen, was man sagt, was man denkt. Denn es geht ratz fatz, man wird in eine Ecke gestellt und es gibt Eckstoß. Genau, Fussball zum Beispiel! Wie kann ich jetzt gerade einfach so über Fußball reden, geschweige denn Fußball schauen? Alle korrupt, alles manipuliert, Lahm muss wieder rechts spielen! Verbrechersyndikate wie ein Fußballweltverband und die Bundesregierung beschließen ein neues Frackinggesetz, klare Absprachen zwischen der FIFA und Sigmar Gabriel! Und ich schreibe hier über die Zukunft der Schauspielerei und über das Karbon, sag mal, geht´s noch? Gehört TRAUMFALTER FILMWERKSTATT vielleicht auch zu diesen gleichgeschalteten Medien, von denen man so viel liest? Oder habe ich von der Gleichschaltung einfach nichts mitbekommen, weil auch diese ganz heimlich während einer Sportveranstaltungen vorgenommen wurde? Auch ich habe manchmal Bauchaua, als wäre ich im falschen Jahrhundert geboren. Woher kommt das, diese Thalamus-Hypothalamus-Geschichte, dass ich so unendlich müde werde von Leuten, die meinen, sie wären politisch, nur weil sie einmal in der Woche die HEUTE SHOW kucken? Von Leuten, die ständig das Selbe reden, über das Selbe lachen, während ich mich nicht mal angesprochen fühle, wenn es mal wieder um den sogenannten Steuerzahler geht?

 

Wenn ich jetzt auch noch sage, dass mir dieser Snowden suspekt ist? Und die ganzen Leute, die den Herrn Snowden hier befragen wollen, die wollen den am liebsten alle persönlich befragen, aber was eigentlich? Und was dann? Was bedeutet das überhaupt, Grundrechte im Internet? Menschenrechte im Poesialbum? Worüber sind gleich nochmal alle so empört? Ich bin empört, ich bin empört, ich bin empört! Und wenn alle so richtig schön empört sind, brauch nur eine Julia Engelmann dahergelaatscht kommen und irgendwas plappern, was alle schön finden, und schon finden´s alle schön. Ich find das nicht schön! Ich find das albern.

 

Ich stehe auf keinerlei Seite, und wenn, dann auf der Seite der Zu-Früh-Geborenen, der Bauernschläue und der orwellschen Weitsicht. Vierdimensionales Denken! Niemand, aber auch wirklich niemand hat vor Jahren gegen die Ausrottung von Stockenten demonstriert. Und wisst ihr was, es gibt sie immer noch, Stockenten. Manchmal muss man die Dinge einfach mal lassen so wie sie sind. Arroganz ist auch ganz hilfreich. Aber ich hab auch gut Reden, ich bin Phantast, ich mache nichts anderes als die Dinge von außen zu betrachten, zu filtrieren, die Welt zu beobachten, als wäre sie ein riesiger Ameisenhaufen oder eine Petrischale.

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Wir sitzen immer noch in der Ringbahn und reden uns darüber fusselig, keine Lust mehr auf Phrasen, frei von der Leber weg. Die Zukunft wird gaaanz anders, als die alle sagen! Genau wie in diesen Filmen, den Zukunftsphantastereien, die im Grunde gar keine Phantastereien sind, sondern nur gepresste Kritikförmchen, lallt mein Kumpel. In der Fiktion nennt sich so etwas aber nicht Kritik, das nennt man “Hinterfragen”, man hinterfragt einen gegenwärtigen Zustand. Sklaverei! Darauf haben Phantasten keinen Bock! Auch wenn es innerlich weh tut und der Pfad der Gerechten zu beiden Seiten gesäumt ist mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Ihre Augen machen bling bling und alles ist Vergessen.

 

Mein Kumpel und ich sind betrunken, er will anfangen zu singen, “Strong Enough” von Cher, das is mir aber dann doch zu doof und ich steige am Südkreuz aus. Wir winken nicht. Winken ist uns zu Retro. Er muss sowieso noch eine ganze Runde fahren, denn er hat vergessen, am Bundesplatz auszusteigen. Doch er hat Zeit, der Mann, der hundert Jahre zu früh geboren wurde. Ich hab auch Zeit. Ich laufe nach Hause. Über die Straße rennt ein junger Rotfuchs. Stein im Schuh.

 

 

 

3 Comments

  1. Antworten

    […] freien Texte mit doppeltem Boden, die sich in keine Schublade stecken lassen. Wie der Text über Anton Yelchin und das Karbon oder die Schiefe der Ekliptik. Ich war stolz, einer von diesen Texten zu sein. Aber ich wurde in […]

  2. Antworten

    […] entstehen lassen. Wie wird das Schauspielhandwerk wohl in fünfzig, sechzig Jahren aussehen? Habe ich darüber nicht schon mal geschrieben? Wenn der Status Star abgeschafft ist, weil jeder ein Star sein kann, jeder über Technik und […]

  3. Antworten

    […] Effektspitze noch lang nicht erreicht. Für die Zukunft ergibt das noch andere spannende Facetten. Was, wenn es möglich wäre, einen Schauspieler mit der Agilität und Jugend seiner frühen Jahre re… Doch das scheint noch weit […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de