Die kleine Genrefibel Teil 86: Cool Kids!
Heute, Kinder, wird´s was geben, und zwar ein richtiges Reizthema im Kinematographenzoo, im Flimmergewimmel unseres kleinen Nickelodeons hier, heut gibt´s voll auf die VierbisZwölf, ob ihr wollt oder nicht. Erst kürzlich hab ich es wieder erlebt, hier in meiner schnuckeligen Filmhöhle. Ich sitze mit einem guten Freund bei einem Quarkhörnchen und einem Kasten SchwipSchwap vor dem Fünfundfünfzigzoller und wir wollen einen Film schauen, mein Vorschlag SON OF RAMBOW klingt dem Titel nach verheißungsvoll, doch dann erwähne ich spitzwegerich beiläufig, dass es sich dabei um einen der besten Kinderfilme handle, den ich kenne und der Kasten SchwipSchwap gehört mir plötzlich ganz alleine. Was ist denn da los? Beim heiligen Perforationsloch, warum sollte man an einem Samstagabend einen Kinderfilm kucken, als „Erwachsener“? Also „nur“ einen Kinderfilm? Warum keinen „richtigen“ Film?
Gänsefüßchen über Gänsefüßchen, ein Getrampel ist das! Aber beim Thema Kinderfilm gibt es häufig solche Reaktionen. Nicht nur bei Erwachsenen, auch bei Kindern. Darf man bei einem Kinderfilm nicht so viel erwarten wie bei einem Film für Erwachsene? Was ist das überhaupt, ein Kinderfilm? Reine audiovisuelle Berieselung für Zappelphilippe und Zappelphilippinen, damit die ruhig gestellt sind und die Eltern in Ruhe ihren Schnaps trinken können? Grenzdebile Dauerlutscher, nervtötender Singsang oder überdidaktischer Popelmist mit dreifach erhobenen Zeigefingern? Es stimmt, es gibt viel Quirlkack da draußen, was für Kinder gemacht wird, was Kindern vorgesetzt wird, womit Kinder unterfordert werden. Gemüse muss sein, die Kita oder die Grundschule muss perfekt ausgesucht sein, aber danach reicht ICH, EINFACH UNVERBESSERLICH als Ritalinbonbon. Doch damit ist jetzt Schluss.
Kinderkram, nein Danke!
Der Begriff Kinderfilm scheint einfach genug zu sein, um sofortige Assoziationen auszulösen. In Wahrheit ist der Kinderfilm aber gar nicht so eindeutig. Kinderfilme sind keine Filme über Kinder, auch wenn Kinderfiguren fast immer im Mittelpunkt von Kinderfilmen stehen. Kinderfilm ist ebenso wenig ein Genrebegriff, auch wenn man viele Filme mit diesem Label frankieren kann. Kinderfilme werden speziell für Kinder produziert, also für eine Zielgruppe, genauer für eine Altersgruppe. Über die Jahrzehnte hat sich diese Gruppe natürlich biologisch wie gesellschaftlich verändert, bis in die 70er Jahre waren das Angebot für Kinder zwischen 6 und 14 Jahren ausgelegt, heute, im Medienzeitalter und bedingt durch ein früheres Einsetzen der Pubertät, pendelt sich der Kinderfilm für ein Publikum zwischen 4 und 12 Jahren ein. Diese Altersspanne ist natürlich alles andere als einheitlich.
Wünsche und Sehgewohnheiten von Kindern verändern sich beinahe mit jeden neuen Altersjahr. Das bedingt, dass Kinderfilme für jedes Alter zwischen 4 und 12 Jahren anders ausgelegt, anders erzählt und anders präsentiert werden sollten, wenn nicht gar müssen. Der Kinderfilm grenzt sich nur schwerlich von zwei anderen Filmkomplexen ab. Das wäre zum einen der Jugendfilm, der sich an Heranwachsende zwischen Pubertät und Volljährigkeit wendet und neue Thematiken mit sich bringt. Zudem besteht eine Abgrenzung zum Coming of Age Film, der retrospektiv eher von Erwachsenen als Erinnerung an Kindheit und Jugend rezipiert wird. Andererseits gehören Elemente des Coming of Age Films wie Reifeprozesse natürlich auch zum Kinderfilm.
Noch schwammiger wird es beim sogenannten Familienfilm oder dem Begriff family entertainment, denn häufig wird dieser mit dem Kinderfilm gleichgesetzt. Schaut man sich Listen mit den beliebtesten Kinderfilmen an, findet man dort zu 90 Prozent eher Filme aus dem Bereich family entertainment, welche zwar Kinder vollumfänglich ansprechen, aber eben auch Elemente oder Figuren für Erwachsene beinhalten. Das betrifft eigentlich alle Disney- und Pixarproduktionen, sowie einen Großteil aller CGI-Animationsfilme anderer Hersteller. Es ist mit Sicherheit nicht falsch, dass all diese Filme ein begeistertes Kinderpublikum finden. Wahr ist aber auch, dass durch dieses Überangebot echte Kinderfilme kaum mehr wahrgenommen werden.
Kinderfilme werden speziell für Kinder gemacht, aber schauen Kinder deshalb ausschließlich Kinderfilme? Welche Filme Kinder gern schauen, ist immer auch eine Generationsfrage, das kennt jeder aus seiner eigenen Kindheitserinnerung. Manchmal möchte man diese mit Kindern teilen, die aber ob der Machart oder des Themas nicht immer auf Interesse oder Begeisterung stoßen. Andererseits gibt es Produktionen, die generationsübergreifend Kinder ansprechen und immer wieder begeistern.
Man kann die Nase ob eines Kinderfilms hochziehen wie man will, sobald es um die eigenen Kindheitserinnerungen geht, dann sind Filme wie E.T. oder DIE GOONIES plötzlich keine Kinderfilme mehr, sondern Kultklassiker, sofern man ein Kind der Achtziger war. Jede Generation hat diese Erinnerungen und sie bleiben normalerweise für immer lebendigund werden weitergegeben. Das waren natürlich nicht immer Kinderfilme, na logo, die kindliche Neugier bezog sich auch auf Erwachsenenfilme.
Das war nicht nur eine Generationsfrage, sondern auch kulturell bedingt. Während es in Europa eine rigidere Medienpolitik in Sachen Kinder- und Jugendschutz gab, wurden in den USA Horrorfilme vor allem von Kindern und Jugendlichen konsumiert. Gelten Zeichentrickfilme in den USA wie in Europa als Kinderfilme bzw. family entertainment, sind diese beispielsweise in Japan vor allem für Erwachsene gemacht. Märchenfilme, die heute als Kinderfilme gelten, waren früher dagegen für alle Altersgruppen konzipiert.
Kinderfilme für eine Altersgruppe zwischen 4 und 12 Jahren zu konzipieren ist schwierig, denn es gelingt so gut wie nie, diese insgesamt anzusprechen, zu groß sind die Unterschiede der jeweiligen Altersstufen. Den Zugang zu Figuren und Geschichten finden Kinder über Realitäten und Identifikationsfiguren. Letztere finden sie weniger in jüngeren Kindern, vielmehr in Gleichaltrigen, aber genauso in älteren Figuren. Daraus ergibt sich zwangsläufig weniger Programm für Vierjährige als für Zwölfjährige.
„…dann bohr dir doch ein Loch ins Knie. “
Ebenso wichtig ist die Form der Präsentation. Ein Großteil von Animationsfilmen ist für Kinder geeignet, weil darin Emotionen stärker gezeichnet werden können und das ein besseres Verständnis für Figuren ermöglicht als beim Realfilm. Noch wichtiger ist die Tonalität, das entscheidende Element des Kinderfilms ist Humor, Kinder wollen lachen. Kinder aber reagieren genauso auf traurige Elemente und auf Spannung, der Einsatz dieser Elemente ist tricky, denn die Dosierung muss manchmal exakt stimmen. Das führt zu der Frage, welche Genres für Kinder geeignet sind und welche nicht. Im Kinderfilm aber können alle Genres abgebildet werden, vom Liebesfilm über Roadmovie, Krimi bis zum Horrorfilm, der ob der Dosis aber maximal als Gruselfilm inszeniert wird.
Phantastische Elemente werden von Kindern im Kinderfilm ganz selbstverständlich aufgenommen und regen die eigene Phantasie an. Sollte aber eine Szenerie zu spannend aufgeladen sein kann sich das negativ auf Kinder auswirken. Als Erwachsener fehlt einem da möglicherweise die richtige Nachvollziehbarkeit, denn bereits DAS GROßE KRABBELN kann Kleinkinder verstören, selbst erlebt. Grundsätzlich aber ist Gruseln im Kinderfilm nicht generell abzulehnen, im Gegensatz natürlich zu graphischer Gewalt, aber das Stellen gegenüber Ängsten ist ein wichtiger Lernprozess für Kinder.
Für den Kinderfilm gibt es drei wichtige Säulen, die man bei der Konzipierung beachten muss – Unterhaltungswert, Schutzfunktion und erzieherische Botschaft. Alle drei Elemente verfügen über Stolperfallen. Kinderfilme müssen einen hohen Unterhaltungswert haben, passiert nichts, langweilen sich Kinder schnell. Gab es mit frühen Kinderfilmproduktion oft das Problem mangelndem Unterhaltungswerts, tritt heute eher das Gegenteil auf. Kinderfilme, vor allem Animationsware, geraten zur tumben, bunten, hektischen und albernen Berieselung, die hauptsächlich darauf abzielt, Kinder für die Zeit des Filmkonsums ruhig zu stellen.
Kinderfilme sollten diverse Elemente des Erwachsenenfilms definitiv nicht enthalten, Gewalt zum Beispiel. Doch das ist eine Frage des Grades und der Explizität, Gewalt gibt es schließlich auch bei TOM & JERRY. Doch diverse Überlegungen um Schutzfunktionen im Kinderfilm haben filmgeschichtlich auch negative Auswirkungen gehabt, wie im deutschen Kinderfilm der 50er und 60er Jahre, der so viele Ebenen von kindlichen Lebenshorizonten ausgeblendet, gar ins Gegenteil verkehrt hat. Die völlige Ausblendung von schwierigen Themen führt nicht zwangsläufig zu besseren Kompetenzen und Verständnis für die Welt, in der Kinder leben.
Zu guter Letzt geht es natürlich auch immer um eine erzieherische Botschaft. Kindern soll über die Fiktion das gesellschaftliche Miteinander erklärt bzw. anerzogen werden. Das kann man selten neutral betrachten, neben überfordernder Ernsthaftigkeit oder Moralisierung hat das in diversen Zeiten auch zu Politpropaganda geführt. Natürlich sollten Kinderfilme keine moralischen Zweifel hinterlassen, die Trennung zwischen Gut und Böse wird im Kinderfilm meist klar gezogen. Bei allen drei Elementen, Unterhaltung, Schutz- und Lernprozess, liegt das Hauptproblem nie beim Zielpublikum, sondern beim Macher, beim Erwachsenen.
Es sind immerhin Erwachsene, die Filme für Kinder machen, Erwachsene entscheiden, was Kinder zu interessieren oder gar zu begeistern hat. Leider auch wahr ist, dass Kinderfilme manchmal aus Beweggründen gemacht werden, die nichts mit Kindern zu tun haben, um Filmpreise abzustauben, weil man vermeintlich einen politischen Beitrag geleistet hat, wenn man einen Film über Kinder in einem Kriegsgebiet dreht. Diese Unaufrichtigkeit gegenüber dem Medium ist selten, aber es gibt sie. Worum es beim Kinderfilm aber wirklich geht, ist eine realistische Darstellung des Lebenshorizontes von Kindern, die Anregung der Fantasie und des eigenen Begreifens und Lernens, von Ansprüchen und Bedürfnissen. Aus diesen Gründen ist der Kinderfilm eins der schwierigsten Komplexe im Bereich Film.
Die Wahrheit ist leider auch, diese Überlegungen und Hintergründigkeiten über den Kinderfilm, sie wurden erst in jüngerer Zeit angestellt. Das tragende Problem des Kinderfilms bis in die 90er Jahre hinein war ein anderes – (mangelnde) Kommerzialität. Ein Kinderfilm ist schwierig zu konzipieren, aber noch schwieriger zu vermarkten. Um das zu verdeutlichen, muss man noch stärker auf die Unterschiede zwischen Kinderfilm und family entertainment eingehen.
Oft übernimmt in unserer Genrefilmdiskussion der US-amerikanische Film das führende Zepter, das mag manchen sauer aufstoßen, aber der US-amerikanische Film hat das Medium nun mal am stärksten geprägt, er ist eine Industrie, während der Film außerhalb der USA eher mit dem Kunstbegriff assoziiert wird, was auch nicht ganz richtig ist, aber naja. In den Hitlisten um die besten Kinderfilme rangieren immer die Disney- und Pixarproduktionen ganz weit oben, ebenso im Box Office Bereich. Dem gegenüber ist der KinderSPIELfilm aber geradezu eine unkommerzielle Nische, vor allem in den USA.
Durch die Strukturierung von family entertainment, eben alle Altersgruppen anzusprechen, geraten wichtige Elemente des Kinderfilms oft in den Hintergrund. Natürlich sind die für Kinder immer noch attraktiv, aber für sie zugeschnitten werden oftmals nur Unterhaltungselemente, Zwischentöne oder Ernsthaftigkeiten werden für Erwachsene separiert. Das führt natürlich zu hohen Besucherzahlen, aber selten zu einem echten guten Kinderfilm. Wenn wir uns nun einigen der besten Kinderfilmen zuwenden, wird auffallen, dass da kaum US-amerikanische Produktionen führend sind. Wie aber sah es in Europa und Deutschland aus?
„Lasst euch die Kindheit nicht austreiben. “
Echte Kinderfilme gab es in Europa in den Anfängen der Filmgeschichte nicht, zwar wurden zwischen 1895 bis zum Ende der Stummfilmzeit Märchenfilme produziert, nur waren die für alle Altersgruppen und nicht primär für Kinder gemacht. Auch mangelte es in Europa, insbesondere Deutschland, an Stoffvorlagen, es gab zu Beginn des Filmzeitalters kaum Kinderliteratur, im Gegensatz zur USA. Dennoch konzentrierten sich wenige Filmemacher auf die Konzeption von Kinderfilmen aus historischen Stoffvorlagen.
Eine jener Pioniere des späteren Kinderfilms war die Filmemacherin Lotte Reininger. Lotte Reininger war Buchillustratorin, Scheren- und Silhouettenschneiderin sowie eine der ersten Animationsfilmerinnen. Ihr Film DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED aus dem Jahr 1926 nach Märchenmotiven aus Tausendundeine Nacht war einer der ersten abendfüllenden Trickfilme, der auch heute noch erhalten ist. Auch DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED begeisterten damals vorrangig ein Erwachsenenpublikum, aber Lotte Reiningers Scherenschnittfilm entstand zehn Jahre vor der ersten Disney Zeichentrickfilmproduktion SNOW WHITE AND THE SEVEN DWARFS (1937) und gilt somit als Begründer des Animationsfilmes, der für den Kinderfilm unverzichtbar wurde.
Der erste Real-Kinderspielfilm erschien 1931 mit der Verfilmung des Erich Kästner Romans EMIL UND DIE DETEKTIVE von Gerhard Lamprecht, das Drehbuch schrieb er damals 26-jährige Billy Wilder. Bemerkenswert für diesen ersten großen Kinofilm mit Kindern für Kinder war der für damalige Verhältnisse realistische wie ernsthafte Hintergrund um Armut, Diebstahl und Drogen, aber auch die konsequente Umsetzung als Genrefilm, ein Detektivkrimi mit Tempo, Spannung und Witz.
Erich Kästners zeitloser Kinderbuchklassiker wurde insgesamt acht Mal verfilmt, in Großbritannien (1935), Argentinien (1950), Japan (1956) sowie in den USA (1964). In Deutschland entstand 1954 die erste Farbfilm Neuverfilmung, beide Verfilmungen von 1931 und 1954 begeistern neben Witz und Esprit auch heute noch durch einen spürbaren Zeitgeist der jeweiligen Entstehungsjahre.
Es gelang sogar, den Kinderbuchklassiker im Jahr 2001 erfolgreich in die Jetztzeit zu versetzen, ohne den Charme der zeitlosen Geschichte einzubüßen. Mit EMIL UND DIE DETEKTIVE von Franziska Buch aus dem Jahr 2001 wurde die Geschichte an die mehr oder weniger heutige Kindergeneration bzw. derer Bedürfnisse angepasst. Dabei war EMIL UND DIE DETEKTIVE gar nicht die erste Neudefinition eines Kinderbuches von Erich Kästner.
Einer der ersten Filme in den 90er Jahren, die ein neues (oder auch erstmaliges) Aufblühen des Kinderfilms begründeten, war PÜNKTCHEN UND ANTON von Caroline Link von 1999. Während die erste Verfilmung des Kästner Romans 1953 recht werksgetreu inszeniert wurde, erhielt Caroline Links PÜNTCHEN UND ANTON ebenfalls eine einfühlsame Modernisierung, ohne den Geist der Buchvorlage über Freundschaft und Gerechtigkeitssinn grundlegend zu verändern, mit Erfolg.
Kästners Romane, von EMIL UND DIE DETEKTIVE über PÜNTCHEN UND ANTON bis zu DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER und DAS DOPPELTE LOTTCHEN, sie alle beweisen, dass eine gute Kinderbuchvorlage als Film durchaus auch modernisiert funktionieren sowie international erfolgreich sein kann. Kästners Roman DAS DOPPELTE LOTTCHEN um ein getrenntes Zwillingspaar, welches die Rollen tauscht, wurde sogar 14 mal verfilmt, fünf mal allein in Deutschland, aber auch in Japan oder den USA.
Disney produzierte 1964 eine Adaption von EMIL UND DIE DETEKTIVE, der Roman Das doppelte Lottchen wurde in den USA sogar fünf mal verfilmt, so auch von Disney. Die amerikanisierten Verfilmungen entfernten sich von den teils gesellschaftskritischen Elementen wie Kinderarmut (EMIL UND DIE DETEKTIVE) oder Scheidung (EIN ZWILLING KOMMT SELTEN ALLEIN), zudem war Walt Disney nicht der größte Kästner Fan und hatte 1949 eine Adaption von Die Konferenz der Tiere als zu politisch abgelehnt.
Die letzte Adaption eines Romans von Erich Kästner stammt aus dem Jahre 2017 mit DAS DOPPELTE LOTTCHEN, produziert von Uschi Reich, welche sich mit Kinderfilmen und vorrangig Kästner Verfilmungen einen Namen gemacht hat. Auch wenn die letze Verfilmung von Das doppelte Lottchen mittlerweile im Smartphonezeitalter angekommen war, der humanistische Kern blieb erhalten. Der Hauptgrund dafür war zweifelsohne die Zeitlosigkeit der Romanvorlage, die aber ohne ein exzellentes Drehbuch, eine raffinierte Regie oder spielfreudige Kinderdarsteller dennoch zum Scheitern verurteilt wäre.
Leider aber waren die Kästner Verfilmungen im Nachkriegsdeutschland zwischen 1954 (EMIL UND DIE DETEKTIVE) und 1999 (PÜNKTCHEN UND ANTON) eher positive Ausnahmen. Bis zur Wiedervereinigung 1990 gab es in beiden Teilen Deutschlands mehr Schatten als Licht. Besonders in der BRD tat man sich schwer mit Kinderfilmen, die bis in die 90er Jahre als unprofitabel galten. Die Lebenshorizonte wie Wünsche und Träume von Kindern adäquat zu visualisieren schien Filmemacher zu überfordern.
Momo gegen Deibelschmidt
Bis auf Erich Kästner Bücher gab es kaum deutschsprachige Kinderliteraturvorlagen. Nach dem Krieg wurden in Westdeutschland vorwiegend seichte Lustspiele gedreht, unter anderem mit Heinz Rühmann, das waren eher kindgerechte Familienfilme wie WENN DER VATER MIT DEM SOHNE oder DIE MÄDELS VOM IMMENHOF im Jahr 1955 oder eben Märchenfilme. Was den Kinderfilm in Westdeutschland zusätzlich erschwerte, war ein Kinoverbot für Kinder unter 6 Jahren, welches erst 1985 aufgehoben wurde.
Ein Kinderprogramm fand bis in die 70er Jahre in Deutschland fast ausschließlich im Fernsehen statt, dort gab es durchaus Kleinode wie die ZDF Weihnachtsserien, reine Kinderfilme im Kino aber waren faktisch nicht existent. In den 50er und 60er Jahren war das auch bedingt durch einen rigiden Schutzmechanismus, der vor allem in den Lustspielen, in denen Kinderfiguren vorkamen, sichtbar wurde. Man versuchte, sämtliche negative Aspekte von Kindern fernzuhalten und ihnen eine Heile Welt vorzugaukeln.
Erst in den 70er Jahren gab es ein Umdenken in Sachen Medienverständnis und Bestrebungen, im Film mehr auf die Lebensrealität von Kindern und ihren Wünschen wie Sorgen einzugehen. Es entstanden durchaus echte und wenige gute Kinderfilme, erfolgreich waren die aber nicht. Erst 1985 entstand in der BRD mit der Verfilmung des Kinderbuchklassikers DIE UNENDLICHE GESCHICHTE von Michael Ende ein auch international erfolgreicher Kinderfilm, gefolgt von MOMO aus dem Jahr 1986.
Anders sah das in der damaligen DDR aus, dort war die Produktion von Kinderfilmen natürlich auch Kulturpolitik. Die DEFA hatte den Auftrag, pro Jahr mindestens drei Kinderfilme zu produzieren, und das bei gerademal 16 Millionen Einwohnern. Natürlich waren diese geprägt von sozialistischen Idealen, doch trotz Indoktrinierung waren diese Produktionen ungleich realistischer als die aus Westdeutschland, von humanistischem wie demokratischen Geist durchzogen und mit weitaus mehr Phantasie inszeniert.
Auch in der DDR wurden die bekannten Märchen als große Kinofilme inszeniert, darunter Kinderfilmklassiker wie DER KLEINE MUCK, ZWERG NASE oder DAS KALTE HERZ, zu Zeiten, in denen in der BRD seichte Schwänke und Lustspiele anliefen. Natürlich gab es in der DDR eine rigide Filmzensur, aber sie förderte dadurch auch Filmemacher heraus, gerade mit Kinderfilmen Auswege aus der Zensur zu finden. Insgesamt waren DDR Kinderfilme wesentlich moderner und realistischer wie vergleichbare Produktionen aus Westdeutschland, verfügten über eine wirklichkeitstreuere Darstellung der Lebensumgebung von Kindern und wandten sich oft mit Phantasie und Hintersinnigkeit an Kindergenerationen der DDR.
Besonders in den 80er Jahren wurde der Kinderfilm zur Möglichkeit des kreativen Protestes mit cleverem Subtext, aber eben auch mit realistischer wie feinfühliger Thematisierung von Problemen und Sehnsüchten wie in SABINE KLEIST, 7 JAHRE (1982) oder MORITZ IN DER LITFAßSÄULE (1983). Daneben verstanden es ostdeutsche Filmemacher wunderbar mit Phantasie zu spielen wie in GRITTA VON RATTENZUHAUSBEIUNS von Jürgen Brauer (1985) oder den beliebten Kinderserien des Fernsehens der DDR wie SPUK UNTERM RIESENRAD, SPUK IM HOCHHAUS und SPUK VON DRAUßEN.
Auch wenn der Kinderfilm in der DDR eine höhere Qualität hatte als im damaligen Westdeutschland, geht man in der Erinnerung zurück, so fallen einem viele Beispiele für erfüllende Kinderphantastereien ein, die auch heute noch zeitlos erscheinen. Vieles davon spielte sich allerdings im Fernsehen ab, dort gab es auch gute bis sehr gute deutsche Produktionen wie DER KLEINE VAMPIR, aber die größten Kindheitsschlager kamen von woanders her, vornehmlich aus dem hohen Norden Europas.
„Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß.”
Zu einer der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen mit einer Gesamtauflage von 165 Millionen Büchern zählt die Schwedin Astrid Lindgren, deren Werke in aller Welt und in 106 Sprachen erschienen. Ihrer Phantasie entstammen Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Ronja Räubertochter, Madita, Mio mein Mio, Kalle Blomquist, Karlsson vom Dach und die Kindern aus Bullerbü. Doch nicht nur die Bücher von Astrid Lindgren begeisterten und begeistern Generationen von Kindern und Junggebliebene, auch deren Verfilmungen gehören zu den originellsten und herzlichsten Werken für Kinder weltweit.
Die bekannteste Figur von Astrid Lindgren ist zweifelsohne Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf oder schlicht Pippi Langstrumpf. Pippi stand für alles, was Elterngenerationen bis in die 80er Jahre hinein suspekt war. Das rothaarige Gör mit den Sommersprossen war alles andere als eine konventionelle Figur, sie war selbstbewusst, selbstbestimmt und frech, hatte ein Pferd, ein Äffchen, ein kunterbuntes Haus und jede Menge irrwitziger Flausen im Kopf. Konterkarriert wurde Pippi durch die Nebenfiguren Tommy und Annika, die eher den klassischen Kinderfiguren entsprachen, ängstlich, scheu, brav und gehorsam. Pippi wirbelte nicht nur deren Leben wild durcheinander, sondern auch das von Kindern in aller Welt.
Pippi Langstrumpfs Abenteuer wurden bereits 1949 in Schwarz-Weiß verfilmt, gefolgt von einer Adaption im Rahmen der Reihe SHIRLEY TEMPLE’S STORYBOOK mit Gina Gillespie in der Hauptrolle. Doch die meisten Kinder erinnern sich vorrangig an Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf in der Serie und den Kinofilmen zwischen 1968 und 1970 von Kinderfilmregisseur Olle Hellbom.
Für Kinder waren die Abenteuer von Pippi Langstrumpf pure Anarchie und eine bezaubernde Traumwelt. Wer nicht selbst Pippi sein wollte, der wollte zumindest eine Freundin wie Pippi. Pippi lebte allein ohne Eltern in einer großen Villa, hatte einen Koffer voll Geld, ihr aber war Besitz und Egoismus fremd, sie hatte ein übergroßes Herz und brach mit jedweden Konventionen. Eltern betrachteten Pippi argwöhnisch, sie sei ein schlechtes Vorbild. Das stachelte die kindliche Begeisterung nur noch mehr an.
Was der Serie und den Kinofilmen mit Inger Nilsson gelang, war nicht nur eine adäquate Adaption der Geschichten von Lindgren, mit Inger Nilsson (Pippi), Maria Persson (Annika) und Pär Sundberg (Tommy) gelang den Produzenten ein wahres Castingwunder. Die Abenteuer von Pippi Langstrumpf begeisterten Kinder in aller Welt, jeder konnte das Titellied mitsingen. Doch es war nicht nur der Spaß und die Dallerei, in PIPPI LANGSTRUMPF kamen unzählige zeitgenössische Themen zur Sprache wie Emanzipation, kindliche Selbstbestimmung, Rebellion gegen Autoritäten und Auflehnung gegen die sogenannten Regeln der Gesellschaft.
Doch all das wurde so unverkrampft, mutig und ohne pädagogische Übermoral inszeniert wie kaum eine Kinderproduktion zuvor, dass es trotz des Erfolges schwer war, das anderswo zu replizieren. Aber glücklicherweise gab es ja diesen riesigen Fundus in Lindgrens Büchern, aus denen Kinderfilmemacher schöpfen konnten.
1947 wurde Lindgrens MEISTERDETEKTIV KALLE BLOMQUIST zum ersten mal verfilmt, bis 1997 erschienen sechs Adaptionen. In den 60er Jahren und Jahrzehnten danach begeisterten DIE KINDER VON BULLERBÜ andere Kindergenerationen, MICHEL AUS LÖNNEBERGA brachte es auf fünf Verfilmungen, ebenso wie Adaptionen von FERIEN AUF SALTOKRAN. Doch auch die Verfilmungen RONJA RÄUMERTOCHTER oder MIO MEIN MIO erreichten ein begeistertes Kinderpublikum.
Durch den immensen Erfolg der Bücher von Astrid Lindgren und deren international erfolgreichen Verfilmungen wurden Kinderfilme in Skandinavien besonders gefördert. In Dänemark beispielsweise wurde im Jahr 1982 ein Gesetz erlassen, dass 25 Prozent der Filmfördermittel für Kinder- und Jugendfilme verwendet werden müssen. Filmemacher aus Norwegen, Schweden oder Dänemark gelang das große Kunststück, auch schwierige Stoffe kindgerecht aufzubereiten, und das bis heute. Die große Akzeptanz und Wertschätzung des skandinavischen Kinderfilms zeigt sich unter anderem auch daran, dass einige skandinavische Kinderfilme internationale Remakes nach sich zogen, deren Qualität aber selten erreicht wurde.
In Europa gab es diese zwei großen Richtungen bis zur Deutschen Wiedervereinigung, die skandinavischen Kinderfilme, vereinzelt britische oder niederländische Produktionen sowie den großen Output der sozialistisch geprägten Länder, denn auffallend viele gute Kinderfilmproduktionen stammten aus der DDR oder Tschechien. Bis zum Erfolg von DIE UNENDLICHE GESCHICHTE 1985 konnte davon in der Bundesrepublik keine Rede sein. Das änderte sich mit dem Mauerfall nicht auch erstmal nicht grundlegend.
Der Kinderfilm-Boom
Nach dem Mauerfall kam es in den 90er Jahren zum Kinoboom im wiedervereinten Deutschland, dessen Höhepunkt in den ersten 2000er Jahren lag. Davon profitierten zuerst natürlich US-amerikanische Filme, vorrangig family entertainment wie Disneyfilme. In den 90er Jahren aber lag der deutsche Film in einer Krise, das traurige Schlusslicht bildete der Kinderfilm. Zwar konnte 1990 der Film WERNER – BEINHART 4,9 Millionen Kinobesucher verzeichnen, doch als echten Kinderfilm konnte man ihn nicht bezeichnen.
Bei 82 Millionen Einwohnern waren 10 Millionen unter 12-jährige eine relativ kleine Zielgruppe (Stand 1999), das Problem aber lag vor allem im unsicheren Umgang mit Kinderfilmstoffen. Doch es hatten sich auch einige Dinge zum Positiven verändert. Der Pool an Stoffvorlagen aus Kinderliteratur, Hörspielen oder Fernsehvorlagen war ungleich höher als in den Jahrzehnten zuvor. Zum anderen wurden die Filmförderanstalten in Sachen Kinderfilm sensibler und erhöhten den Förderetat für Kinderfilme immens.
Als 1999 die Erich Kästner Adaption PÜNKTCHEN UND ANTON 1,8 Millionen Besucher an der Kinokasse verzeichnen konnte, war das ein Erfolg, den man zuvor nur von US-amerikanischen Disney Produktionen erwartet hatte. Plötzlich war da ein Markt für Kinderfilme, den man nicht für möglich gehalten hatte, dazu ein Kinderpublikum, welches man lange vernachlässigt hatte. Neue Förderanstalten wie das Kuratorium junger deutscher Film spezialisierte sich ab 1998 auf den Kinderfilm, ab 2000 erhielt der Kinderfilm eine eigene Rubrik innerhalb des Deutschen Filmpreises und erfuhr so eine höhere Wertschätzung.
In den Folgejahren nach PÜNKTCHEN UND ANTON wurden viele Kinderfilme nach bekannten Vorlagen realisiert, die an der Kinokasse überaus erfolgreich waren. Der Höhepunkt lag in den Kinojahren 2001 und 2002, 2001 konnten gleich vier Produktionen die Millionenmarke knacken, 2002 wurde der Film BIBI BLOCKSBERG sogar die erfolgreichste deutschsprachige Produktion des Jahres. Dieser Erfolg stieg kontinuierlich, weil sich diverse Effekte gegenseitig beschleunigten. Neue Kinderbuchreihen wie Fortsetzungen entstanden und bekannte Schauspieler wie Schauspielerinnen entdeckten den Kinderfilm für sich neu.
Im Jahr 2017 schafften es stolze 27 Kinderfilme in die Top 100 der erfolgreichsten deutschen Kinoproduktionen. Doch dieser Erfolg hatte auch eine Kehrseite, alles waren Filme nach bekannten Vorlagen, Kinderbücher, Hörspiele oder Fernsehserien. Originäre Kinderfilmstoffe hatten es wesentlich schwerer, Förderungen zu erhalten oder vom Kinderkinopublikum wahrgenommen zu werden.
So ist der Erfolg von unzähligen deutschen Kinderfilmen seit 1999 bis heute nichts zwangsläufig mit Originalität oder Mut zu erklären. Natürlich war dieser Boom ein qualitativer Quantensprung gegenüber dem Angebot der 70er und 80er Jahre, aber ungewöhnliche wie realistische Kinderfilme, auch mit heiklen Themen oder Perspektiven, haben nicht von diesem Boom profitiert, im Gegensatz zu den weiterhin erstklassigen Produktionen aus Skandinavien oder den Niederlanden.
Neuverfilmungen von bekannten Kinderbüchern wie DIE KLEINE HEXE, Filme über Mädchen und Pferde (OSTWIND) oder WILDE KERLE wie WILDE HÜHNER bestimmten das deutsche Kinderfilmprogramm und gingen zum Teil dutzendhaft in Serie, brachten Spaß und Dallerei mit sich, aber nur die wenigsten bildeten wirklich die neuen Lebenshorizonte von Kindern ab, die sich seit 1990 ungleich verändert hatten. Doch es gab auch neue Initiativen für originäre Kinderfilmstoffe wie das 2012 gegründete Label “Der besondere Kinderfilm”, um dieser einseitigen Entwicklung ein wenig entgegenzuwirken.
Trotz allem war die konsequente Förderung von Kinderfilmstoffen seit den späten 90er Jahren ein Glücksfall, nicht nur für den deutschen Kinderfilm. Trotz größeren Mutes in Sachen originärer Kinderfilmstoffe aus anderen europäischen Ländern hatten es diese zum Teil auch schwer an der Kinokasse. In Deutschland ruhte man sich auf der Kinderfilmerfolgswelle ein wenig aus, wenn doch endlose Fortsetzungen von Kinderfilmen noch gute Zahlen schrieben. Der originäre Kinderfilm wird es immer schwer haben, denn er muss vor allem von der Zielgruppe der unter 12-jährigen wahrgenommen werden.
Zwölf Filme für Traumfalter
So will ich denn am Ende dieses Artikels gern noch meine eigenen liebsten Kinderfilmklassiker kundtun, auf das ihr Eltern da draußen möglicherweise eine Anregung findet, euren Kindern das ein oder andere Kleinod an Kinderfilm zu empfehlen oder ihnen selbst zu verfallen. Sie sollen schlussendlich die Bandbreite des internationalen Kinderfilms ab den 90er Jahren verdeutlichen, also Vorhang auf für die meiner Meinung nach zwölf besten Kinderfilme aller Zeiten.
Ida Johansen ist ein Klettertalent, das hat sie von ihrem Vater, einem passionierten Bergsteiger. Als dieser in der Spätfolge eines Sturzes an einer lebensgefährlichen Lähmung erkrankt und die Familie Johansen die umgerechnet 200.000 Euro teure Operation nicht bezahlen kann, beschließen Ida und ihre besten Freunde Sebastian und Jonas, die angeblich sicherste Bank Dänemarks auszurauben. Dazu hilft Idas Klettertalent, Sebastians Kenntnisse in Bauplänen und Jonas’ Umgang mit bissigen Wachhunden.
Viele Kinderfilme leihen sich Genrestrukturen, aber KLETTER IDA ist echt waschechter Heist Movie für Kids und somit pfiffig strukturiert und überaus spannend wie actionreich inszeniert. Die Geschichte stellt die Figuren vor ein moralisches Dilemma, darf man ein Verbrechen begehen, wenn man damit den eigenen Vater retten kann? Diese Frage wird in KLETTER IDA clever und ohne moralischen Zeigefinger beantwortet. Dänemarks internationaler Kinderfilmerfolg zog sogar das US-Remake MISSION: POSSIBLE nach sich, der diesem außergewöhnlichem Action-Kinderfilm aber in keinster Weise das Wasser reichen kann.
Der 9-jährige Max neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen, eines Tages eskaliert der Streit mit seiner alleinerziehenden Mutter derart, dass Max von zu Hause abhaut und mit einem Boot aufs offene Meer hinaussegelt. Nach stürmischer Fahrt erreicht er eine mysteriöse Insel, die von riesigen wilden Monstern bewohnt scheint. Die sind von Max’ Wutausbrüchen beeindruckt, dass sie ihn zum König der Wilden krönen. Doch nach und nach stellt Max fest, dass man seinen Problemen nicht für immer entfliehen kann.
WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN basiert auf dem gleichnamigen Kinderbuch von Maurice Sendak und wurde von Spike Jonze (BEING JOHN MALKOVICH) inszeniert, dessen Stil auch hier unverkennbar ist, es aber gleichzeitig schafft, einen phantasievollen wie ernsthaften Kinderfilm über Wut und Enttäuschung zu konzipieren und auch nicht vor den Schattenseiten der Kindheit zurückzuschrecken. Ein gleichsam rabiater wie sensibler, melancholischer, witziger und visuell beeindruckender Bilderrausch.
Amy lebt auf der Ranch ihres Vaters, einem Künstler und Hobbyflieger. Doch nach dem Tod ihrer Mutter ist die Beziehung zwischen Amy und ihrem Vater schwer belastet. Eines Tages findet Amy ein verwaistes Nest einer Kanadagans und brütet in einer Schublade 16 Junggänse aus, die Amy für ihre Mutter halten und ihr überall hin folgen. Das führt zu zwei Problemen, denn einerseits können die Gänse ohne Führung im Winter nicht nach Süden fliegen, andererseits droht ihnen so das Stutzen der Flügel durch die örtliche Naturschutzbehörde. So reift der Plan, mittels eines Leichtflugzeuges den Gänsen das Fliegen beizubringen.
Die Geschichte von AMY UND DIE WILDGÄNSE klingt wie ein Märchen, basiert aber auf einer wahren Begebenheit. Der Film des Dokumentarfilmemachers Carroll Ballard aus dem Jahr 1996 mit Anna Paquin und Jeff Daniels punktet in jeder Disziplin, erzählt eine warmherzige Vater-Tochter-Geschichte sowie ein überaus spannendes Abenteuer in den Lüften mit atemberaubenden Natur- und Luftaufnahmen des dafür Oscar-nominierten Kameramanns Caleb Deschanel.
Der 9-jährige Hogarth Hughes lebt in einer amerikanischen Kleinstadt des Jahres 1957, auf dem Höhepunkt der Atomparanoia und dem Wettlauf um die Eroberung des Alls. Von dort kommt tatsächlich ein riesiger Roboter, der Metall frisst und sich mit Hogarth und dem Schrottplatzbesitzer Dean anfreudet. Doch alsbald erfährt das US-Militär von dem Giganten aus dem All, den es für eine Bedrohung hält und versetzt die Army in Alarmbereitschaft, den Koloss zu zerstören. Das aber will Hogarth keinesfalls zulassen.
Als US-amerikanischer Zeichentrickfilm umschifft DER GIGANT AUS DEM ALL eigentlich alle Disney Muster und erzählt gleichzeitig eine überaus politische Geschichte während der Zeit der großen Angst im Atomzeitalter. An der Kinokasse kein großer Erfolg ist der Film dennoch ein legitimer Nachfolger der beliebten 80er Jahre Kinderkultfilme wie E.T.. Letzten Endes besticht das Spielfilmdebüt von Brad Bird (DIE UNGLAUBLICHEN) aber durch seine pazifistische Botschaft, das Gewalt kein Mittel zur Konfliktlösung ist.
Die kleine Matilda Wurmwald hat das Pech, in einer arg schrägen und völlig desinteressierten Familie aufzuwachsen. So flüchtet sie sich in Bücherwelten, bis sie eines Tages feststellt, dass sie Dinge, die sie ärgern, zum explodieren bringen kann. Nach ihrer Einschulung freundet sie sich mit der Lehrerin Fräulein Honig an, fürchtet sich vor der boshaften Direktorin Frau Knüppelkuh und beginnt ihre telekinetischen Fähigkeiten für das Gute einzusetzen, notfalls auch gegen ihre eigene entsetzlich böse Familie.
Danny DeVito inszenierte 1996 die Verfilmung des Kinderbuches von Roald Dahl als wahrhaft surreal verschrobenes und vor origineller Ideen nur so strotzendes Kinderabenteuer mit toller Besetzung, allen voran Mara Wilson als Matilda Wurmwald. Das ist zwar nichts für kleine Kinder, dafür ist MATILDA zu makaber und teilweise wirklich boshaft, wohl aber für coole Kids, die schon Gefallen an diversen Tim Burton oder Harry Potter Verfilmungen gefunden haben.
Pelle ist zwölf Jahre alt und nicht gerade selbstbewusst, mutig oder schlagfertig. Auf der Flucht vor seinen Klassenkameraden, die ihn mal wieder piesaken wollen, versteckt er sich in einem Gebüsch und wird von einer genmanipulierten Ameise gebissen. Fortan stellt er diverse Veränderungen an sich fest, er hat noch größeren Heißhunger auf Süßigkeiten, ist plötzlich stark und pinkelt Säure. Als Superheld ANTBOY beginnt Pelle Verbrecher zu jagen, bis er es mit einem Oberschurken names „Die Laus“ zu tun bekommt.
Ab dem Alter von 12 Jahren fahren die heutigen Kids natürlich auf diverse Superheldenfilme ab, Jüngeren hingegen kann man Filme wie ANT-MAN nicht unbedingt empfehlen. ANTBOY aus Dänemark hingegen füllt diese Lücke mit einer zwar nicht sehr originellen, aber ziemlich cool inszenierten Geschichte um einen echten kleinen Superhelden und einem noch fieseren Bösewicht. Inzwischen gibt es sogar zwei Fortsetzungen, doch der erste ANTBOY ist zweifelsohne einer der coolsten Superheldenfilme für unter 12-jährige.
Während ihr Vater im ersten Weltkrieg kämpft, wird Sara in ein Internat nach New York geschickt, freundet sich dort mit einem Dienstmädchen an und begeistert sie und andere Kinder mit Geschichten des wundersamen Landes Indien. Dann aber ereilt Sara die Nachricht, dass ihr Vater im Krieg gefallen sei, sie verliert somit ihre Privilegien und muss für die boshafte Schulleiterin als Hausmädchen arbeiten. Doch Sara hält sich weiter an ihre blühende Phantasie, hilft den anderen Kindern aus mancher Klemme, bis eines Tages ein verwundeter Fremder ins Nachbarhaus zieht, der an Amnesie leidet und ihrem Vater ähnelt.
LITTLE PRINCESS ist die Verfilmung eines Romanes von Frances Hodgson Burnett (Der geheime Garten) und wurde 1995 von Regisseur Alfonso Cuarón (HARRY POTTER UND DER GEFANGENE DER ASKABAN) inszeniert. Kaum ein Kinderfilm verfügt über so viel Magie wie diese Romanverfilmung über Toleranz, Mut und Imaginationsgabe. Dazu gibt es märchenhafte Bilder vom dreifach Oscar-prämierten Kameramann Emmanuel Lubezki (GRAVITY, BIRDMAN, THE REVENANT) und wundervolle Musik von Patrick Doyle.
Die zehnjährige Emma will die Ferien bei ihrer Oma auf dem Land verbringen, doch muss sie dort feststellen, dass der Nachbar und Besitzer von Emmas Lieblingspferd Mississippi verstorben ist und sein gieriger Neffe es auf das Erbe abgesehen hat, inklusive Mississippi. Zwar schafft es Emma, das Pferd vor dem Schlachter zu retten, aber „Der Alligator“ setzt alles daran, den Gaul zurückzubekommen, notfalls mittels Entführung. Doch hat er nicht mit der Einfältigkeit von Emma und ihren Freunden gerechnet.
Cornelia Funke ist die wohl erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin, deren Werke dutzendhaft verfilmt wurden. Meine liebste Adaption ist aber HÄNDE WEG VON MISSISSIPPI von Detlef Buck aus dem Jahr 2007 mit Zoë Mannhardt als Emma sowie Katharina Thalbach, Milan Peschel und Christoph Maria Herbst. Ein Film ganz für Kinder, ohne Nebenhandlungen für Erwachsene, frech, bunt, in gewisser Weise mit einem leichten Astrid Lindgren Einschlag und definitiv nicht nur für Pferdefreunde.
Wie auch immer, aber durch den Kontakt mit einem Giftfass wird aus der Katze Minusch ein Mensch. Nachdem Minusch von dem erfolglosen Reporter Tibbe von einem Baum gerettet wurde, zieht sie in seine Wohnung und steckt ihm die neusten Nachrichten aus der Katzenwelt zu, im Gegenzug für frischen Fisch. Damit schafft es Tibbe aus seiner Schreibkrise, gerät aber auch auf die Spur des fiesen Deodorantfabrikanten Ellemett, der ganz und gar nicht der Wohltäter der Stadt zu sein scheint, den er vorgibt.
Aus den Niederlanden kommt dieser Katzenkrimi mit sprechenden Vierbeinern, der aber nicht weiter weg von Disneykitsch sein könnte, mit Witz, Spannung und Romantik. Auch DIE GEHEIMNISVOLLE MINUSCH richtet sich vollumfänglich an Kinder, die sprechenden Katzen sind zum Teil rotzfrech, Carrice Van Houten in einer ihrer ersten Kinorollen herzergreifend. Themen wie Lobbyismus, Tierrechte und Umweltzerstörung werden unverkrampft und flott für Kinds aufbereitet, ein Kleinod von Kinderfilm.
Wirrwarr um ALIEN TEACHER, THE SUBSTITUTE oder VIKAREN? Alle drei Filmtitel vermarkten einen seltenen Science-Fiction-Horrorfilm für Kids, der echte Gruselunterhaltung bietet. Aliens landen in einer Stadt und nisten sich in einem Hühnerstall ein. Sie wollen die Liebe der Menschen stehlen und zu ihrem Heimatplaneten transferieren. So taucht eines Tages eine neue Vertretungslehrerin in der Schule auf, welche den Kids sofort suspekt erscheint. Die Eltern scheinen ob der außerirdischen Bedrohung keine große Hilfe zu sein, also muss sich die Schulklasse allein gegen die unheimliche Lehrerin Ulla stellen.
ALIEN TEACHER ist ein waschechter Horrorfilm für Kinder, natürlich nicht für die Kleinsten, wohl aber perfekt für zehn- bis zwölfjährige. Unter der Regie von Dänemarks Genrespezialist Ole Bornedal entstand 2007 dieser schräge, düstere, aber definitiv kindstaugliche Gruselspaß mit Anleihen aus DIE KÖRPERFRESSER KOMMEN oder THE FACULTY.
Der elfjährige Jess ist in der Schule ein Außenseiter und freundet sich mit der gleichaltrigen Leslie an, die ebenfalls keine Freunde hat. Gemeinsam überqueren sie im Wald eine Schlucht über einen Fluss, was sie in ihr eigenes Phantasiereich Terabithia führt, welches von Trollen und Fabelwesen bevölkert wird. Doch eines Tages verunglückt Leslie an der Schlucht tödlich. Nach Phasen der Trauer und Wut aber beginnt Jess mit seiner kleinen Schwester, eine Brücke über die Schlucht zurück nach Terabithia zu errichten.
Man möge den großen Storyspoiler verzeihen, aber BRÜCKE NACH TERABITHIA ist ein Grenzfall zwischen Kinderfilm und Coming of Age, der sich sehr ernsthaft mit dem Thema Tod auseinandersetzt und deshalb eine gewisse Reife verlangt. Dennoch schafft es der Film, das Verständnis von Kinder für schreckliche Verluste sensibel einzufangen. Nur äußerlich ein Fantasyfilm á la NARNIA, viel mehr ein bewegendes Kinder- und Jugenddrama.
England im Jahr 1982, der elfjährige Will wächst in einer streng religiösen Gemeinschaft auf, Fernsehen ist ihm verboten. Dann lernt er den Rüpel Lee kennen und mit ihm sieht er das erste Mal einen Film – FIRST BLOOD mit Kultfigur John Rambo. Fortan ist Will davon überzeugt, der Sohn von Rambo zu sein und beide beginnen, einen Film für einen Filmwettbewerb zu drehen. Natürlich eskaliert das Vorhaben gehörig, aber beide schaffen es dadurch auch, aus ihren schwierigen familiären Situationen auszubrechen.
Der zweite Film von Regisseur Garth Jennings nach PER ANHALTER DURCH DIE GALAXIS ist einer der besten britischen Kinderfilme der Neuzeit und auch für Ältere eine traumhafte Zeitreise in die 80er Jahre mit Musik von Depeche Mode und The Cure. Trotzdem richtet sich der Film ganz an Kinder, geht unverkrampft mit schwierigen Themen um und liefert eine schräge Idee nach der anderen – tiefsinnig, rotzfrech und herzerfrischend.
Mit diesen Filmtipps für wirklich coole Kids endet unsere Reise in die Welt der Kinderfilme, aber denket daran, jeder, der ein Herz hat und sich die infantile Begeisterung seiner Kindheitsgeneration bewahrt hat, wird auch den ein oder anderen Kinderfilm von heute lieben lernen. Und das eventuell auch dem eigenen Nachwuchs angedeihen lassen. Einfach mal versuchen, mal nicht zum drölften Mal ICH, EINFACH UNVERBESSERLICH in die Streamingdauerschleife schleudern, vielleicht auch mal einen originären Kinderfilm auswählen oder von mir aus auch nochmal Pippi Langstrumpf. Wenn etwas im Film zeitlos daherkommt, dann möglicherweise der Kinderfilm.
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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.
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