Die kleine Genrefibel Teil 8: Echtzeitfilme

In diesem Teil der kleinen Genrefibel ticken die Uhren mal ein wenig anders. In der Vorbereitung dieses Artikels fiel mir auf, dass ich ja auch im Bereich Script Development den Begriff Zeit als dramaturgisches Element eines Filmstoffes behandeln wollte. Zum anderen sind Echtzeitfilme selten und weniger Subgenre oder Filmsparte, sondern die letzte Konsequenz eines sehr klaren und nachvollziehbaren Einsatzes von Zeitabläufen innerhalb der Filmhandlung. Weil sich Filme von COCKTAIL FÜR EINE LEICHE bis SILENT HOUSE in Sachen Zeitstruktur gleichen, etablierte sich irgendwann der Begriff Echtzeitfilme.

 

 

 

 

Ein wirkliches Subgenre stellen sie meiner Meinung nach nicht dar, es gibt keine übergeordnete Klassifizierung. Denn das Element Zeit liegt jeder Geschichte, jeder Handlung, Story oder jedem Plot inne und ist dramaturgisch unverzichtbar für den Stoffentwicklungs-prozess jeglichen Genres. Aus diesem Grunde gibt es erstmalig ein Crossover der Rubriken Script Development und der Kleinen Genrefibel, in dem es darum geht, wie die Zeit filmisches Erzählen beeinflusst.

 

 

Was ist Zeit?

 

Im ersten Script Development Artikel NIEMANDSLAND ging es um die Behandlung des Ortes im filmischen Kontext. Der Ort ist einerseits geographischer Bezug wie auch Location oder Motiv. Wenn man von Zeit in Zusammenhang einer Filmstory spricht, meint man in erster Linie die zeitliche Struktur der Handlung, den Rahmen der Story, in gewisser Weise eine Reise von A nach E – Anfang und Ende. In diesem Gefüge ist die Spielzeit, also wann die Handlung spielt, eher nebensächlich. Das Jahr 1799, 1841 oder 2012, wie auch Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind statische Zeitpfeiler, eindimensionale Marker, die vielleicht Auswirkungen auf das Wesen und Handeln der Charaktere, des Settings oder der Konstruktion der Welt haben, in der die Geschichte spielt. Wenn von Zeit im filmischen Kontext die Rede ist, geht es viel mehr um das Überbrücken von Zeitspannen, Zeiträumen oder Zeitabschnitten. Eine Geschichte wird immer durch Anfang und Ende definiert, egal, wie man das Ziel vom Startpunkt aus erreicht. Wann im Entwicklungsprozess stellt sich aber dann die Frage, welchen Rhythmus eine Geschichte einnimmt, um von A nach E zu kommen?

 

 

Die Zeit für die Figuren läuft stetig ab – IN TIME (2011) von Andrew Niccol

 

Wie bereits erwähnt, stellen sich bei mir im Stoffentwicklungsprozess mehrere Fragen an einen Stoff: Figuren, die Welt in der sie leben (Reale Welt, Reale Parallelwelt, Irreale Welt), die Story, das Genre, der Ort und die Zeit. Was wie eine Reihenfolge klingt, trifft nicht unbedingt auf die Zeit zu. Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, damit sich eine Geschichte vor dem inneren Auge eines Autors aufbaut. Der eine hat die Vision einer neuen Gesellschaftsform, eine Stadt oder einen Staat in der Zukunft und richtet danach seine Figuren aus. Ein anderer hat eine Figur im Kopf und lässt die Welt um diese herum entstehen. Es gibt keine Regeln, jeder Prozess, der Fragen aufwirft und beantwortet, ist richtig.

Zeit im Fokus der Dramaturgie

 

Nur ist es leider häufig so, dass dem Faktor Zeit nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Hingabe gewidmet wird wie den Figuren oder der Science-Fiction-Story. Gerade junge Autoren nehmen Ort als auch Zeit eher als Baukastensteine wahr, die nur benötigt werden, um etwas in den Szenenheader schreiben zu können. “INGEBORGS WOHNUNG, INNEN/NACHT”. Zeit oder Zeiträume werden sehr häufig auf TAG oder NACHT reduziert, sind die einzigen Marksteine im Storyverlauf und werden lieber dazu eingesetzt, Stimmungen anzupassen oder Zeiträume, in denen nichts passiert, zu überbrücken. Über solche Fragen wird nicht selten erst nachgedacht, wenn man die erste Drehbuchseite beginnt, denn da muss schließlich irgendwas rein da oben in die Zeile, und ein AUßEN/TAG erscheint im Entwicklungsprozess oft als eine Selbstverständlichkeit. Gedanken um Zeitliches Erzählen sollte man sich aber schon weit, weit früher machen.

 

Das ist weniger schwierig, als es erscheint, denn in jeder Geschichte, sei es auch nur eine erste Grundidee, ist meist schon der zeitliche Rhythmus verborgen. Man muss ihn nur finden und ihn beim Entwickeln und Schreiben nicht aus den Augen verlieren.

 

 

Vom Hundertsten ins Tausendste

 

Es mag banal klingen, aber jeder Kern einer Geschichte, jedem Plot wohnen Informationen über Zeiterzählen inne wie DNA. Dazu braucht es keine Story, kein exaktes Wissen über deren Verlauf. Die Geschichte über den Fall eines Imperiums wird sich nicht an einem Tag erzählen lassen, ein Survivalthriller erstreckt sich gewöhnlicherweise nicht über Monate. Die Suche nach einem Schatz auf hoher See dauert gewöhnlich länger als 90 Minuten, ein Stoff mit dem Arbeitstitel DIE HORRORNACHT gibt ebenfalls zeitliche Dramaturgie vor. Das kann man bereits in den ersten Stadien der Entwicklung erkennen und weiter ausbauen. Denn damit ist es nicht getan, die Erkenntnis, mein Horrorfilm spielt, wie so viele, in einer einzigen Nacht. Wichtiger noch als der Faktor, wann meine Geschichte spielt und in welchen Zeiträumen, ist die Frage nach dem richtigen Rhythmus, diese Zeitabschnitte zu überbrücken. Rhythmus ist alles. Nicht selten wird innerhalb von Regiebewerbungen nach Rhythmusgefühl gefragt und ich selbst kann als Schlagzeuger bestätigen, dass Rhythmus, Takt und Notation bei mir entscheidenden Einfluss auf filmisches Erzählen gehabt haben und es auch immer tun werden. Wer Rhythmus im Blut hat, dem wird rhythmisches Erzählen weniger schwer fallen.

 

 

Die Lösung für viele Probleme liegt in der richtigen Uhrzeit – NOSFERATU (1922)

 

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Pacing, Rhythmus und Fluss überhaupt Handwerkzeuge eines Autoren sind oder das eher die Regie oder den Schnitt tangiert. Da würde ich entschieden dagegen votieren. Denn es ist Aufgabe des Autors, der Geschichte einen Fluss zu geben. Regie und Schnitt können das mit ihren Werkzeugen lediglich feiner herausarbeiten oder stilisieren.

 

 

500 gut nachvollziehbare DAYS OF SUMMER (2009)

Zeit ist ein unverzichtbares Element einer jeden Geschichte und gestaltet sich immer wieder anders. Ein Fantasy-Epos, eine Geschichte über den amerikanischen Bürgerkrieg, eine Biopic über Martin Luther King, all diesen Geschichten liegt eine epische Erzählweise inne, die sich über Monate, gar Jahre erstrecken kann. Diese Zeitabschnitte in richtigem Rhythmus zu erzählen, heißt letztendlich dem Zuschauer eine nachvollziehbare Absteckung der Schritte zwischen A und E zu geben. Es gibt da gute und schlechte Beispiele. Die meisten geschichtlichen Themen greifen auf Jahreszahlen und Daten zurück, um Zeitverläufe und Sprünge zu visualisieren. Wichtiger aber ist, nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Eine Liebesgeschichte eines Paares und ihr erstes, gemeinsames Jahr ist aus dem Rhythmus, wenn 70% der Geschichte im Januar spielen, und das Ende im Dezember.

 

Das Jahr ist in dem Falle eine feste Zeitgröße, die es zeitlich geschickt zu tranchieren gilt. Da ein Jahr 4 Jahreszeiten hat, 12 Monate, 52 Wochen und 365 Tage, ist hier eine Stückelung nicht so schwierig abzuleiten. Das funktioniert beispielsweise nicht in der Komödie EIN JAHR VOGELFREI, der die Zeitspanne eines Jahres während eines Vogelbeobachtungswettbewerbs erzählt. Im Film gibt es kaum Anhaltspunkte, welche Zeiträume überbrückt werden und wirkt deswegen konfus erzählt und unspannend. Denn ein Spiel mit der Zeit oder einer Zeitziellinie generiert auch immer Spannung, wenn man sie richtig integriert. Dass man große Zeiträume auch unchronologisch einen Rhythmus geben kann, zeigt wiederum der Film 500 DAYS OF SUMMER. Zeitspannen werden hier durch Marker verdeutlicht, die Bezugsgröße ist die Liebesbeziehung zweier Menschen, dessen Counter bei einer Trennung immer wieder auf Null zurückgesetzt wird.

 

 

Sieben Jahre in Tibet

 

Lange Zeiträume sind eher schwieriger zu behandeln, weil eine solche Bezugsgröße meist fehlt. Für die Dramaturgie hat das aber nicht nur Nachteile. Ich bin mir beispielsweise nicht sicher, welchen Zeitraum die HERR DER RINGE Trilogie behandelt. Die Wanderung der Gefährten oder Frodo nimmt eine immense Zeitspanne ohne nachvollziehbaren Rhythmus ein, doch deswegen ist der Film trotzdem zeitlich nachvollziehbar.

 

Im Weltall zudem scheint die Zeit völlig aus den Fugen. Für die Erde ist immer die Sonne, also TAG und NACHT jene Bezugsgröße, die szenische Trennungen und Sprünge visualisiert. Im Weltall hört dich nicht nur keiner schreien, auch Mittag, früher Abend oder Nacht sind für die Handlung völlig zweitrangig. Welche zeitliche Struktur hat eigentlich STAR TREK? Hat jemand mal den Satz gehört: “Morgen früh werden wir Vulkan erreichen?” Eher nicht. Zeit ist an die Reale Welt gekoppelt, an die Gegebenheiten unseres Planeten. Doch Rhythmus und Fluss sind darüber hinaus auch bei einem Science-Fiction-Film von Bedeutung.

 

Zeitvermittlung durch Altersprozesse in THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON (2009)

Der Baum als Symbol der Vergänglichkeit in THE FOUNTAIN (2006)

 

Die größte Zeitspanne, die ich aus einem Film kenne, liegt in Darren Aronofskys THE FOUNTAIN vor. Sie behandelt einen Zeitraum von 1000 Jahren, vom Jahr 1535 bis ins Jahr 2500. Trotz dieser Zeitspanne wurde der Film dramaturgisch gekonnt aufgespalten, wir erleben 3 verschiedenen Zeitachsen parallel mit den gleichen Figuren. Epische Werke werden größer, wenn man große Zeitspannen dazu benutzt, um Ewigkeit und Vergänglichkeit zu erzählen. Gehen wir von THE FOUNTAIN als Beispiel extremer Zeitspannen vom Hundertsten ins Tausendstel.

 

 

Sweet November or a week with Marilyn?

 

365 Tage, 52 Wochen, 12 Monate, diese Zeiträume muss man selbstredend stärker komprimieren . Nicht wenige Filme spielen im Laufe einer Woche. Die Woche wiederum besteht aus Sieben Tagen und darin liegt bereits dramaturgisches Schießpulver. Sei es der Serienkillerthriller SEVEN von David Fincher, der den Stoff in sieben Teile gliedert, die letzen sieben Tage vor der Pension von Detective William Somerset.

 

In MY WEEK WITH MARILYN verbringt ein Regieassistent eine aufregende Woche mit Marilyn Monroe. Es gibt eine Unzahl an Filmen, die dramaturgisches Zeiterzählen bereits im Filmtitel tragen. Obgleich im Genre und Struktur völlig verschieden, sieht man an diesen Beispielen die Wichtigkeit des Faktors Zeit bereits im Titel. Ist man bei SEVEN erstmal in diesem Rhythmus drin, was spätestens mit der Einblendung des dritten Tages erfolgt, hilft einem zeitliche Struktur beim Zuspitzen der Spannung.

 

 

Spannender Wettlauf gegen die Zeit in den AROUND THE WORLD IN 80 DAYS Verfilmungen

 

Jedem ist klar, dass es für die Protagonisten nicht einfacher wird, je näher man dem Ziel, dem E, dem letzten Tag der Stückelung kommt. Ein Monat (ohne Sex) oder eine Woche voller Wunder, von diesem Konzept aus kann man tolle Geschichten mit Rhythmus und Fluss konstruieren. Dramaturgische Hilfsmittel wie Schrifttafeln, auf denen Datum oder Tag angezeigt werden, sind dort teilweise unumgänglich. Wo einem im der Strukturierung von 360 Tagen die Jahreszeiten behilflich sein können, muss man sich für Filme, die innerhalb eines Monats oder einer Woche spielen, etwas anderes ausdenken. Wiederholungen, immer gleiche Dinge wie das Betreten des Arbeitsplatzes oder die Feierabendglocke können da schon helfen, der umjubelte Start ins Wochenende oder die Trägheit des Sonntags ebenso.

 

 

From Dusk Till Dawn

 

Wenn man von der Epik eines fiktiven Jahrzehnts zeitliche Aspekte immer weiter verdichtet, vergrößert sich auch das Spannungspotential, vor allem aber die logische Nachvollziehbarkeit für den Zuschauer, obwohl das mit Logik streng genommen gar nichts zu tun hat. Man fühlt es, wenn ein Film sperrig erzählt ist, kein Fluss vorhanden ist, die Story wilde Sprünge macht und man das Zeitgefühl verliert. Je dichter Zeit gebündelt und erzählt ist, desto mehr kann man diesen Faktor unbewusst fühlen und stärkere Konzentration auf Figuren und Handlungsabläufe legen.

 

Epische Stoffe, Geschichten, die sich über lange Zeiträume erstrecken, sind häufig geschichtliche Stoffe, Biographien, Fantasyabenteuer oder lange Reisen. Wenn man sich Horror- oder Thrillerstoffe anschaut, fällt auf, dass in diesen Genre die Zeiträume eher kürzer sind. Es gibt einen direkten Zusammenhang mit den Figuren. Eine Figur, die sucht, hinterfragt, aufdeckt, macht einen Mysteriestoff, eine Geistergeschichte oder einen okkulten Stoff meist zu einer Story mit gedehnter Zeitspanne. Geht es um Gefahr, Verfolgung, Entkommen und Überleben, wird die Story erst durch Verdichtung wirklich spannend.

 

 

Die entscheidende Stunde während des GROUNDHOG DAYs (1993)

 

Es gibt viele Filme, die an einem Tag spielen (TRAINING DAY, INDEPENDENCE DAY, GROUNDHOG DAY), aber so richtig spannend wird das erst in der NACHT DER LEBENDEN TOTEN, FREITAG, DER 13. oder an HALLOWEEN. Für den Horrorfilm ist die Nacht ein entscheidendes Element. Nicht wenige Filme handeln in einer einzigen Nacht, denn dramaturgisch bedeutet das, wer bei Morgengrauen noch lebt, der…ja…überlebt. Klingt eigentlich ganz logisch. Trotzdem sind Filme, die in einer Nacht spielen, häufig inkonsequenter als Geschichten an einem Tag. Warum ist das so? Wieder ist das eine Rhythmusfrage, eine Frage der Aufteilung.

 

 

Der Countdown bis zur jährlichen THE PURGE Nacht

 

Eine gewöhnliche Herbstnacht á la HALLOWEEN bietet der Story rund 12 Stunden Sonnenabwesenheit. Nicht wenige Filme machen es zwar dahingehend richtig, große Teile in direktem Zeitbezug, nämlich in Echtzeit zu erählen, scheitern aber an einer nachvollziehbaren Struktur. Meist ist Mitternacht, wenn das muntere Zerhacken beginnt, sequenziell wird Zeit erzählt, in der Teeniegruppen dahingemetzelt werden, um der letzten Überlebenden den Ausweg zum Sonnenaufgang zu ebnen. Die Vorgabe NACHT wird hier häufig auf Szenen in Dunkelheit reduziert. Es gibt sogar Fälle, in denen letztendlich einfach auf das Morgengrauen gewartet wird (THE PURGE). Warten jedoch ist das Gegenteil von Spannung. Besonders beim Vampirfilm, wo der Sonnenaufgang nicht selten die letzte Rettung ist, könnte damit konsequenter gespielt werden. Gelungen hingegen ist die Dramaturgie bei ASSAULT – ANSCHLAG BEI NACHT, INSIDE oder THE STRANGERS. Auch 12 Stunden Dunkelheit verlangen eine gut überlegte rhythmische Teilung.

 

Wie bereits erwähnt, sind Filme, die in einer Nacht spielen, sehr häufig mit Echtzeitelementen bestückt. Nähert man sich von THE FOUNTAIN bis zu THE SILENT HOUSE, verdichtet man also Zeit von großen Spannen hin zur kleinsten Einheit, der Szene, erhält man einen guten Eindruck, wie Echtzeit funktioniert. Denn die kleinste Einheit, die man filmisch erzählen kann, ist die Szene, in der für Figur und Zuschauer die gleiche Zeit vergeht. Kann man schneller als Echtzeit erzählen? Eine Szene in Zeitraffer wäre denkbar, auch Zeitexperimente a´la INCEPTION. Doch der Zuschauer kann noch komprimierteres Erzählen häufig schwer nachvollziehen. Die Szene, die direkt Handlungsabläufe in Echtzeit erzählt, ist die dichteste Komprimierung, die man anlegen kann.

 

 

Cléo from 5 to 7

 

Eine Figur, nennen wir sie schlicht Frau Slowdkolnikov, ist auf der Flucht, hinter ihr der Dolchthorsten. Frau Slowdkolnikov versteckt sich, rennt vor dem Killer davon, zwickt ihn in die Unterarme. Solche Handlungen sind generell in Echtzeit erzählt. Wenn der ganze Film in diesem Rhythmus, ohne Sprünge von Minuten oder Stunden, in einer Zeitspanne von 90 Minuten oder wie lang auch immer, erzählt wird, spricht man von einem Echtzeitfilm.

 

Es gibt allerdings kaum einen Film, der sich bedingungslos daran hält. Die ultimative Maßnahme zur Verdichtung von Zeitgeschehen ist die Entscheidung, eine Geschichte in einer Einstellung zu erzählen (COCKTAIL FÜR EINE LEICHE, RUSSIAN ARK, THE SILENT HOUSE). Dabei kommt es weniger auf den sportlichen Charakter des Filmemachers an, der beweisen will, wie gut er Technik und Dramaturgie beherrscht. Das Ziel ist das Ziel, aus diesem Grund wird bei Filmen mit wenigen oder keinen Schnitten häufig getrickst. Das ist aber weder schlimm noch Thema. Mehr, als immer an der Figur dranzubleiben, sie 80 Minuten lang am Stück zubeobachten, ihr zu folgen und mitzuleiden, kann man dramaturgisch auch gar nicht tun.

 

 

Drei Echtzeithandlungsstränge in LOLA RENNT (1998)

 

Der Film 88 MINUTES beispielsweise gerät erst nach 22 Minuten in Echtzeitfahrwasser, auch SPEED hat eine andere Positionierung und stiegt erst mit Beginnen des Plots, dem Losfahren des Busses, in diese Form der Erzählweise. Es stellt sich die Frage, ob ein Schauplatzwechsel in einem Echtzeitfilm überhaupt funktioniert. Ist es immer noch Echtzeit, wenn eine Rückblende innerhalb der Echtzeithandlung eingefügt wird? Es spricht eigentlich nichts dagegen. Eine Unterhaltung während einer Busfahrt beispielsweise, in der eine Rückblende erfolgt, die aber die selbe lineare Zeitspanne erzählt, zerstört die Zeitdramaturgie streng genommen nicht, wohl aber den Fluss. Ein Echtzeitfilm will aber bestenfalls die Punkte der Entspannung vermeiden. Liegen in einem Horrorfilm zwischen zwei (Echtzeit)szenen ein szenischer Zeitraum der Ruhe, kann das ein Durchhaltepunkt sein, der von wichtiger Bedeutung ist. Ein solcher Punkt existiert in Echtzeitfilmen kaum, die Spannung wird bestenfalls 90 Minuten auf einem Level gehalten.

 

 

Die tickende Uhr als dramaturgischer Faden: 24

Man kann Spannung fühlen, denn der Körper reagiert auf solche Brüche. Beobachtet Euch mal selbst beim Filmschauen. In spannenden Szene, vielleicht Echtzeitszenen, fällt einem das nicht auf, wohl aber, wenn diese Szene oder die Echtzeit verlassen wird. Meist reagieren die Muskeln, vorrangig in den Schultern, auf Spannung. Ich habe oft erlebt, wie sich die Schultern nach einer Verfolgung “entkrampft” haben und sanken, wie nach einer Reizstrommassage. Gehen die Schultern runter, befindet man sich meist in einem szenischen Rettungsring, ein Zimmer mit verriegelbarer Tür oder in einem schützenden Fluchtauto. Diese Anspannung ist bei Filmen wie THE SILENT HOUSE oder GEGEN DIE ZEIT fast durchgehend spürbar und ein Indiz für gute Dramaturgie.

 

Es gab eigentlich keine wirkliche Ära für Echtzeitfilme, aber durch den Erfolg der Serie 24 hat sich schon etwas geändert. Serie und Kinofilme sind, was zeitliche Aspekte betrifft, immer komplexer geworden. Das hängt auch mit dem Sehverhalten und der Aufnahmefähigkeit des Zuschauers zusammen. Vor 20 Jahren hätten Serien wie 24 oder LOST, die in Sachen Zeiterzählen und großen Figurenkonstellationen unglaublich komplex sind, so nicht gegeben oder sie wären gefloppt, Filme wie INCEPTION hätten nicht solch hohe Besucherzahlen. Es erscheint unlogisch, dass ein Echtzeitfilm größere Aufmerksamkeit benötigt als ein episches Werk, was zwei Jahrhunderte überbrückt. Man muss dranbleiben bei Echtzeitstrukturen, man kann in einer Minute 11:14 mehr verpassen als in einer halben Stunde 1492.

 

 

“Time is the fire in which we burn”

 

Wenn man Zeit in der Entwicklung eines Stoffes ernst nimmt, hat man Spannungspotentiale bereits auf seiner Seite, ohne auch nur ein Wort verfasst zu haben. Einen Film in Echtzeit zu realisieren, ist nicht die letzte Hürde, die man als Filmemacher zu überspringen hat. Echtzeitfilme sind Experimente, Filme wie THE SILENT HOUSE für meinen Geschmack zu sehr Mittel zum Zweck, was nicht heißt, dass ich Echtzeitdramaturgie nicht für ein fantastisches Element halte.

 

Aber wie ich bereits erwähnte, wichtiger als die Zeitspanne, die es zu erzählen gilt, ist Rhythmus. Und 90 Minuten Echtzeit sind nicht das, was man filmisch immer anstreben muss, um höchstmögliche Spannung zu erzeugen. Ein Film wie SEVEN unterscheidet sich von LOLA RENNT in seiner Zeitstruktur, nur bedeutet dichter nicht immer spannender. Man sollte zeitliche Dichte anstreben, ganz klar, aber auch ein Innehalten oder ein Ruhepunkt innerhalb der Geschichte kann eine nachfolgende Szene an Spannung bereichern. Ruhe für den Protagonisten bedeutet Sicherheit für den Zuschauer. Und man kann Sicherheit erst zerstören, wenn man sie vorher etabliert hat.

 

 

Im Grunde ändert sich dramaturgisch nicht wirklich essentielles, wenn man die wenigen Filme betrachtet, die noch unkonventioneller mit Zeit umgehen. MEMENTO, FÜNF MAL ZWEI oder IRREVERSIBLE erzählen die Story rückwärts, szenisch allerdings ebenfalls nach vorn, ob in Echtzeit oder Raffung der Ereignisse. Filme wie MEMENTO laufen eben nicht rückwärts, sondern werden rückwärts erzählt. So ist streng genommen IRREVERSIBLE auch kein Echtzeitfilm, wenn man die Szenen chronologisch ordnet. Es ist die Geschichte einer Nacht, nur eben vom Ende zum Anfang erzählt. INCEPTION hingegen erzählt zwar eine Story in 4 verschiedenen Traumebenen, die aber auch Zeitebenen und gekonnt miteinander verknüpft sind. Die Auswirkungen der verschiedenen Ebenen aufeinander wurden in einem Fanvideo in Zeitraffer und per Split Screen ziemlich cool visualisiert.

 

 

 

 

Der Faktor Zeit bedarf der gleichen Aufmerksamkeit wie Figuren, Plot und Story. Sie sind voneinander abhängig, mal stärker, mal weniger stark. Ich lese viele Drehbücher, die zeitlich sehr unstrukturiert erscheinen. Dabei ist Zeit kein schwieriges Element. Jahr, Monat, Woche, Nacht, 96 HOURS, das ist streng genommen egal, diese Gegebenheiten zu strukturieren, einen Fluss und Rhythmus zu finden, ist die dramaturgische Kunst. Ich habe einmal zwei schöne Begriffe gelesen, Zeit-Großaufnahmen und Zeit-Totalen.

 

So finde ich Betrachtung von Zeit im filmischen Kontext sehr treffend. Sie machen Zeitaspekte zu greifbaren Werkzeugen der Dramaturgie. Betrachtet ein Drehbuch weniger artifiziell, es ist ein Arbeitswerkzeug. Vermesst es, skizziert, zersägt es in gleiche Teile, stückelt 90 Minuten in Euren Zeitkontext. Macht Zeit, die vergeht, sichtbar. Es bereichert die Geschichte nicht nur, es macht sie erst nachvollziehbar, kompakt, letzten Endes spannend. Die Zeit ist wie ein Ball, vielseitig einsetzbar, dehnbar, stauchbar, der Ball kann rollen oder mit straffem Fuß geschossen werden. Und sollte nach Möglichkeit niemals zum Stillstand kommen.

 

 

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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.

 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

 

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6 Comments

  1. Antworten

    […] der Zeit im dramaturgischen Kontext beschäftigen. Das haben wir bereits einmal getan, nämlich in Script Development II: Clock Is Ticking Fast, doch ging es da um erzählte Zeit innerhalb der Geschichte. Zeitliche Aspekte sind beim Film aber […]

  2. Antworten

    […] Beitrag erschien bereits auf Christians Blog:Traumfalter Filmwerkstatt. Schaut doch mal […]

  3. Antworten

    […] definieren sich stärker aus dramaturgischen Aspekten und Fragen der Interpretation. Die Themen (Echt)zeit oder Figurenensembles sind solche Beispiele und auch in dieser Folge der kleinen Genrefibel […]

  4. Antworten

    […] kann eine Geschichte resultieren. Was dabei auch resultiert, sind andere Figuren, Schauplatz und zeitliche Aspekte. Hat man einen solchen Kern, geht vieles leichter von der Hand als in einer Geschichte um einen […]

  5. Antworten

    […] Überlegungen die Begriffe Ort und Zeit. Doch an Ort und Zeit muss explizit denken, vor allem an die zeitliche Ebene eines Films. Doch eigentlich ist die örtliche Ebene die […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de