Die kleine Genrefibel Teil 79: Film im Film
Willkommen zurück zur Kleinen Genrefibel, liebe Filmfreunde und Filmfreundinnen. Was haben wir nicht schon alles beackert im Zuge unserer Feldforschung, von großen Themenkomplexen bis hin zu winzigsten Subgenres, in filmischem Realismus oder purer Fiktion? Nur eins blieb stets gleich, die Flucht, die Illusion, die das Medium eigentlich verbergen sollte. Ein Film ist immer dann am besten, wenn er nicht verrät, was er ist, wenn er die Illusion eines Blickes in Träume und Sehnsüchte bewahrt. Doch damit ist jetzt Schluss. Denn neben allen möglichen Motiven hat auch der Film selbst den Film geprägt. Unser Thema heute heißt Film im Film, doch dahinter verbirgt sich mehr als nur eine metaphysische Matrjoschka, die Fiktion in der Fiktion oder Selbstbeweihräucherung.
Was ist Film im Film? Es klingt einfach, aber ganz so leicht fällt eine treffende Umschreibung nicht. In der Fiktion nennt man jene Ausprägung auch Reflexives Kino, das bedeutet, ein Film beschäftigt sich in gewisser Weise mit sich selbst. Im Großteil macht er das in zweierlei Ausprägungen, entweder er behandelt den Film oder das Kino als Kulturgut, seine Geschichte oder popkulturelle Wirkung insgesamt, oder er beschäftigt sich mit der Art und Weise des Filmemachens. Film aber ist immer auch ein Container, ein Medium, und verlässt man den Pfad der Fiktion, können auch dokumentarische Filme reflexiv sein. Bevor wir uns mit inszenierter filmischer Reflexivität beschäftigen, schauen wir mal, wo das Interesse eigentlich herkommt, hinter das Medium zu blicken.
The Making Of…
Film ist eine Geschichte von Liebe und Hass. Für viele sind Filme reine Unterhaltungsware, Cineasten verteidigen ihr Subjekt der Begierde aber gern gegenüber Andersdenkenden und verfallen in Extreme. Es gibt Filme, die werden geliebt und andere werden verdammt. Film bedeutet immer auch Gruppenkoller. So gibt es Filmfans, denen die Illusion heilig ist. Sie lieben vor allem den Fluchtgedanken, die Geschichte, möchten sich in ihr verlieren, der Realität entfliehen. Andere wiederum wollen hinter diese Magie blicken. Der inszenierte, reflexive Film kann diesen Drang nur bedingt erfüllen, zum einen, weil jenes Subgenre im Vergleich zu anderen recht klein ist, vor allem aber, weil es eben auch wieder inszeniert ist. Der wahre Blick hinter die Kulissen oder die Materie scheint also nur im nichtfiktionalen, dokumentarischen Bereich möglich zu sein. Eine Form davon ist das sogenannte Making Of.
Ein Making Of ist ein klarer Fall von einem Film im Film, besser gesagt, ein Film über das Entstehen eines Films. Making Of’s sind natürlich kein Subgenre, aber sie besitzen wie andere Filmgattungen auch Formen und Inhalte, der Film als Container, der Blick hinter die Kulissen als Inhalt. Making Of heißt wörtlich “die Herstellung von” und bezieht sich dann auf das jeweilige Filmprodukt, Synonyme dafür sind auch behind the scenes oder die Featurette, in Anlehnung an den Feature Film. Der kleine Film also, der über den Großen fabuliert. Doch ein Making Of kann zweierlei Ausprägungen haben, es ist entweder dokumentarisch oder rein werblich.
Heute sind Making Of’s vor allem als kostenlose Dreingabe zu einem käuflich erworbenen Filmprodukt bekannt, zum Beispiel in Form von Bonusmaterial auf einer DVD, Blu-ray und UHD, oder aber als frei verfügbares Marketingmaterial für soziale Netzwerke und Videoplattformen. Das Making Of beschäftigt sich mit der Herstellung eines Films, von der Vorproduktionsphase über die Dreharbeiten bis zur Postproduktion. Egal ob werblich oder dokumentarisch, auch Making Of’s haben eine Dramaturgie und eine Vielzahl von Funktionen. Werbliche Making Of’s bieten dem Kunden einen geführten Blick hinter die Kulissen, Interviews mit den Machern und Stars, Eindrücke der Dreharbeiten, Stuntszenen, die Erklärung von Special Effects, möglichst keine Spoiler, aber eben auch keine kritischen Betrachtungswinkel. Sie sollen natürlich vor allem ein Interesse am Produkt generieren.
Als Dreingabe zu einem Datenträger hat man das Produkt bereits und jene Making Of’s sind demzufolge dramaturgisch retrospektiv erzählt. Einige davon sind überaus aufwändig und können mehrere Stunden lang sein wie das Making Of Material zur LORD OF THE RINGS Trilogie. Doch im Social Media Zeitalter sind sogenannte simultane Making Of’s für die Werbewirksamkeit weit bedeutender. Auch hier hat Peter Jackson zu seiner HOBBIT Trilogie mit Drehtagebüchern und Videoblogs Pionierarbeit geleistet. Egal welche Form ein Making Of annimmt, eins ist es in jedem Fall immer und zwar illusionsverändernd, im positiven wie negativem Sinne.
Making Of’s können die Illusion verstärken, in dem sie auf historische Begebenheiten Bezug nehmen, die Recherche offenlegen, Fakten präsentieren. All das kann die filmische Illusion stützen oder vertiefen. Sie können diese aber auch zerstören, durch die Entzauberung von Filmtricks, das Aufdecken von Filmfehlern oder die berühmten Outtakes oder Blopper, also Versprecher oder missratenen Filmszenen beim Dreh. Eins sind Making Of’s immer, sie sind Immersionsverstärker, sie generieren Verbundenheit mit dem Filmprodukt und werden nicht selten als Nerdware bezeichnet. Sie sind ebenso wie Spielfilme dramaturgisch skizziert, manche haben einen Erzähler, sie zeichnen eine Filmproduktion als Weg und Ziel und schildern Probleme und deren Lösungen.
Dokumente des Chaos
Vor allem dokumentarische Making Of’s werden wie die dazugehörigen Filme geplant, produziert und besetzt und sind alles andere als ein Abfallprodukt der Dreharbeiten oder der Produktion. Eines der ersten Making Of’s war HOW MOTION PICTURES ARE MADE AND SHOWN aus dem Jahr 1912 vom Filmstudio Edinson. Es zeigte nicht den Herstellungsprozess eines bestimmten Films, sondern die damalige technische Neuerung an sich. Ab den 30er Jahren wurden dann zu fast jedem großen Kinofilm Making Of’s produziert. Der Hauptgrund war vor allem Imagepflege für den Film, der nicht den besten Ruf als Unterhaltungsmedium innehatte.
Professionalisiert wurde das Making Of dann in den 40er Jahren von Filmlegende Walt Disney mit dem ersten Langfilm Making Of THE RELUCTANT DRAGON – BEHIND THE SCENES AT WALT DISNEY STUDIO (1941) mit einer Länge von 74 Minuten, einer der ersten plotbasierenden Dokumentationen über Filme überhaupt. In den 50er Jahren wurde Walt Disney selbst zum Moderator diverser Making Of`s, die Dokumentation OPERATION UNDERSEA über die Dreharbeiten zu 20.000 LEAGUES UNDER THE SEA brachte es 1954 sogar zu einem Emmy Award. Das Making Of geriet so aus der Werbeecke in Richtung eigenständiges Filmwerk. Auch Alfred Hitchcock war mit der Promotion zu PSYCHO (1960) seiner Zeit voraus, in der er im Trailer selbst Hintergrundinfos über seinen Film streute.
Das Fernsehen und neue Medien wie Video veränderten dann die Einsetzung, weniger die Machart des Making Of’s. Doch es gibt Fälle, da geht ein Making Of über den Marketingfaktor hinaus und wird zu einem Zeitdokument ganz anderer Art. In diesen Fällen kann man eventuell von einer Subsparte des Dokumentarfilms sprechen. Es handelt sich um dokumentarische Spielfilme, die sich nicht nur informativ, sondern auch selbstkritisch mit einer jeweiligen Filmproduktion auseinandersetzen.
Solche Filme werden für gewöhnlich oft Jahre oder Jahrzehnte nach dem jeweiligen Film produziert. Was sie gemein haben, ist eine weitaus stärkere Dramaturgie, in ihnen werden ähnliche Spannungsbögen wie im Spielfilm aufgebaut und thematisieren nicht nur den Ablauf einer Filmproduktion. Sie fokussieren vor allem unterschiedliche Stufen filmischen Wahnsinns.
Gecancelt, Abgebrochen, Gerade so Überlebt
Eine erste Stufe ist jene, in der ein Film nicht über die Vorproduktion hinauskommt. Einen solchen nicht unüblichen Fall schildert der Dokumentarfilm JODOROWSKYS DUNE aus dem Jahr 2013 über das Vorhaben des Regisseurs Alejandro Jodorowsky (EL TOPO, DER HEILIGE BERG), im Jahr 1975 Frank Herberts Roman “Dune – Der Wüstenplanet” zu verfilmen. Äußerlich sind es natürlich die gigantomanischen Bestrebungen Jodorowskys, einen schier unglaublichen Film zu kreieren, ein Zusammenschluss von Kreativen und Künstlern, wie man ihn seinerzeit und auch später nie zu Gesicht bekam. Besetzt mit Mick Jagger, Orson Welles, David Carradine und Salvadore Dali, Storyboards von Jean “Moebius” Giraud, Sets und Ausstattung von H.R.Giger und Dan O´Bannon, die Musik von Pink Floyd – doch kein Studio wollte DUNE in dieser Form produzieren. Ein Film also über einen Film, den es nie gab?
Fast 40 Jahre später erschien mit JODOROYSKY’S DUNE ein 90-minütiger Dokumentarspielfilm über jenes Vorhaben und er erzeugt vor allem bei Filmfreaks eine Sehnsucht nach einem alternativen Universum, in der es Jodorowsky’s Version auf die große Leinwand schafft und nicht die 1980 produzierte Auftragsarbeit von David Lynch. Die Dokumentation ist auch in der Hinsicht erhellend, weil sie so stark retrospektiv produziert wurde und unter anderem Stimmen viel jüngerer Regisseure wie Nicolas Winding Refn zu Wort kommen, welche den nicht existierenden Film nachträglich in die Filmgeschichte einordnen. So wäre es möglich gewesen, dass DUNE und nicht STAR WARS ein neues Kapitel in der Geschichte Hollywoods eingeläutet hätte. Somit geht JODOROWSKY’S DUNE weit über eine bloße Dokumentation damaliger Filmbemühungen hinaus und wird selbst zur Popkultur.
Eine weitere Stufe filmisch-dokumentierten Wahnsinns – der Film überlebt die Dreharbeiten nicht. So ist das Einzige, was von Terry Gilliams Herzensprojekt THE MAN WHO KILLED DON QUIXOTE übrig blieb, der Dokumentarspielfilm LOST IN LA MANCHA aus dem Jahr 2002. Anders als JODOROWSKY’S DUNE enthält er retrospektive und simultane Elemente, Regisseur Terry Gilliam fungiert als Erzähler, taucht aber auch in Aufnahmen vom damaligen Set auf, kommentiert so das Chaos um Sandstürme, erkrankte Darsteller und Reißaus nehmende Finanziers auf zwei Zeitebenen. Dazu ist die Doku stilistisch an die Werke Gilliams angelehnt, durch animierte Storyboardzeichnungen im Monty Python Stil und einer bittersüßen-ironischen Tonalität. Als ob das noch nicht alles schräg genug wäre, reflektiert zudem der 2017 dann doch noch produzierte Spielfilm THE MAN WHO KILLED DON QUIXOTE das damalige Filmvorhaben und die Dokumentation als wahres Metaebenenmonster.
Stufe 3 – den Film gibt es nur unter widrigsten Umständen. Zu jener Kategorie gehören wohl die meisten Film-im-Film-Dokus, allen voran HEARTS OF DARKNESS aus dem Jahr 1992 über die Dreharbeiten zu APOCALYPSE NOW (1976) von Francis Ford Coppola von. Die damals 200-tägige Alptraumproduktion wurde aus dokumentarischen Aufnahmen und Interviews sowohl retrospektiv als auch simultan zusammengesetzt und ist womöglich das erschreckendste Dokument des Wahnsinns überhaupt. Als Making Of ist HEARTS OF DARKNESS wohl eher eine Antithese, definitiv jedenfalls kein Werbefilm. Sie beleuchtet vor allem die Schattenseiten des Filmemachens, exzessiver Drogenmissbrauch am Set, wahrhaftige Kriegsstimmung und kompletter Irrsinn.
Ähnliches ist auch in BURDEN OF DREAMS über die Dreharbeiten zu FITZCARRALDO von Werner Herzog zu sehen, obgleich die Dokumentation eher den Kampf gegen die Naturgewalten Dschungel und Klaus Kinski darstellt. Was alle diese Spielfilmdokus gemein haben ist der Umstand, das ihr Schaffensprozess mindestens eine so spannende Geschichte wie der Film selbst erzählt, wenn nicht sogar eine spannendere. Aus diesem Grund kristallisierten sich jene Form von Dokumentationen über Filmvorhaben zu einer von Filmfreaks geliebten Nische heraus, weil sie inhaltlich absolute Extreme aufzeigten. Der Ottonormalzuschauer war daran nur bedingt interessiert. Was ihn neugierig machte, war der magische Blick hinter die Kulissen einer Traumfabrik, gern auch derer Schattenseiten und jene Sehnsucht fand man im fiktionalen reflexivem Kino, welches seit den Kindertagen des Films existierte.
A Star Is Born
Spielfilme, die das Schaugeschäft und das Filmbusiness thematisierten, gab es bereits seit der Stummfilmzeit, Themen und Plots aber variierten, auch die Tonalitäten waren sehr verschieden. Einer der ersten Filme filmischer Selbstreflektion war SHERLOCK JR. mit Stummfilmstar Buster Keaton aus dem Jahr 1924. Während seiner Arbeit als Filmvorführer schläft Filmfigur Buster ein, gerät so in den vorgeführten Film über einen Meisterdetektiv und wird selbst zum Filmhelden Sherlock Jr..
Die Überwindung der Grenzlinie Realität und Fiktion war eines der ersten Themen reflexiven Kinos. Nicht umsonst nannte man das junge Hollywood auch Traumfabrik. Vor dem Wunsch, ein Leben wie ein Filmstar zu führen, stand der Wunsch, ein Kinoheld zu sein. Buster Keatons Film war darüber hinaus ein wunderbares Essay über das Wesen und die Wirkung des Films und der Geschichten in bewegten Bildern, zugleich einer der ersten Metafilme, die eine Geschichte innerhalb einer Geschichte erzählten.
SHERLOCK JR. ist ein Klassiker, aber ein seltenes Beispiel für reflexives Kino, welches Film und Filminhalt selbst thematisierte. KING KONG aus dem Jahr 1933 hingegen wand sich bereits zwei anderen reflexiven Säulen zu, das Stargeschäft und das Filmemachen. In KING KONG will der abgehalfterte Regisseur Carl Denham einen Abenteuerfilm auf einer verborgenen Insel drehen. Dafür engagiert er die noch unbekannte Schauspielerin Ann Darrow. Obgleich KING KONG zu Recht als wegweisender Horror- und Fantasyfilm bekannt wurde, verdichtete er auch Elemente des reflexiven Kinos.
Der am meisten verfilmte Plot in den 30er und 40er Jahren war das Konstrukt “Aufsteigender und fallender Stern”. Die Blaupause dafür lieferte der 1932 erschienene Film WHAT PRICE HOLLYWOOD von George Cukor. Eine junge Kellnerin will Schauspielerin werden, trifft auf einen berühmten, aber mittlerweile abgehalfterten und alkoholsüchtigen Regisseur und wird durch ihn zum Star. Doch die Schattenseiten des hartumkämpften Filmgeschäftes lassen den funkelnden Stern recht bald wieder vergehen.
Es waren die zwei Seiten der Medaille, der Ruhm, der Glamour und der Traum auf der einen, der Erfolgs- wie Konkurrenzdruck und seine psychologischen Folgen auf der anderen Seite. Die Thematisierung von Erfolg, Misserfolg und Absturz wurden früh im Film implementiert, obgleich das Filmgeschäft seinerzeit genau deswegen einen zweifelhaften Ruf hatte. Die Schattenseiten des Business wie Manipulation, Machtmissbrauch und Alkoholismus, das alles hatte damals bereits durchaus reale Bezüge.
1937 erschient der Film A STAR IS BORN, der lose auf WHAT PRICE HOLLYWOOD basierte und machte die Doppeldeutigkeit reflexiven Kinos noch sichtbarer. Der Plot um einen aufgehenden Filmstar, gefördert von einem alten Schauspielhasen, der tiefe Fall, das war weniger ersponnen oder ausgedacht, sondern durchaus real. Welche Wirkung hatte das auf das Publikum? Man sah im Kino den Aufstieg und Fall eines Stars, wiederum gespielt von einem Star. Und was dachten sich wohl die Produzenten, die einen klassischen Hollywoodfilm produzierten, der genau jenes Business satirisch überspitzt hinterfragte und moralisch in Frage stellte?
A STAR IS BORN fiel auch in eine Wendezeit des Films, den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. Besonders die damaligen Stummfilmstars hatten Probleme, im neuen Tonfilm Fuß zu fassen, wodurch etliche Karrieren schlagartig endeten. Die ersten reflexiven Filme waren auf Stars und ihren Kampf um Ruhm abonniert, die vom Moloch Hollywood verschlungen wurden. Nach einer weiteren Verfilmung von A STAR IS BORN aus dem Jahr 1954 wurde dieses Konzept auch für die Musikindustrie adaptiert, die folgenden Remakes aus dem Jahr 1976 mit Barabara Streisand und 2018 mit Lady Gaga funktionierten in gleicher Weise.
Das Klagen des Künstlers
In den 50er Jahren war Hollywood auf dem Gipfel seiner Produktivität und es wurde schwieriger, reflexive Filme über das Business zu drehen. Billy Wilder entwickelte mit SUNSET BOULEVARD eine satirische Abrechnung mit dem System, ließ die Produzenten aber lange im Dunkeln, um was es sich in seinem Film wirklich handelte. Hinzu kamen Restriktionen des Production Codes von Will H. Hays, der sich ganz der Moral verschrieben hatte und Szenen um Ausschweifungen und Exzesse erschwerte. Dennoch gelang Billy Wilder mit SUNSET BOULEVARD in jener Zeit ein herausragender Film über das gefräßige System Hollywood.
Produzenten waren in einer schwierigen Lage. Regisseure, die mit ihrem Geld Filme drehten, welche das System kritisch dezent hinterfragten oder gar bitter mit ihnen abrechneten, wurden als Nestbeschmutzer angesehen. Gleichzeitig waren solche Filme aber überaus profitabel und Zuschauermagneten, die hinter die Fassade blicken wollten. SUNSET BOULEVARD war in jener Zeit eher die Ausnahme. Der 1952 erschienene Film SINGING IN THE RAIN verzichtete auf eine kritische Betrachtung und wurde wieder zu einer Reminiszenz an die glorreiche Hollywoodgeschichte.
Filme wie NICKELODEON (1976) von Peter Bogdanovic oder die italienische Produktion CINEMA PARADISO führten diese positive Reminiszenz fort und scheuten eher die kritische Auseinandersetzung. Von CINEMA PARADISO abgesehen hatte aber der europäische Film ganz andere Wünsche und Ziele und reflexives Kino aus Europa beschäftigte sich weniger mit der eigenen Filmproduktion als in einer Abrechnung mit Hollywoods schändlicher Kunstverachtung und Kommerzialisierung.
Das Paradebeispiel dafür ist der Film DIE VERACHTUNG von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1963, in dem Godard seine Verachtung über die Kommerzialisierung des US-amerikanischen Kinos zum Ausdruck brachte. Darin soll ein französischer Autor für einen Produzenten, gespielt von Jack Palance als verabscheuungswürdiges Abbild eines US-Produzenten, Fritz Langs Film über die Irrfahrten des Odysseus umschreiben. Neben der zynischen Kritik am Business, aber auch der Liebe zum Film, ist DIE VERACHTUNG zudem ein wunderbares Beispiel für die Metaebenen im reflexiven Kino, so spielt sich Regisseur Fritz Lang darin gleich selbst.
Das europäische Kino wandte sich insgesamt aber weniger der Kritik am Filmsystem zu als einem Loblied auf das Filmemachen selbst. Eine weitere Säule des reflexiven Kinos, die Beschäftigung mit dem Prozess des Filmemachens, geht hauptsächlich auf die europäischen Filme ACHTEINHALB von Federico Fellini und DIE AMERIKANISCHE NACHT von François Truffaut zurück. Im Gegensatz zu US-amerikanischen Produktionen, in denen das Subgenre auf dem Backstage Musical basierte, gingen europäische Filmemacher eher auf die Psychologie der Filmschaffenden und ihr Werk ein.
So kann man den Plot von ACHTEINHALB auch gut als die Krisen des Regisseurs betiteln. Ein ähnliches Konzept verfolgte Woody Allen mit STARDUST MEMORIES, der das Klagen des Künstlers thematisierte. Aber noch etwas veränderte sich ab den 70er Jahren, denn das Kino war nun ebenfalls Teil einer langen Geschichte und der Popkultur. Somit wurden reflexive Filme auch immer mehr Container für Selbstzitate und Insidergags. Um reflexives Kino wirklich entschlüsseln und verstehen zu können, bedurfte es diversen Wissens über das Wesen des Films und der Filmproduktion.
“Roll that motherf***ing camera, Wolfie!”
Als Ende der 70er der Hollywoodfilm von jungen Regisseuren neu konzipiert wurde und die Ära der Blockbuster begann, änderte sich das Business und damit auch das reflexive Kino. Es ging um noch mehr Geld und noch mehr Macht, dementsprechend wurden reflexive Filme immer sarkastischer und zynischer. Das Subgenre wandelte sich deshalb nicht grundsätzlich, die tragenden Säulen blieben, aber es reichte nicht mehr der banale Plot vom Aufstieg und Fall eines Stars, die Geschichten wurden ambivalenter. Reflexives Kino wurde Anfang der 90er Jahre geradezu rabenschwarz.
BARTON FINK von den Coen Brothers erzählt die bittere Geschichte eines Drehbuchautors, der vom Druck der Produktion völlig erschlagen wird. In GET SHORTY wird das Filmgeschäft mit der Mafia gleichgesetzt, in Robert Altmans THE PLAYER wird Hollywood regelrecht verspottet. Stars rissen sich um Rollen im Anti-Hollywood-Kino. Reflexives Kino wurde nicht nur bissiger, sondern auch schwieriger zu entschlüsseln. Das brachte das Subgenre eher in eine Nische für echte Filmfreaks und Insider.
Doch nicht alles war ausschließlich zynisch und böse. Man feierte auch die Leidenschaft für das Filmemachen. So setzte Tim Burton den als schlechtesten Regisseur aller Zeiten bezeichneten Ed Wood jr ein filmisches Denkmal und änderte auch seine tragische (Miss)Erfolgsgeschichte. Der dramaturgische Motor für ED WOOD war der unbedingte Wille, seinen Traum zu leben. Davon waren in den 90er Jahren, Dank des Mediums Video, auch junge Regisseure besessen und die Chancen standen wohl nie besser.
In LIVING IN OBLIVION geht es nicht um eine große Hollywoodproduktion, sondern um einen kleinen Low Budget Film, welcher ganz andere Schwierigkeiten und Herausforderungen mit sich brachte. Im Grunde genommen vereint kein reflexiver Film alle Säulen des Genres so gut wie LIVING IN OBLIVION, das Klagen des Künstlers, die Krisen des Regisseurs, die Träume eines No Names und das Chaos der Produktion selbst. LIVING IN OBLIVION scheut zwar die Themen Machtmissbrauch und völliger Absturz, doch fängt kaum ein Film den Mikrokosmos des Filmemachens so gut ein.
Ab den 2000er Jahren fand der reflexive Film fast ausschließlich in die schillernde Retrospektive zurück. Inzwischen war das Medium 100 Jahre alt und man ehrte die große Glanzzeit Hollywoods mit prächtigen Produktionen wie KING KONG, HUGO, AVIATOR oder den mit fünf Oscars ausgezeichneten Stummfilm THE ARTIST.
Die Stimmung hatte sich indes gewandelt. Statt wie in den 30er oder 50er Jahren Hollywood als Traumfabrik und Ort der Sehnsucht abzubilden, trotz aller Schattenseiten, reflektierte man nun Filme wie THE ARTIST weitaus differenzierter und der Vorwurf der Selbstbeweihräucherung wurde laut. Es war die Zeit der großen Remakes, die Zeit der großen Franchises stand noch bevor, reflexives Kino wurde daher kritischer beäugt. Reflexivität wurde oft mit Selbstverliebtheit gleichgesetzt. Was nicht immer richtig war.
KING KONG aus dem Jahr 2005 hatte eine andere Wirkung als KING KONG 1933, bezogen auf die Film-im-Film-Darstellung. Was damals modernste Technik darstellte, wurde nun als nostalgisch verklärt wahrgenommen. Auch übersahen viele die “Untertöne” in THE ARTIST, der das Leid der Stummfilmstars am Wendepunkt zum Tonfilm thematisierte – weil THE ARTIST pompös inszeniert war und auch noch OSCARS bekam. “Hollywood feiert sich selbst” – oft wurde reflexives Kino dahingehend missverstanden.
Doch nicht alle reflexiven Filme ab 2000 waren Huldigungen an vergangene Zeiten. So wurde versucht, den reflexiven Film über die Metaebenen zu erweitern. So entstanden ganz clevere Film-im-Film-Interpretationen wie ADAPTATION von Spike Jonze, der Bezug nahm auf seinen vorherigen Film BEING JOHN MALKOVICH. Es ist die Geschichte von Drehbuchautor Charlie Kaufman, welcher auch der reale Autor von ADAPTATION ist. Der echte Charlie Kaufman erhielt einst den Auftrag, aus dem Buch The Orchid Thief ein Drehbuch zu erstellen, erleidet aber eine Schreibblockade. Also schrieb Kaufman ein Drehbuch über einen Drehbuchautor namens Charlie Kaufman, der ein Drehbuch zum Roman The Orchid Thief schreiben soll, bevor er eine Schreibblockade erleidet.
Metaebenen wurden zum neuen Gral für das reflexive Kino. Klassische Filme dieser Machart gab es zwar auch weiterhin, darunter Filme wie HITCHCOCK oder MY WEEK WITH MARILYN, die klassische Hollywoodgeschichte und Persönlichkeiten spiegelten, aber das Spiel mit Film, Filmrealität und Realität war eine wahre kreative Goldgrube. Sie funktionierte in allerlei Genres. Wes Craven inszenierte den siebten Teil der Reihe A NIGHTMARE ON ELM STREET als Film-im-Film, ganz ähnlich verkehrte er mit SCREAM 3, in dem ein Filmteam die Ereignisse der Vorgänger verfilmen will. In SHADOW OF THE VAMPIRE hingegen stellt sich beim realen Dreh des Films NOSFERATU von F.W. Murnau heraus, dass es sich bei Schauspieler Max Schreck um einen echten Vampir handelt.
Noch verrückter wurde es in BIRDMAN, der zwar die Produktion eines Theaterstückes thematisiert, mit Michael Keaton aber eine Hautfigur besetzte, der dereinst als Superheld Birdman im Kino große Erfolge feierte. Ironischerweise spielte Michael Keaton zuvor wirklich einen Superhelden und zwar Batman in den beiden Tim Burton Verfilmungen. In TROPIC THUNDER wiederum entsteht ein Film ganz nach dem Muster von APOCALYPSE NOW oder besser, wie er in der Dokumentation HEART OF DARKNESS skizziert wurde.
Burn Hollywood Burn
Es mag der Materie an sich verschuldet sein, dass reflexives Kino diese überaus kreativen Wege in den letzten Jahren ging, den die Geschichte um Aufstieg und Fall des Künstlers im Film schien auserzählt. Selbst neue kritische Abrechnungen mit dem System wie in INSIDE HOLLYWOOD von Barry Levinson aus dem Jahr 2008 erzählten praktisch nichts Neues. Was aber immer noch zog, war der große Traum von Filmemachen, der unbedingte Wille, einen Film zu machen, blieb als dramaturgisches Zugseil erfolgreich.
In BE KIND, REWIND werden die Videokassetten einer kleinen Videothek komplett gelöscht, was die Betreiber dazu zwingt, die Filme selbst nachzudrehen, darunter GHOSTBUSTERS, RUSH HOUR 2 oder DER KÖNIG DER LÖWEN. Das Ergebnis ist mehr als dilettantisch, aber von großen Erfolg geprägt, die Kunden lieben die Filme, weil in den Neufassungen mehr Herzblut zu stecken scheint als in den Originalen.
Dass Misserfolg oder mangelndes Talent kein Hindernisgrund für Beliebtheit darstellte, bewies nach ED WOOD auch die Rekonstruktion der Dreharbeiten zu THE ROOM von Tommy Wiseau, nachgestellt im Film THE DISASTER ARTIST von James Franco. Gleichzeitig atmen diese Filme aber auch das große Hollywoodgefühl vom talentlosen Außenseiter, der es trotz aller Umstände zu Berühmtheit brachte. In diesem Blickwinkel ist auch THE DISASTER ARTIST ein großer Hollywoodfilm.
So wie sich die Branche verändert, so verändern sich auch reflexive Filme. Dabei wird es immer auch Retrospektiven geben, die an glorreiche, güldene Zeiten erinnern. Einen Fehler aber darf man nicht machen, trotz aller satirischer Elemente, dem Zynismus, der Anklage gegen die Filmindustrie und des Stargeschäftes, reflexives Kino ist zweifelsohne auch Fiktion. Jeder, der einmal einer Filmproduktion oder Dreharbeiten beigewohnt hat weiß, dass die Elemente zwar durchaus korrekt sein können, aber nicht die zugespitzte Dramaturgie. Aber das ist in anderen Themengebieten oder Subgenres nicht anders.
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Es wird spannend sein, wie sich reflexives Kino weiterentwickeln wird, in Zeiten der MeToo Debatte, in Zeiten des großen Kinosterbens, der Digitalisierung, der Pay-TV Konkurrenz und der neuen Plattformen, über die Stars heute gemacht werden. Man sollte auch nicht so argwöhnisch sein und glauben, Hollywood schreibt nur seine eigene Geschichte, es sind immer Menschen, die Filme machen und eigene Sichtweisen über das Filmbusiness spiegeln. Ob man alles glauben darf, im Positiven wie im Negativen, sei dahingestellt. Aber Film bleibt eine Projektionsfläche für eine ganz bestimmte Art von Traum. Reflexives Kino widerspricht dem nicht, auch wenn es sich selbstkritisch damit auseinandersetzt.
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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.
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