Die kleine Genrefibel Teil 46: School’s Out

Die kleine Genrefibel meldet sich pünktlich vor den Sommerferien zurück. Wo war sie denn so lang? Hat sie etwa geschwänzt? Mitnichten, eine elterliche Entschuldigung wegen Husten und Schnupfen liegt vor. Aber auch Gewissensbisse und Zweifel nährten den Autor. Während das ganze Land über den Stand des deutschen Genrefilms diskutiert, fühlt sich eine Genrefibel über High School Komödien wie Verrat an. Doch ist das nicht die ganze Wahrheit. Denn wenn es ein Subgenre in Deutschland gibt, was sich kulturell wie wirtschaftlich behaupten kann, dann ist es der Schulfilm. Ein Raunen geht durch die Bankreihen, er hat Genre, Deutschland und Wirtschaftlichkeit in einem Satz gesagt! Ja, hat er, und nun bitte Ruhe, sonst Hefte raus, Klassenarbeit!

 

 

 

 

Wie wir mittlerweile seit 45 Folgen Kleine Genrefibel wissen, können sich Genres und Subgenres aus verschiedenen Aspekten formieren. Die können dramaturgischer Natur sein oder sich auf Figuren und Themen beziehen. Der Oberbegriff der heutigen Folge ist das Thema Schule. Jeder kennt sie, so hoffe ich, und jeder war zumindest ein paar Jährchen in einer solchen integriert auf dem steinigen Weg ins Erwachsenenalter. Die Schule ist eine eherne Institution, lernen und lehren gehört zur Evolution des Menschen wie Marmelade auf´s Croissant.

 

Betragen Ungenügend

 

Wie aber wird aus einem Themenkomplex ein Genre? Unter dem Schlagwort “Schule” vereinen sich eine ganze Reihe Filmsparten, die sich in Nationalität, Aktualität und Tonalität gehörig unterscheiden können, die aber auch über viele gemeinsame Merkmale verfügen. Wir reden heute über Schulfilme, über Schüler, Lehrer, Lümmel, Pauker, Pennäler, High School Dramen und Komödien, über nostalgische Zotenreißer und gesellschaftspolitische Brennpunkteanalysen.

 

Konfrontationsszenario Klassenzimmer: DETACHMENT (2011)

Schule im Film ist ein relativ großer Komplex. Man kann ihn in zwei Bereiche unterteilen. Stehen Schüler und ihr Weg durch die Adoleszenz im Mittelpunkt, definiert sich der Schulfilm als Ableger des Jugendfilms. Im Grunde ist dann fast jeder Schulfilm auch eine Coming-of-Age-Geschichte, aber eben nur fast. Denn nicht alle Schulfilme schildern Einzelschicksale. Schule ist immer auch ein Ort der Gemeinschaft und des Zusammenwürfelns von Individuen innerhalb von Klassen. Dem gegenüber gibt es aber auch Filme, die die Figur des Lehrers in den dramaturgischen Mittelpunkt stellen. Filme über Lehrer generieren zwar die gleichen Konflikte aus dem Thema und der Figurenkonstellation, sind aber meist weder Jugendfilm noch Coming-of-Age.

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Schulfilme definieren sich aus der Perspektive (Schüler oder Lehrer), aus der Tonalität (Drama oder Komödie), aus egomanen Zielen (Coming-of-Age) oder gemeinschaftlichen Aufgaben (Ensemble). Gleich bleibt in allen Subgenres der Ort des Geschehens – die Schule. Sie ist mehr als lediglich ein Gebäude. Das Schulhaus hat dramaturgische Funktionen, das Klassenzimmer, die Aula, der Schulhof, die Toiletten, der Schulflur, die Turnhalle, für den Schulfilm sind diese Locations von wichtiger Bedeutung.

 

Im Schulfilm stehen hauptsächlich Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt. Konflikte resultieren aus der Konfrontation untereinander oder mit der älteren Generation, seien es Oberstufler oder Lehrer. Die Schule steht für einen Mikrokosmos, den jeder kennt und jeder schon mal erlebt haben dürfte. Aus diesem Grund, so scheint es, ist der Schulfilm zeit- und ortsunabhängig erfolgreich. Denn entweder bietet er Gleichaltrigen eine Überlebensanleitung oder älteren Generationen eine nostalgische Reise zurück in die eigene Jugend. Schule ist etwas, was jedem vertraut ist und die Konflikte in Schulfilmen jeder Art, mögen sie auch zugespitzt sein, hat jeder schon mal am eigenen Leib erfahren.

 

Leidwesen Schüler: JONAS (2011)

Für die Figuren gibt es eine ganze Armada von persönlichen Problemen und Stolpersteinen, die es in der Schulzeit zu überwinden gilt. Das wären Freundschaften wie Feindschaften, die erste oder zweite Liebe, Klassenunterschiede, Unabhängigkeit, Leistung, das Finden der eigenen Persönlichkeit, meist begleitet von Unsicherheit und Wut, Aufbegehren gegen die ältere Generation und eherner Kampf um Lebensmaxime. Cliquenbildung, Autorität, soziale Verantwortung, die Schule wirkt für diese Findungsphase wie ein Katalysator.

 

Schule ist eine klassische Konfrontationssituation, der man im allgemeinen nicht entfliehen kann. Aus diesem Grund sind Schulfilme so überaus reizvoll, denn sie bieten eine Menge Konfliktpotential, aus denen Geschichten resultieren können. Neben den persönlichen Aspekten gibt es beim Schulfilm auch Merkmale, die erst in der Retrospektive ersichtlich werden, zum Beispiel Generations- und Rassenkonflikte, moralischer Wandel, Weltanschauung und politische Veränderungen.

 

Leidwesen Lehrer: HIGH SCHOOL HIGH (1996)

Zudem gibt es regionale Unterschiede, auch wenn diese die Dramaturgie nur bedingt ändern. So unterscheidet sich das deutsche bzw. europäische Schulsystem durchaus vom amerikanischen, nachvollziehbar sind die Probleme der Schüler aber sowohl in deutschen Paukerfilmen als auch in amerikanischen High School Komödien.

 

Wenn wir vom Genrefilm reden, scheint der Schulfilm irgendwie unpassend. Ich finde das allerdings nicht zutreffend, denn er teilt viele Merkmale, die vorrangig für den Genrefilm gelten. Die Figuren sind stereotypisiert, ihr Agieren stark zielorientiert. Es gibt viele Parallelen zur Heldenreise inklusive Weg und Ziel, Zweifel, Bestimmung, Mentor (Lehrer), örtlich wie zeitlich sind Schulfilme stark strukturiert (das Schulgebäude, Schuljahr, letzter Schultag). Obgleich eine definierte Personengruppe wie eine Schulklasse mit verschiedenen Persönlichkeiten noch nicht gleich eine Genrestruktur darstellt, ist dieses Konstrukt kompatibel mit anderen Genres wie den Horrorfilm, Science-Fiction oder Thriller.

 

 

Tornister & Füllfederhalter

 

Die Geschichte des Schulfilm begann in den dreißiger Jahren und zwar in Europa. Die ersten Filme über Schüler und Lehrer waren SKANDAL UM EVA (Deutschland 1930), BETRAGEN UNGENÜGEND (Frankreich 1932) sowie SO EIN FLEGEL (Deutschland 1934), das Original zum Remake DIE FEUERZANGENBOWLE (Deutschland 1944). In Hollywood hingegen wurde der Schulfilm erst ab den Fünfziger Jahren populär.

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Diese frühen Beispiel zeigen, wie sehr der Schulfilm bereits seiner Zeit voraus war. SKANDAL UM EVA und UNSER FRÄULEIN DOKTOR hatten weibliche, moderne Protagonisten, in BETRAGEN UNGENÜGEND wurde Anarchismus propagiert, SO EIN FLEGEL als auch auch DIE FEUERZANGENBOWLE waren in ihrer antiautoritären Art ungewöhnliche Filme, die im dritten Reich entstanden. Zumindest in Deutschland sollte der Schulfilm auch später nichts von seiner Unangepasstheit und Modernität verlieren, während er in Hollywood bereits in den 50er und 60er Jahren in billige Exploitation abglitt.

 

DIE FEUERZANGENBOWLE von 1944 stellt einen frühen Höhepunkt des Schulfilms dar. Er war auch in meiner Kindheit noch ein Gassenhauer, obgleich er eine völlig anderen Generation thematisierte. Aber die Streiche und Späße funktionierten unabhängig davon, genauso wie das Verständnis für Ungehorsamkeit und Strafe. Die Gebaren der Lehrer waren übertrieben (“Der gärende Alkohol beginnt zu faseln und so entsteht Heidelbeerfasel oder Heidelbeerfusel.”), aber sie kamen einem sehr bekannt vor. Das komödiantische Potential lag in der nostalgischen Erinnerung an die eigene Schulzeit.

 

Der Klassiker schlechthin: DIE FEUERZANGENBOWLE (1944)

So wurde auch das Grundgerüst des Films DIE FEUERZANGENBOWLE immer wieder für ein und den Selben Plot genutzt – das Wiedererleben der Schulzeit als Erwachsener. Denn vielen ging es ähnlich, wollten sie damals nur so schnell wie möglich raus aus der Schule, sehnte man sich später nach dieser Zeit zurück. Die Hauptfigur Dr. Johannes Pfeiffer aus DIE FEUERZANGENBOWLE verkleidet sich als Schüler, um die Schulzeit nachzuempfinden, von der seine Freunde immer so schwärmen. So funktionieren eine ganze Reihe von Filmen wie PEGGY SUE HAT GEHEIRATET oder UNGEKÜSST und werden als Back-to-School-Movies bezeichnet.

 

REBEL WITHOUT A CAUSE (…DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN, 1955)

BLACKBOARD JUNGLE (DIE SAAT DER GEWALT, 1955)

 

Die frühen Schulfilme waren fast alle ein nostalgischer Trip in die Schulzeit, gleichzeitig ein Trip in eine Vergangenheit, die nicht mit den Problemen der Gegenwart behaftet war. Entweder war man dort sorgenfreier, weil man der Jugend eher verzieh oder man sehnte sich nach alten Werten, die in der Gegenwart abhanden gekommen waren. Zeitgenössische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Fragen lagen eher im Subtext.

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Wegweisende amerikanische Schulfilme der 50er und 60er Jahre waren BLACKBOARD JUNGLE oder REBEL WITHOUT A CAUSE, die vorrangig Ideale thematisierten.Moderne High School Filme aus Hollywood entstanden erst Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, als sich das Subgenre der High School Komödie formierte. Zu jener Zeit war jenes Genre in Deutschland schon einen Schritt weiter, als ab 1967 ein eigenes bundesdeutsches Subgenre entstand.

 

 

Pepe, der Paukerschreck

 

Pepe und Marion Nietnagel (Hansi Kraus und Hannelore Elsner) aus der Filmreihe DIE LÜMMEL VON DER ERSTEN BANK

Durch DIE FEUERZANGENBOWLE und DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER (1954) nach Erich Kästner galt der Schulfilm in Deutschland als kommerziell erfolgreich. Diese auch als Pennälerfilme bekannten Werke waren weniger durch Klamauk als durch Ironie und Nostalgie gekennzeichnet.

 

1964 verfilmte Regisseur Helmut Käutner die berühmten LAUSBUBENGESCHICHTEN des bayrischen Schriftstellers Ludwig Thoma nach einem Drehbuch von Franz Seitz, unter dem Pseudonym Georg Laforet. Franz Seitz größter Erfolg war sicherlich das Drehbuch zum OSCAR-prämierten Film DIE BLECHTROMMEL 1980. Doch Seitz ist auch für das Subgenre des Pauker- oder Lümmelfilms zwischen 1968 und 1974 verantwortlich.

 

 

Nach dem Erfolg von LAUSBUBENGESCHICHTEN wollte Seitz eine ganze Filmreihe im Schulmilieu realisieren. So entstand 1967 unter dem Constantin Filmverleih der erste Teil der Reihe “Die Lümmel von der ersten Bank” namens ZUR HÖLLE MIT DEN PAUKERN, der 1968 in die bundesdeutschen Kinos kam.

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Der Star der Reihe war die Figur des Schülers Pepe Nietnagel, aber vor allem begeisterten Theo Lingen als Oberstudiendirektor Dr. Gottlieb Taft, Rudolf Schündler als Oberstudienrat Prof. Dr. Arthur Knörz und natürlich die heißen Feger Uschi Glas und Hannelore Elsner. Mindestens genauso populär wurde das Mommsengymnasium, die Streiche und Nietnagels Ausspruch: “Man fasst es nicht!”

 

Generationskonflikte in MORGEN FÄLLT DIE SCHULE AUS (1971)

Bereits vor dem ersten Lümmelfilm gab es deutsche Produktionen, die innerhalb der Schule spielten wie DER MUSTERKNABE oder UND SOWAS MUSS UM ACHT IN BETT mit Peter Alexander. Aber erst ZUR HÖLLE MIT DEN PAUKERN erreichte ein Millionenpublikum und bekam dafür bereits 1968 die Goldene Kamera. Was die Paukerfilme von Pennälerfilmen älterer Jahrgänge unterschied, war eine zeitgenössische Fixierung, in dem Fall die späten sechziger Jahre mit allem Drum und Dran.

 

 

Musik, Moral, Klamotten, freie Liebe, was heute nostalgisch und altbacken wirkt, war seinerzeit geradezu revolutionär. Auch in den Paukerfilmen gab es so manch politische und gesellschaftskritische Anmerkung. Sie entstanden vor dem Hintergrund der Studentenbewegungen der 60er Jahre, warfen Fragen zur Elterngeneration auf (“Ihr habt doch Adolf Hitler gewählt!”) und richteten sich gegen Spießbürgertum und überholte Moralvorstellungen.

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Die Filmreihe “Die Lümmel von der ersten Bank” brachte es bis 1972 auf sieben offizielle Lümmelfilme. Aber auch andere Produktionsfirmen wie Rialot Film, Allianz Film oder Lisa Film produzierten Paukerfilme nach ähnlichem Muster. Anarchistische Töne wichen dabei vermehrt dem Klamauk, manche Filme wurden zum Vehikel für Schlagersänger oder tobten sich im Bereich Softsexfilm aus.

 

Die Original-Lümmel allerdings versprühten vornehmlich Freiheit und Gerechtigkeit. Auch die Lümmelfilme wurden von späteren Generationen verschlungen und waren nicht selten eine Steilvorlage für ähnliche Späße und Streiche an der eigenen Schule. Manche sind heute sogar noch ganz schön subversiv und deftig wie Pepe Nietnagels vorgetäuschter Selbstmord.

 

Pepes vorgetäuschter Selbstmord in ZUR HÖLLE MIT DEN PAUKERN (1968)

 

Die Lümmelfilme, auch das muss man anmerken, markierten aber auch eine Wende im deutschen Kino, welches bis in die sechziger Jahre durchaus vom Genrefilm geprägt war. 1968 war das letzte erfolgreichste Kinojahr der Geschichte, von da an ging es bergab, sowohl durch eine wirtschaftliche Kinokrise als auch durch die kulturelle Wende des Oberhausener Manifestes 1962.

 

 

 

 

Schule schwänzen

 

Eine ähnliche Entwicklung durchlebte auch das US-Kino zwischen den 60er und 70ger Jahren. Die großen Monumentalschinken der Fünfziger waren nicht mehr erfolgreich, die 70er Jahre waren von Pessimismus und gebrochenen Helden dominiert. Für den Schulfilm beziehungsweise den amerikanischen High School Film ging es erst ab 1973 wieder aufwärts, als AMERICAN GRAFFITI von George Lucas vieles von späteren High School Filmen vorwegnahm. Der Durchbruch erfolgte in den Staaten Anfang der Achtziger durch die Komödien von John Hughes.

 

Generation No-Future: THE BREAKFAST CLUB (1985)

Erst ab den achtziger Jahren erschloss das US-Kino neue Besucher, vor allem Teenager wurden eine begehrte Zielgruppe. Die Generation hatte sich verändert, den wilden Rebellen der Siebziger folgten desillusionierte Jugendliche, die sogenannte “No-Future-Generation”. In THE BREAKFAST CLUB waren es neue Helden zwischen Schwermut und Aufsässigkeit, sie suchten, sie debattierten, sie verweigerten sich der Norm und wurden die neuen Vorbilder jüngerer Generationen.

 

THE BREAKFAST CLUB gilt als der Vorreiter einer späteren High School Welle, ausgelöst durch eine noch stärkere Fixierung auf jugendliche Besucher ab den 90er Jahren und dem Film AMERICAN PIE. Die Probleme der Schüler in Filmen wie THE BREAKFAST CLUB, PRETTY IN PINK oder FERRIES MACHT BLAU waren keine elementar anderen als früher, nur entstanden Erkenntnisse weniger aus dem Generationskonflikt als mit der Beschäftigung mit sich selbst. Und sollte es eine stereotype Klassifizierung gegeben haben, so wurde die hauptsächlich durch die Hughes-Komödien begründet.

 

Der Rebel, der Streber, der Klassenclown, die Sportskanone, die Anführerin der Cheerleader, der Emo und der Dicke, seit den Achtzigern trifft man in High School Filmen wieder und wieder auf die gleichen Charaktere und ihre Verstrickungen zueinander. Der Dicke wird von der Sportskanone gemobbt, der Emo steht auf die schöne Cheerleaderin, die aber ist mit der Sportskanone zusammen, der wiederum vom Streber abschreibt. Und so weiter. Fallen bei anderen Genres solche Stereotypen oft negativ auf, verzeiht man diesen Umstand in Schulfilmen zum Teil, denn jeder ist in seiner Schullaufbahn schon mal auf den ein oder anderen bekannten Typen getroffen.

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Die Hughes-Komödien waren zwar die Vorreiter moderner High School Komödien, aber auf dem Weg dahin ging das Genre noch einen steinigen Weg. Denn Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre gab es vermehrt Dramen im High School Bereich, die sich mit neuen, kritischen Fragen auseinandersetzten, beispielsweise SCHOOL DAZE von Spike Lee oder DANGEROUS MINDS mit Michelle Pfeiffer. Die neuen Themen hießen Gewalt an Schulen, Mobbing, Vorurteile gegenüber Rassen, Sexualität oder Klassenunterschiede wie Reich und Arm.

 

Das High School Drama nimmt allerdings eine Sonderrolle innerhalb der Schulfilms ein, weil es weniger die Perspektive der Schüler einnimmt. Es gab Themen und Geschichten, die einfach zu ernst waren, um sie über die lockere Komödienschiene zu transportieren. Sexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern oder das Thema Amoklauf mussten filmisch anders behandelt werden.

 

 

 

Doch eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Themen war nicht auf das High School Drama begrenzt. Auch Komödien oder Persiflagen wie HIGH SCHOOL HIGH oder CLUELESS beschäftigten sich mit dererlei Fragen, vielleicht sogar geschickter. So kann man auch heute noch Paukerfilme innerhalb ihrer Generation erstnehmen, während manches Drama an Übermoralisierung krankt.

 

 

Überschätzte Klassiker: DER CLUB DER TOTEN DICHTER

 

Es war einmal ein Film, der rührte Generationen zu Tränen. “Oh Captain, mein Captain!” riefen die Schüler des scheidenden Lehrers John Keating (Robin Williams) und bestiegen die Schulbänke, um ihm Respekt zu zollen. Auch ich habe Seen und Bäche geweint, als ich DER CLUB DER TOTEN DICHTER das erste mal sah. Robin Williams, ein Traum von einem Lehrer, den man selbst gern gehabt hätte, auch wenn man überhaupt keinen Bezug zu englischer Literatur hatte. John Keating steht wie eine ganze Reihe anderer Filmlehrer für eine Art Wunschfigur – der coole Lehrer, der Schüler und ihre Probleme ernst nahm, mit dem man sich identifizieren konnte, mit dem man Späße trieb. Solche coolen Lehrer gab es tatsächlich und man wäre für sie auf die Schulbank gestiegen.

 

 

John Keating als Traumlehrer in DER CLUB DER TOTEN DICHTER (1989)

 

DER CLUB DER TOTEN DICHTER wird jeden im Herz und Gedächtnis bleiben, vor allem wegen dem großartigen Robin Williams. Nur einen Fehler darf man nicht begehen – den Film heute nochmal anschauen. Denn er ist in jeder Pore zu tiefst idealisiert, romantisiert und selbstgerecht. Der titelgebende Literaturclub ist nur Fassade, es reicht schon, Gedichte zu rezitieren, um sich für intellektuell zu halten. Darüber hinaus herrscht platte Schwarz-Weiß-Malerei: der unverstandene Sohnemann, der unnachgiebige Vater und die heulende Mutter, dazwischen tonnenweise Kitsch und Betroffenheit sowie eine nicht wirklich stattfindende Charakterentwicklung. Eigentlich ein schlimmer Film, wäre da nicht Robin Williams und Ethan Hawke.

 

 

“Wer abschreibt, wird erschossen!”

 

Anfang der neunziger Jahre wurde beinahe jedes Genre ins Drama verschoben. Erst durch den Erfolg von Wes Cravens SCREAM und AMERICAN PIE wurden dann High School Filme wieder stärker auf jüngere Zielgruppen zugeschnitten und modernisiert. Spaß und Lebensfreude standen wieder im Vordergrund. Von da ab gingen High School Komödie und High School Drama getrennte Wege.

 

BEKENNTNISSE EINER HIGHSCHOOL DIVA (2004)

Dennoch bedienten sich beide Tonalitäten der selben Zutaten. Außenseiter und Nerds gab es sowohl in der Comedy als auch im Bereich Coming-of-Age, auch die Ziele der Figuren waren die gleichen (Bildung, Abschluss, Freiheit, soziale Kompetenz). Auch Style war ein wichtiger Faktor, vor allem für die High School Komödie mit weiblichen Figuren. Die Schule wurde somit auch zum Gradmesser für Modebewusstsein und Stil. Auch in Deutschland nahmen ab den neunziger Jahren Schulfilme wieder zu. Seit den Paukerfilmen hatte sich viel geändert, es gab eine neue Generation, neue Konflikte, aber auch immer wieder die alten Probleme.

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Wichtig für jede neue Welle an Schulfilmen war die gleichaltrige Generation, die sich zwar an den Streichen der Pennäler erfreuen, aber nicht mehr identifizieren konnte. Auch hierzulande gab es deftige Komödien wie SCHULE (2000) oder Coming-of-Age-Geschichten (CRAZY, 2000) sowie Remakes von Klassikern (DIE FEUERZANGENBOWLE 1970, DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER 2003).

 

 

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Der große Erfolg von FACK JU GÖHTE (2013) ist demnach weniger ein Zufallsprodukt als eine nachvollziehbare Konsequenz der langen und erfolgreichen Geschichte von Schulfilmen in Deutschland. Denn mit FACK JU GÖHTE hat sich das Subgenre genauso weiterentwickelt wie in den Jahrzehnten zuvor. Es gibt eine neue Generation, nun ausgestattet mit neuem Spielzeug, welches die Dramaturgie verändert (Handys, das Internet, die Pille), aber auch die gleichen Probleme wie der erste Kuss oder “mein erster Schulverweis”.

 

Darüber hinaus weiß FACK JU GÖHTE die Gesetzmäßigkeiten von Schulfilmen an die Gegenwart anzupassen und ist zudem frisch und witzig. Ein FACK JU GÖHTE wird auch nie als Negativbeispiel für den deutschen Film herangezogen. Das liegt wohl in der Akzeptanz des Genres, welches den Deutschen schon seit der FEUERZANGENBOWLE vertraut ist.

 

Robuste Lehrmethoden in FACK JU GÖHTE (2013)

 

Und schaut man sich die Besucherzahlen an, könnte der Schulfilm das erfolgreichste Genre in Deutschland überhaupt sein (6 Mio. Zuschauer ZUR HÖLLE MIT DEN PAUKERN, über 7 Mio. Besucher für FACK JU GÖHTE, CRAZY, HARTE JUNGS: 1,5 Mio. Besucher).

 

 

Return To Horror High

 

Durch seine örtliche und zeitliche Fixierung sowie durch die breite Figurenpalette ist der Komplex Schule auch in anderen Genres präsent. Lernen und Lehren ist auch im Fantasy und Science-Fiction-Film eine wichtige Säule. Solche Elemente funktionieren im Grunde genauso wie in High School Komdien oder Dramen. Auch Harry Potter hat sich mit Lehrern, Mitschülern und Hausmeistern herumzuschlagen, verliebt sich in eine Klassenkameradin, betreibt Schulsport und lungert auf der Schultoilette herum. Das funktioniert in Hogwarts wie auf der Goetheschule.

 

Schulalltag in Fantasyfilmen: Lehrmeister Yoda (STAR WARS EPISODE 2 ANGRIFF DER KLONKRIEGER), Professor Snape gibt Harry und Ron Backenfutter in HARRY POTTER UND DIE KAMMER DES SCHRECKENS, Abschluss auf der Sunnydale High in BUFFY & Professor Charles Xaviers School For Gifted Youngsters in X-MEN

In Professor Charles Xavier’s School for gifted youngsters gibt es zwar weniger Schulalltag, aber auch hier steht Bildung, und Respekt im Vordergrund und natürlich bandeln die Schüler in der Pause auch kräftig miteinander an. Wir kennen Yoda als Lehrmeister für ganz kleine Jedi als auch Buffy, die weniger Probleme hat, einen Dämon vierzuteilen als vielleicht durch Vier zu teilen. Am prägnantesten aber funktioniert ein Crossover aus den Bereichen Schule und Horror.

 

Wenn man Teeniehorrorfilme ab 1993 analysiert, kommt man oft zu der Genreerkenntnis, dass es für solche Filme Charakterschablonen für Figuren gibt – der Streber, das Sport-As, die Mannstolle, der dicke Vollidiot. Der Horrorfilm aber hat solche Figuren nicht erfunden, sie entstammen dem High School Film. Der Horrorfilm hat sich diese Figuren nur geschickt einverleibt.

 

Schule ist Horror in A NIGHTMARE ON ELM STREET (2010)

Lehrer schlagen zurück in F – LONDON HIGH SCHOOL MASSACRE (2010)

 

SCREAM von Wes Craven stand Pate für einen Berg an Horrorfilmen, die Schüler als Figuren in den Mittelpunkt stellten und dahinmeucheln ließen. Bedingt durch blutige Schauwerte ist eine Figurengruppe dramaturgisch sinnig, denn man will möglichst viele Kills auf der Leinwand sehen. Zudem sind High School Schüler gleichzeitig genau die richtige Zielgruppe für Horrorfilme. Denn schon früher hat man gesagt, Schule ist der pure Horror.

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Horrorfilme und Schulfilme sind eine ganz vorzügliche Kreuzung zweier Genre, die sich dramaturgisch hervorragend ergänzen. Eines der wichtigsten Säulen des Schulfilms, der Abschlussball, spielt auch im Horrorfilm eine große Rolle (CARRIE, PROM NIGHT). Lehrer sind oft Antagonisten, zumindest in den Augen der Schüler. So kann ein Lehrer relativ schnell zum wahren Fiesling werden wie in Ole Bornedals THE SUBSTITUE (ALIEN TEACHER).

 

 

Darüber hinaus ist die Schule als Ort eine ideale Location für Horrorfilme. In F – LONDON HIGHSCHOOL MASSAKER müssen sich Lehrer einer Schar maskierter Schüler stellen, die ihnen ans Leder wollen. In THE GALLOWS ist die Schule in der Nacht Schauplatz eines alten Fluchs. Schummrige Flure und Klassenzimmer können recht morbide Stimmungen ausstrahlen, wer nachsitzen muss, hat oft schlechte Karten (DETENTION). Und jeder weiß, dass man der Klassenschönsten misstrauen muss, denn in ihr steckt oft ein fieser kleiner Teufel (JENNIFER’S BODY).

 

 

School’s Out

 

Schulfilme, Paukerfilme, High School Dramen und Komödien, sie sind ein mittlerweile fast unüberschaubares Subgenre, welches auch in Deutschland mit Tradition und Erfolg gesegnet ist. Das liegt in erster Linie an der Zielgruppe, die jung und zahlreich ist und immer einen Bezug zum eigenen Schulalltag herstellen kann. Filme über´s Studium hingegen sind bei weitem nicht so zahlreich.

 

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Deswegen gilt die Zukunft des Subgenres auch als gesichert, es wird weiterhin in Wellen daherkommen, Generationen werden andere ablösen und vor neuen wie alten Problemen stehen, während sie ihre Zeit auf der Schulbank absitzen. Es bedarf keines Verständnisses für global unterschiedliche Schulsysteme. Amerikanische High School Filme werden hier genauso verstanden wie heimische Schulfilme, weil zwar das System ein anderes ist, nicht aber die Belange und Probleme der Jugendlichen auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter.

 

Und auch wenn man diesem Alter längst entwachsen ist, was gibt es schöneres, als sich der Erinnerung an die Schulzeit hinzugeben und noch einmal zu träumen. An eine Zeit, die uns damals unfassbar lang und schwierig vorkam, aber in die man liebend gern zurückreisen würde. Um noch einmal den Geruch von Kreide zu riechen, Kaugummi auf den Lehrerstuhl zu platzieren oder den Vordermann mit Papierschnipseln zu bewerfen.

 

 

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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.

 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

 

 

 

One Comment

  1. Antworten

    […] Kinderfilm grenzt sich nur schwerlich von zwei anderen Filmkomplexen ab. Das wäre zum einen der Jugendfilm, der sich an Heranwachsende zwischen Pubertät und Volljährigkeit wendet und neue Thematiken mit […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de