Die kleine Genrefibel Teil 44: Netzwelt
In gewisser Hinsicht ist der Science-Fiction-Film ein Genre mit Verfallsdatum. Denn im Bereich Science-Fiction ist das Thema bestimmender als dramaturgische Aspekte. Es geht um den Stand von Wissenschaft und Technik, um Gesellschaft und Evolution der Gattung Mensch von der Gegenwart bis in eine mögliche Zukunft. Einige Themenbereiche der Science-Fiction wurden von der Realität eingeholt bzw. überholt. Nuklearwaffen, Gensplicing, Robotik oder Künstliche Intelligenz sind heutzutage nur allzu real, einzig Reisen in den interstellaren Raum oder durch die Zeit scheinen noch echte Science-Fiction zu sein. So sind auch die Themenbereiche Computer, Internet, Kommunikation und Interaktion in sozialen Medien recht schnell von der Vision zur Wirklichkeit gereift, schneller als sonst ein Feld in der Wissenschaft und Technik. Das wollen wir uns heute einmal genauer anschauen, wie hat das Internet den Film beeinflusst und verändert.
Beim Thema Internet und Film denkt man sogleich an neue Medienplattformen und Filmpiraterie. Doch haben diese Bereiche eher die Filmproduktion bzw. Filmindustrie beeinflusst. Worum es heute gehen soll ist die inhaltliche Spiegelung des Komplexes Internet im Bereich Storytelling und Figuren. Das Internet ist heute keine Zukunftsvision mehr, es ist ein täglicher Gebrauchsgegenstand, der in vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken ist. Deshalb beeinflusst es den Film auch nicht mehr nur hinsichtlich einer möglichen Utopie, es wird Gegenstand des Lebens, fern ab jeder Science-Fiction.
So ist das Internet im Film kein reines Science-Fiction-Metier mehr, sondern durchzieht jedes gegenwärtig spielende Genre vom Drama über die Liebeskomödie bis zum Horrorfilm. Trotzdem haben sich in der kurzen Entwicklungszeit dieses Mediums auch spezifische Subgenres gebildet, die wir auch brav abklappern werden. Was aber ist nun dieses Internet? Jeder kennt es, jeder nutzt es, aber wo kommt es her und wo wird die Reise noch hingehen?
Welt am Draht
Während andere Teilbereiche der modernen Wissenschaft oft sehr alte Wurzeln haben, ist das Internet ein vergleichsweise junges Forschungsgebiet. Internet ist die Abkürzung des englischen Begriffes “internetwork”, also ein Netzwerk oder besser gesagt, das Netzwerk. Denn das Internet ist ein weltweiter Verbund von Rechnernetzwerken und erlaubt so einen globalen Datenaustausch. Entwickelt wurde das Internet Ende der sechziger Jahre aus dem bestehenden Arpanet heraus, welches ein Netzwerkverbund der US-Luftwaffe war. Es wurde unter anderem aus dem Grund entwickelt, um nach einem möglichen Atomkrieg ein funktionierendes Kommunikationssystem zu haben. Doch dem kalten Krieg folgte kein Atomkrieg, so durchlebte das Internet eine Entwicklung vom militärischen Anwendungsbereich hin zur öffentlichen Nutzung.
Bevor das Internet ab 1990 für den kommerziellen Gebrauch nutzbar gemacht wurde, war es in den frühen 80ern bereits eine Kommunikationsplattform von Universitäten und Hochschulen. Während das Internet im Grunde nur eins war, nämlich ein Netzwerk, brauchte man andere Anwendungen, um es überhaupt effektiv nutzen zu können. Das waren zum Beispiel eine grafische Darstellung von Inhalten des Netzes mittels eines Browsers, die Möglichkeit der Datenübertragung durch E-Mails bis hin zum usergenerierten Austausch auf sozialen Plattformen.
Die Geschichte des Internets ist kompliziert und sie gehört hier auch nicht wirklich hin. Aber Teilaspekte seiner Geschichte sind dennoch interessant für die ersten Behandlungen des Internets in der Fiktion. Im Gegensatz zu anderen Produkten wurde das Internet nämlich nicht entwickelt, getestet und auf dem Markt gebracht, es war nach seiner Installation einfach da und wurde praktisch live verbessert und ausgebaut, in den Kindertagen noch dazu vom Militär. Da sich Science-Fiction-Themen immer auch mit Ängsten vor Wissenschaft und Fortschritt beschäftigen, schien das Internet geradezu prädestiniert zu sein für die Fiktion.
Das Internet war ein Labormonster, es wurde vom Militär entwickelt und in dunklen Forschungseinrichtungen festgehalten, galt als unzähmbar und gefährlich. Das hatte und hat viel damit zu tun, dass man das Internet nur bedingt verstand. Was war das eigentlich, dieses Netz? Wie konnte man sich das vorstellen? Computer gab es schon eine Weile lang und sie waren Bestandteil des täglichen Lebens. Auch Computern und Robotern wurde misstraut, aber man konnte sie sehen, notfalls abschalten. Das Netz aber war unsichtbar und demzufolge höchst suspekt.. Das erste, was der Mensch machen musste war, das Internet zu visualisieren, damit man es verstand.
Im Cyberspace
Der erste Begriff, der das versuchte zu umfassen, war die Bezeichnung Cyberspace. Es gab dem unsichtbaren Tun von Computern eine Art Gesicht. Das betraf nicht nur das Internet, jeglicher Vorgang, den ein Computer auslöste, wurde versucht, visuell zu begreifen. So entstand der Gedanke nach einem örtlichen Raum mit Wegen und Lokalitäten, der sogenannte Cyberspace.
Allgemein wurde aus diesem Raum eine eigene Welt, eine virtuelle Realität oder eine Scheinwelt. Vorgänge innerhalb eines Computer versuchte man so besser zu verstehen. Aber wie das so ist mit fremden Welten, man traute ihnen nicht. Demzufolge war der Cyberpace ein gefährlicher Ort.
Der Cyberspace war anders als die Realität, die Naturgesetze schienen dort keine Bedeutung zu haben. Im Cyberspace war alles möglich. Monitore schienen nur dessen Oberfläche darstellen zu können. Hinter abstrakten Zahlenkombinationen und elektrischen Impulsen lag eine neue Welt, die es zu erobern galt. Im Gegensatz zu den Weiten des Universums war das eine mikroskopische Welt, zumindest in der Vorstellung.
Man musste wohl sehr klein sein, um durch Kabel und Platinen navigieren zu können. Konnte man im Cyberspace atmen? War biologisches Leben im Cyberspace überhaupt möglich? Oder war man nur ein Sklave des Computerbenutzers, der durch Befehle die Funktionen erst ermöglichte?
Der Begriff virtuelle Realität schloss sich später dem Begriff Cyberspace an. Einer der ersten Filme über diesen Komplex war Rainer Werner Fassbinders WELT AM DRAHT aus dem Jahr 1973, in dem ein Supercomputer das Leben in einer Kleinstadt simuliert und somit eine virtuelle Realität erschafft. Die dort lebenden “Menschen” wissen nicht, das sie sich in einer Simulation befinden.
Damit greift Fassbinders Zweiteiler sogar weiter in die Zukunft des Cyberspace ein als eine Reihe von Filmen, die ab den frühen 90er Jahren virtuelle Realität abbildeten. Angefangen hat alles mit TRON aus dem Jahr 1982. TRON oder Filme wie DER RASENMÄHERMANN, JOHNNY MNEMONIC oder EXISTENZ verstehen virtuelle Realitäten als Fluchträume, die Figuren sind sich des Übertritts in den Cyberspace bewusst.
In TRON wird ein Programmierer digitalisiert und erwacht in einem Computer. Er ist nun Teil des Systems, welches er nur von innen heraus zerstören kann. Viele Bestandteile des Computerinnenlebens wurden personifiziert, Programme sind menschlich, Schnittstellen und Platinen gleichen Straßen, man könnte sagen echten Datenautobahnen.
Diese Betrachtungsweise vom Innenleben eines Computers ist naiv, aber charmant und vor allem visuell durchdacht und funktioniert beim Zuschauer. Es gibt böse Kontrollprogramme, witzige 1Bit-Systeme, die nur Ja oder Nein sagen können, tricktechnisch wie stilistisch ist TRON ein frühes Paradebeispiel für die Visualisierung des Cyberspace.
Generell liegen in virtuellen Welten Gefahren inne. Nicht nur, dass Anwender ihrer Physis beraubt wurden, sie müssen aufpassen, sich in den virtuellen Weiten nicht zu verlieren. Es gibt aber auch Chancen im CYBERSPACE. In DER RASENMÄHERMANN ist die virtuelle Realität ein Ort, an dem man die Begrenztheit menschlicher Vorstellungskraft hinter sich lassen kann. Man kann im Cyberspace zu Macht gelangen, denn man ist nicht mehr an die Limitierung von organischer Materie gebunden. Gehirne sind klein, der Mensch nutzt nicht mal 10% seiner Gehirnaktivität. Im Cyberspace aber gibt es keine Grenzen, man kann Schwächen durch exzellente Programmierung optimieren.
Transcode
Da Computer immer schneller wurden und die Darstellungsmöglichkeiten geradezu ins Unendliche stiegen, wurde bald auch angezweifelt, ob die Realität wirklich noch die Realität oder eine Computersimulation ist. WELT AM DRAHT war somit ein früher Vorläufer des Films MATRIX von 1996, der genau mit diesem Thema spielte. Für den Film war das ein dramaturgischer Katalysator, denn es machte aus dem eher langsamen und schwermütigen Science-Fiction-Film der siebziger und achtziger Jahre eine hochspannende Angelegenheit. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Cyberthrillern, die wenig mit der Behäbigkeit von altmodischen Sci-Fi-Stoffen gemein haben.
Für Protagonisten und Zuschauer war es vor allem Unsicherheit und Angst. Was ist real, was Simulation? Wie kann man dem Cyberspace entkommen? Computer sind überall, wo kann man sich verstecken? Der Cyberspace war anfangs ein unwirtlicher Raum, dunkel, düster und artifiziell. Doch dann drehte man den Spieß um. Plötzlich war die virtuelle Realität eine bessere Realität, die Wirklichkeit meist grau und trist.
In MATRIX leben die Menschen ohne das Wissen, in einer virtuellen Realität gefangen zu sein. Damit verlieren sie auch ihre Selbstbestimmung, nur wenige können aus dem System ausbrechen. Zwar waren außerirdische Lebensformen für diese virtuelle Welt verantwortlich, die Menschen versklavten und als Batterien nutzten, aber auch Regierungen und dem Militär traute man zu, den Mensch durch eine Scheinwelt gefügig zu machen.
Das Internet war eine Erfindung des Militärs und somit war klar, es würde auch einen Anteil an der Vernichtung der menschlichen Rasse haben. In WAR GAMES von 1983 geht es um einen Teenager, der über einen Computer, den er als Spielkonsole ansieht, versehentlich den dritten Weltkrieg auslöst.
Was nach purer Science-Fiction klingt, war gar nicht so irreal, im Jahr 1983 kam es tatsächlich zu einem Computerfehler in der Sowjetunion, der einen Atomangriff der USA auf die UDSSR vorgaukelte. Computerprogramme oder Superrechner wie Skynet in TERMINATOR oder HAL aus 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM agierten selbstständig und nicht selten war ihr Ziel, die Menschheit zu vernichten. Doch selten hatte das speziell mit dem Internet zu tun, es war eine grassierende Angst vor einer künstlichen Intelligenz, die beschloss, der Menschheit den Gar auszumachen.
Aber diese Annahme wurde auch recht bald von der Realität eingeholt. Denn wenn es um Computer oder das Internet ging, brauchte es für gewöhnlich keine künstliche Intelligenz, der Mensch selbst war der Programmfehler. Statt es zu einer militärischen Umstürzung mit Hilfe des Internets kam, wurde das Netz kommerziell und für den Privatgebrauch geöffnet. Ab nun beeinflusste nicht mehr der Computer die Geschicke, der Mensch benutzte den Computer für allerlei böse Zwecke.
Auch Teenager David Lightman aus WAR GAMES war so jemand, den man von nun an als Hacker bezeichnete. Er dringt in Computer und Netzwerke ein, manipuliert das System zu seinem Nutzen und das gab der ganzen Interneteuphorie im Film ein neues Gesicht.
“Hack the Planet!”
Der virtuelle Raum oder Prozessorvorgänge waren anfangs viel zu abstrakt, als dass sie wirklich Ängste schüren konnten, von einem dritten Weltkrieg mal abgesehen. Aber Computer beeinflussten das tägliche Leben viel mehr, als man auf den ersten Blick annahm. Spricht man von Hackern, denkt man für gewöhnlich an Computernerds, die nicht nachvollziehbare Programme umschreiben oder manipulieren. Dabei waren die Anwendungen nur allzu praktisch. Mit Hilfe von Computern konnte man Türen öffnen, Ampeln schalten, Autos und Flugzeuge steuern, Bankdaten abfassen.
Das betraf plötzlich wieder auch den Ottonormalverbraucher. Je mehr Computer in das tägliche Leben eingriffen, desto unsicherer wurde die Welt, denn man geriet in Abhängigkeiten. Die ersten Hacker in Filmen knackten Schlösser und verursachten das ein oder andere Verkehrschaos, wie in THE ITALIAN JOB aus dem Jahr 1969. Nicht mehr der Computer an sich war gefährlich, sondern was man mit ihm alles anstellen konnte.
Zu einem richtigen Boom an Hackerfilmen kam es in den neunziger Jahren, als das Internet ein täglicher Gebrauchsgegenstand wurde. Aber Hacker gab es bereits seit den siebziger Jahren, als der Personal Computer und das Internet an Universitäten Gebrauch fanden. Studenten formten diese Szene in einer Mischung aus Technikbegeisterung und aufkommender Friedensbewegung.
Hacker sahen und sehen sich als Aktivisten und waren ob dieser Ambivalenz eine gute Vorlage für Filmfiguren. Denn sie waren nicht per se die Bösen, ihre Absichten waren auch immer, ein jedwedes System zu verbessern. Dennoch blieben Hacker bis heute subversive Gestalten. Sie befinden sich am äußeren Rand der Gesellschaft, werden meist als Nerds beschrieben, die zwar eine Beziehung zur Hard- oder Software ausbauen können, mit unter aber immense soziale Defizite besitzen.
Nachdem das Internet auch kommerziell genutzt wurde, war es auch ein Tummelplatz für Kriminelle. Internetkriminalität wurde ein ganz neuer Bereich der Strafverfolgung. Da wurden Gelder von Konten transferiert, Systeme abgeschaltet, überwacht und anderweitiger Schindluder getrieben. Die 90er bildeten das ganz naiv ab. Weil immer mehr Bereiche des täglichen Lebens von Computern bestimmt wurden, konnte ein Missbrauch ganze Identitäten auslöschen. Im Film DAS NETZ aus dem Jahr 1995 mit Sandra Bullock passiert genau das, die junge Hackerin Angela gerät an eine fragwürdige Diskette, bald darauf geschehen merkwürdige Dinge.
Kontoauszüge, Passdaten, Krankenakten, all das konnte man mit Computern und Internet manipulieren, nach drei Mausklicks wird aus Angela Bennet die vorbestrafte Ruth Marx, die nun von der Polizei gejagt wird, weil schließlich der Computer es sagt. Die eigene Identität zu verlieren ist ein Alptraum, und es ist gleichzeitig ein spannender Plot, den viele Filme um Hacker sponnen.
In den Neunzigern konnt man das noch mit Abstand betrachten. Computernutzer waren Außenseiter, man belächelte sie, einem selbst konnte das wohl nicht passieren. Doch bereits 10 Jahre später sah die ganze Sache anders aus. Nun war beinahe jedermann ein solcher Computernutzer und man konnte schnell dem selben Schicksal erliegen wie Angela Bennet in DAS NETZ.
Ebenfalls aus dem Jahr 1995 stammt der Film HACKERS, der heute Kultstatus besitzt, warum auch immer. Schaut man sich heute HACKERS an, kann man streng genommen nur mit den Augen rollen ob der Naivität gegenüber den Möglichkeiten des Mediums. Trotzdem stecken in HACKERS auch Wahrheiten über die Szene wie das Hacker-Manifest oder der gezielte Einsatz von Viren oder Würmern.
Filme wie DAS NETZ oder HACKERS waren aber 1995 trotz der privaten Massenutzung des Internets eher Science-Fiction. Sie bedienten sich der Technik und Anwendungsbereiche, überzeichneten aber deren Nutzung derart, dass man sie heute kaum ernst nehmen kann. Aber das änderte sich bereits wenige Jahre später, als man begriff, was man mit dem Internet noch so alles anstellen konnte.
Informationsdefizite
In den frühen Jahren wurde das Internet und Computer dazu benutzt, um Daten zu protokollieren. Später nutzte man es, um Dinge zu überwachen. Denn im Internet geht es nicht um fassbare Dinge, es geht ausschließlich um Informationen in Form von Daten. Informationen waren schon immer wichtig für die Arbeit von Geheimdiensten, der Polizei oder Privatdetektiven. Hatte man sich früher in einer Bibliothek verschanzt und sich durch alte Zeitungen gescrollt, konnte man Informationen nun direkt aus dem Netz fischen. Welche Bedeutung dieser neue Informationsweg hatte im Vergleich zu den bisherigen Informationsmedien wie Zeitung oder Fernsehen hatte, zeigt ein Beispiel aus der Realität.
Als es 1986 zu dem Reaktorunglück in Tschernobyl kam, waren die Informationen über die gängigen Medien zum Teil unvollständig wie auch zensiert. Im frühen Internet der Universitäten aber bot sich ein anderes Bild. Dort gab es ungefilterte Daten, die Studenten untereinander via E-Mail austauschten. Diese Informationsbeschaffung wurde später auch von Geheimdiensten genutzt.
Ein Abhören und Überwachen von Verdächtigen war da bereits ein alter Hut, was wurde nicht alles verwanzt und angefangen zu Zeiten der Weltkriege oder während des kalten Krieges. Spione und Agenten standen in Fokus, doch als das Internet aufkam, schien das für Geheimdienste eine wahre Goldgrube zu sein. Gerät man in die Fänge von Hackern, war das schon schlimm genug, aber wenn Geheimdienste einen überwachen, konnte man gleich einpacken.
Bereits 1998 thematisierte das der Film STAATSFEIND NR. 1. Wichtiger als der Umstand, abgehört und überwacht zu werden, war die Angst davor, aus der sich diverse Cyberthriller definieren. Denn alles, was mit Computern und dem Internet zu tun hatte, sorgte neben Interesse auch für Skepsis. Und diese Skepsis war das Fundament für einen guten Cyber- oder Hackerthriller. Paranoia und Verschwörungen sind wichtige Elemente für Story und Figuren.
Das liegt daran, dass zum einen der Hacker immer in der Angst lebt, enttarnt zu werden. Hinter jedem Kürzel und Pseudonym steckt ein Mensch vor einem Computerbildschirm, der nicht gefunden werden will. Und jeder normale Bürger ist durch Computertechnik überall und zu jeder Zeit überwachbar. Das schürt Ängste und Paranoia, was interessante und spannende Figuren resultieren lässt.
Hinzu kommt, dass die Materie eben der Fiktion entwachsen ist, man nicht einfach sagen kann, es ist alles nur Film. Von der Kreditkartenabrechnung über Mobiltelefone, Überwachungskameras und GPS-Ortung, man war umgeben von Dingen, die einen in den Rücken fallen können. Womit man wieder bei einem Grundthema der Science-Fiction war, die menschenfeindliche Technik, doch lag das nicht in den Händen von Aliens.
Einen weiteren Schritt in Richtung Totalüberwachung vollzog der Mensch dann aber selbst, in dieser Form konnte das kein Film vorausahnen. Denn ein weiterer Schritt der Evolution des Internet wurde durch soziale Netzwerke initialisiert. War man in STAATSFEIND NR. 1 einer Überwachung eher passiv ausgesetzt, stellte man durch freiwillige Veröffentlichung von Privatdaten Geheimdiensten wie der Wirtschaft quasi einen Freifahrtsschein für Kontrolle. Aber man konnte auch ins Visier von ganz normalen Kriminellen kommen, die nun wussten, wann wo jemand nicht zu Hause ist oder wer sein Passwort ein wenig zu leger gewählt hat.
“Every organization rests upon a mountain of secrets”
Subgenres wie der Virtuelle Realität, Cyberthriller oder Hackerfilme speisen sich aus der Angst vor dem Unbekannten, vor der Skepsis an Technik und Fortschritt. Sie sind damit Ableger des Komplexes Science-Fiction, auch wenn Realität und Film näher zusammen liegen als in anderen Sparten. Darüber hinaus ist das Internet aber aus dem Film an sich nicht mehr wegzudenken. Jeder Film, der innerhalb der letzten fünfzehn Jahre spielt, spiegelt das Thema Kommunikation innerhalb von digitalen Medien. Computer, Laptops, Handys, Smartphones, sie sind heute nicht mehr wegzudenken und somit auch in jedwedem Genre präsent.
Manche Filme bedienen sich des Themas unabhängig von Genreaspekten. Wahre Geschichten und Biographien über herausragende Computerspezialisten ist das eine. Natürlich ist es interessant zu erfahren, wer die Köpfe hinter der technischen Evolution sind. Denn so trocken und technisch die Materie daherkommt, spannend wird sie erst durch ihre Akteure. Dabei geht es nicht nur um die Erschaffer des Internets als Plattform, sondern vielmehr um diejenigen, die das Internet zu nutzen wussten wie Steve Jobs oder Mark Zuckerberg, die ganze Wirtschaftsimperien aufbauten.
Aber genauso interessant sind die Menschen, die das Internet nicht ausschließlich für kommerzielle Zwecke nutzten, sondern für die Freiheit der Informationen eintraten, wie Julian Assange oder Edward Snowden. So unterschiedlich Assange und Zuckerberg sein mögen, beide polarisieren sie durch ihre Philosophie dem Netz gegenüber als Ort der Kommunikation. Darüber hinaus sind sie als Figuren überaus filmisch, denn sie vereinen all die Grundannahmen von typischen Computernerds und Pionieren, die man in den Achtziger und Neunziger Jahren nur aus dem Kino kannte.
Je realistischer diese Darstellung, desto spannender das Ergebnis. Heute sind es vorrangig Dokumentationen, die jeden fiktiven Spielfilm Paroli bieten können, speziell über Hacker, aber auch über alle anderen Teilbereiche der Computer- und Internetnutzung. In der Fiktion scheint es eine Gedankenbarriere zu geben, die Themen sind realistisch, die aber Figuren agieren nach bekannten Genremustern. Doch schaut man Hackerdokus, merkt man, diese Typen im Underground sind realer als man glauben mag.
Hacktivisten, Whistleblower, Anonymus, Cybermobbing, Foren mit düsteren Machenschaften bis hin zu Kinderpornographie im Netz, all das ist realer als die Fiktion es auszugsweise in Filmen je dargestellt hat. Das mag an den Mechanismen des Films liegen, die verdichten, abstrahieren müssen. Im Fall des Internets ist es so, dass es einfach zu fest in der Realität verankert ist, als dass man ihm eine Gefährdung abnimmt. Andere Zukunftsvisionen sind schließlich auch nicht eingetreten. Aber andere Genres hatten für diese Aufabreitung auch mehr Zeit, das Thema Internet ist noch zu jung, als das es Filme abschließend bewerten können.
www – oh jemine!
Während Dokumentationen in diesem Bereich die spannenderen Spielfilme darstellen, darf man auch nicht vergessen, wie das Internet mit all seinen Facetten den Film auch dramaturgisch beeinflusst hat. Für die einen sind sämtliche Belange von der Programmierung bis hin zur Systemoptimierung böhmische Dörfer. Es einen Normalsterblichen zu erklären, bedarf abstrakter Hilfsmittel. In Zeiten der Cyberspacewelle waren das vor allem grafische Darstellungen des Netzes als Raum, fern jeder Realität. Aber das Internet hat auch ganz direkt das Storytelling beeinflusst.
Denn Computer und das Internet sind heute reine Gebrauchsgegenstände. Deshalb gibt es Filme, die sich nicht direkt damit beschäftigen, in denen das Thema dennoch sehr präsent ist. DON JUAN spiegelt das Thema Internetpornographie, in ILOVE wird gefacebooked, in BEN X Online-Rollenspiele bis zur Sucht konsumiert. Abseits davon beeinflussen Internettechniken auch die Dramaturgie, Wege können verkürzt werden, Verabredungen werden nachhaltiger getroffen, Informationen können leichter beschafft werden. Früher hat man einen Verdächtigen observiert, heute bezeugt er selbst durch die Nutzung von sozialen Netzwerken, wann er wo was tut. Das hat dramaturgische Folgen.
Jede Facebookchronik ist ein Beleg für das, was man tut und getan hat. Erst dadurch wird man angreifbar. Manipulationen gehen ob eines Informationsvorsprunges leichter von der Hand. Man kann sich in einer gefährlichen Situation leichter herauswinden, wenn man allerorten online ist. Das führt zu glaubhafteren Figuren oder Aktivitäten. Aber das kann auch nach hinten losgehen.
Denn ein spannender Moment wird durch die Nutzung von Kommunikationsmitteln weitestgehend zerstört, weshalb besonders in Horrorfilmen diese Kommunikationsmittel gern mal ausfallen. Denn man muss heute erstmal jemanden erklären, warum Figur Sowieso in einer brenzligen Situation keinen Notruf oder einen Tweet abgesetzt hat.
Ist das Internet für den Spannungsaufbau in Filmen förderlich? Es gibt Beispiele, wo das gut funktioniert. Ein Down- oder Uploadbalken ist immer spannend, wenn wenig Zeit bleibt. Zeit ist ein entscheidendes Kriterium für solche Szenen. Man muss schneller als der Computer sein, um einen Cyberangriff noch abwenden zu können. Facebook oder Twitter können spannungsfördernd sein, weil man nun glaubhaft dokumentieren kann, wo sich die Figuren befinden und wie sie so drauf sind – durch Posts und Likes. Trotzdem wird gerade in Filmen um das Thema Internet noch immer mit heillosen Klischees gearbeitet.
Früher waren das vor allem grafische Elemente, die es so auf keinem Heimcomputer gab. Diese Elemente waren zudem noch personifiziert, es gab Totenköpfe, die schallend zu Lachen anfingen, tausende Browserfenster, die sich öffnen, alles wirkte wie in einem schlechten Videospiel.
Vieles ist auch in heutigen Filmen noch so, obwohl es der Computerrealität entschieden widerspricht. Da werden Puzzlespiele auf dem Desktop ausgeführt, um Raketenstarts zu verhindern, da steht auf dem Bildschirm “uploading virus”, wo auch immer das herkommt. Hacker tippen oder Unterlass in Tastaturen, ohne sich zu verschreiben, wenn auch nur ein falsches Zeichen ausreicht, um einen Programmcode unausführbar zu machen.
Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Gerade weil Computervorgänge schwer nachvollziehbar sind, landet das Ganze am Ende wieder beim stinknormalen Menschen. Passwörter zum Beispiel. Man spricht auch davon, Menschen zu hacken, denn der Computer ist in den wenigsten Fällen die Schwachstelle des Systems. Obgleich viele Filme unaufhörlich Klischees weitererbreiten wie Viren, manchmal gibt es auch ganz interessante neue Ansätze.
Der Film CHATROOM nutzt auch eine Visualisierung des Cyberspace, aber nicht als abstrakte 3D-Welt wie in DER RASENMÄHERMANN, sondern als Spielbühne, in dem er einen eigenen Raum darstellt, in dem die Figuren interagieren, obwohl sie in der Welt verstreut vor Rechnern sitzen. Ironischerweise hat sich gerade der Horrorfilm dem Thema recht fortschrittlich gewidmet. Während in anderen Filmgenres nur mal so gechattet oder getwittert wird, hat das in einem sehr neuen Subgenre des Horrorfilms größere dramaturgische Auswirkungen. Sogenannter Social Media Horror thematisiert dererlei Belange auch im Hinblick auf die Dramaturgie. Sie gehen sogar soweit, dass sie Spannung sogar gänzlich aus der Benutzeroberfläche eines Computers beziehen.
OPEN WINDOWS oder UNKNOWN USER erzählen die Geschichte über Chatfenster und Webcam-Einstellungen, und das teils sehr realistisch und spannend zugleich. Vor allem steckt gerade in Filmen wie UNTRACEABLE auch eine gehörige Portion Satire und moralische Spiegelung der Social Media Nutzung und scheinen näher am Puls der Zeit zu sein als der ein oder andere Hackerfilm.
Googlehupf
Doch der Puls der Zeit ist gar nicht so entscheidend. Am Ende leiden vor allem die Figuren zusehends unter einer schablonenhaften Charakterzeichnung. Dieses Klischee allerdings ist eine zugespitzte Wahrheit. So sorgte der Satz von Angela Merkel, das “Internet ist Neuland” für Aufregung, gänzlich falsch ist er leider nicht. Denn sieht man es global und zeitlich richtig eingeordnet, steht der Mensch gerademal am Anfang einer weitreichenden Nutzung des Netzes.
Computerfreaks mögen am lautesten protestiert haben, aber sie sind in der Minderheit. Das bildet auch das Kino ab, in dem Computerspezialisten fast immer Nerds oder Außenseiter sind. Die Masse hingegen versteht nicht, wie man die Uploadgeschwindigkeit verbessern kann oder einen Virus installiert, sowohl im Real Life als auch im Film. Dort ist der Computernerd die Randgruppe und so versteht es auch der Zuschauer. Denn der Zuschauer positioniert sich zwar gern auf die Seite von Hackern oder Net-Aktivisten, aber eben auch aus dem Grund, weil er es selbst nicht wirklich versteht.
Es gibt sie nicht, die Filme oder Serien, die die Position von Nerds einnehmen, ich meine damit, sie wirklich realistisch darstellen. Sie werden entweder comichaft überzeichnet oder sozial derart verunstaltet, dass man immer auf Distanz ist, ob man will oder nicht.
Im Fernsehen scheint man da in Sachen Computerklischees schon einen Schritt weiter zu sein, aber auch dort regieren Behauptungen und Notausgangstüren. Selbst in der wirklich guten Serie MR. ROBOT versteckt man die Protagonisten Elliot hinter einer Mauer aus sozialer Unfähigkeit.
Das mag zutreffend sein, nicht wenige Hacker sind menschenscheu, es wird aber auch zum Vorwand, diese Figuren und ihre Absichten zu verschleiern. Zum anderen ist es für ein Filmmysterium auch nicht förderlich, offen und nüchtern solche Belange zu thematisieren, zum einen, weil sie viel zu technisch und langweilig sind, zum anderen, weil Geheimnisse und Ängste die Basis der Dramaturgie sind, vor allem beim Cyber- und Hackerthriller.
Es wird spannend zu sehen, welche Entwicklung sowohl das Internet als auch seine filmische Interpretation in Zukunft nimmt, denn diese Entwicklung war bislang ungemein rasant. Kann sich noch jemand die Welt im Jahr 2000 vorstellen, wo man per Modem ins Netz gegangen ist und sich Beepworld-Seiten angesehen hat? Es wirkt heute, nur 16 Jahre später wie ein altertümliches Relikt.
Wer weiß, was in weiteren 16 Jahren so alles passiert, sowohl im Film als auch in der Realität? Das Thema Internet wird im Film eine bedeutende Rolle spielen in den nächsten Jahren. Die Frage ist, ob damit auch interessante Geschichten erzählt werden.
Einen ersten interessanten Ansatz bietet der Film EX-MACHINA. Dort ist das Internet bzw. die Summe der menschlichen Nutzungsentscheidungen die Basis für eine künstliche Intelligenz, denn das Internet bildet nicht nur ab, was der Mensch denkt, sondern auch wie er denkt. Die interessantesten Zukunftsvisionen liegen vielleicht nicht im Krieg und der Auslöschung der Menschheit durch das Internet, sondern in dessen täglichen Gebrauch, welcher bereits die Kommunikation entschieden verändert hat, im Film und in der wirklichen Leben.
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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.
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