Die kleine Genrefibel Teil 38: Coming of Age

Da standen wir nun, draußen, weil es drinnen zu laut war und zu heiß, zu viele Idioten, die sich an der provisorischen Bar drängelten und Blue Curaçao Longdrinks bestellten und zu viel Beschallung durch Haddaway – “Is it love? Baby don’t hurt me, no more!” Die meisten saßen ohnehin nur auf Klappstühlen herum, die an die Wände des Saals geschoben waren, den wir nur zu gut kannten, weil er früher Teil unseres Schulhorts gewesen ist. Doch an diesem Wochenende wurde aus der Tagesstätte für Grundschüler eine Disco für uns Ältere. Aber weil es dunkel war und sich eine Spiegelkugel drehte, funktionierte diese Täuschung.

 

Da standen wir nun, draußen, an dem alten Klettergerüst, wo wir früher Himmel auf Erden gespielt haben. Hier war die Musik vom Saal nur ein dumpfes Brummen, das Plappern der Raucher davor nur ein unverständliches Murmeln. Nur Konstanze, die neben uns stand, redete und redete, über die Matheleistungskontrolle am Montag, dabei könnte nichts weiter weg sein als Montag und Mathe. Wir sprachen nicht, wir schauten uns nur an und warteten. Darauf, dass Konstanze endlich begriff, dass Drei einer zu viel war. Aber für Konstanze gab es nur quadratische Gleichungen und Strahlensätze.

 

Die Geometrie unserer Blicke hingegen war tausendmal komplizierter. Als Konstanze einmal inne hielt, um zu atmen, bemerkte sie das und wurde urplötzlich still. Sie sagte noch “Naja.”, drehte sich um und verschwand. Es kam uns wie Stunden vor, doch jetzt, wo sie weg war, schien die Zeit beinahe still zu stehen. Sie wankte mit den Füßen hin und her, saß auf der untersten Traverse des Klettergerüsts und konnte den Boden berühren. Der Boden hingegen bebte wie beim Ausbruch des Krakatau. Meine Füße versanken in glühender Lava, als ich einen Schritt auf sie zumachte. Nicht, dass ich das bewusst tat. Wir waren Magnete.

 

Und dann, als sich alles um uns herum drehte, weil wir der Mittelpunkt des Universums waren, küssten wir uns. Unbeholfen. Mehr ein Stupsen. Es war, als wären wir an diesem Klettergerüst wie zwei Atome in einem Molekül. Ich kannte auch den Namen der Kraft, die dieses Molekül zusammenhielt, aus dem Chemieunterricht. Aber in diesem Moment hatte ich ihn völlig vergessen.

 

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Logbuch durch die Adoleszenz

 

Einer verquerten Logik nach kann auf Teil 37 der kleinen Genrefibel Dinomania nur das Kapitel Coming of Age folgen. Irgendwann hatte man das Malbuch über Dinosaurier weggelegt, weil andere Lebensformen von größerem Interesse waren: Mädchen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Coming of Age, ein Begriff, der mittlerweile auch in Deutschland als Genrebezeichnung Fuß gefasst hat, ist mitnichten das filmische Infiltrat des ersten Verliebtseins. Coming of Age Geschichen erzählen vom Übergang der Kindheit in das Erwachsenenalter. Die erste Liebe gehört zweifelsohne dazu, doch Coming of Age spiegelt all die Stolpersteine auf dem Weg zur inneren wie äußeren Reife, die Männlein und Weiblein überwinden müssen.

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Der Begriff Coming of Age bezieht sich auf Literatur und Film. Bereits in Homers Ilyas gab es Figuren und Strukturen, die diese Transformation beschrieben. Die bekanntesten Romane, in denen Coming of Age Strukturen auftauchen, sind “Der Fänger im Roggen” von J.D. Sallinger und “Wer die Nachtigall stört” von Harper Lee. Im Bereich Film gibt es solche Strukturen seit den fünfziger Jahren, reine Coming of Age Geschichten allerdings sind eher eine Spielart der neueren Zeit.

 

Denn Coming of Age bedient sich vielerorts stark der Retrospektive und kapselt sich von reinen gesellschaftspolitischen Irrungen und Wirrungen der Jahrzehnte ab. Selbstverständlich ist der Reifeprozess von der Kindheit bis zum Erwachsenwerden auch immer abhängig vom jeweiligen Zeitgeist, von generationsübergreifender Emanzipation und dem Stand des Ich´s innerhalb der Gesellschaft. Aber Coming of Age Filme erzählen vor allem vom emotionalen Innenleben der Figuren.

 

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Im Bereich Coming of Age steht die Figur im absoluten Mittelpunkt. Handlungselemente sind Gewinn, Verlust, Loslösung, Identität, Selbstfindung, Selbsterkenntnis und Reifung. Der vielleicht zentrale Begriff dabei ist der Reifeprozess, denn obwohl der Großteil von Coming of Age Geschichten in der Tat den Übergang einer Kinderwelt in die Erwachsenenwelt schildern, sie lassen sich schwer auf ein bestimmtes Alter ummünzen.

 

 

Reifeprozesse durchlebt er Mensch eigentlich Zeit seines Lebens, wie oft hört man von Figuren, die nie erwachsen werden (wollen) oder die fundamentale Erkenntnisse ihrer Selbst erst weit nach der Pubertät erlangen.

 

 

Coming of Age – Genre oder Element?

 

Man muss Coming of Age Filme vom reinen Jungendfilm trennen, der selbstverständlich ohne diese Elemente nicht funktioniert, diese aber mitunter distanzierter betrachtet. Im Mittelpunkt einer jeden Coming of Age Geschichte steht die physische, psychische und moralische Entwicklung der Figuren. Das ist in erster Linie der Verlust der Unschuld, und das nicht nur im sexuellen Sinne.

 

Wie frei war man als Kind, welche Sorgen und Nöte der Erwachsenen waren nicht nachvollziehbar, wie wenig verstand man von den Schwierigkeiten der Älteren um einen herum. So ist ein zentrales Element von Coming of Age selbstverständlich die Familie, bzw. das Loslösen. Das passiert im Leben aktiv wie passiv, bewusst wie ungewollt, durch Scheidung der Eltern oder dem Tod. Verlust und Trennung sind schmerzhafte Erkenntnisse auf dem Weg ins Erwachsensein, und sie werden es auch sein, wenn man meint, diese Schwelle erfolgreich überschritten zu haben. Im Coming of Age Film jedoch ist es meist diese erste Konfrontation, die die Figur reifen oder verunsichern lässt.

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Nicht jede dieser Schwellen ist passiv oder unbeeinflussbar. Zum Reifeprozess gehört auch das Treffen von Entscheidungen. Figuren in Coming of Age Filmen müssen Entscheidungen treffen, müssen sich Freiheiten erkämpfen und das macht diese Geschichten am Ende so wirkungsvoll, weil jeder einmal vor solchen Fragen stand. Für den Film sind sie beinahe die Quintessenz von dramaturgischer Figurenentwicklung, denn ohne Veränderung funktioniert das Genre nicht.

 

Im Coming of Age Film findet innerhalb der Figuren immer eine Veränderung statt. Deswegen erscheinen diese Filme oft als der Gegenentwurf des Genrefilms, der auf Unveränderlichkeit und auf Statik setzt.

 

Als Genrebegriff ist Coming of Age deshalb ein zweischneidiges Schwert. Filme nur über den Aspekt des Reifeprozesses zu betrachten, fällt schwer. Viele Coming of Age Filme sind gleichzeitig Dramen, Komödien, Tragikkomödien, andererseits können auch Fantasy- oder Horrorfilme starke Coming of Age Elemente beinhalten, denn diese funktionieren nur über die Figuren. In der Rezeption von Coming of Age Filmen fällt das noch schwerer, denn ein solcher Film kann sich über die Jahrzehnte für einen selbst immer wieder wandeln und das geschieht meist in Zusammenhang mit der eigenen Entwicklung.

 

 

MY GIRL (1991), Regie: Howard Zieff

 

 

Einen Film wie MY GIRL schaut man mit zwölf Jahren einfach mit anderen Augen und mit einem anderen Herzen, als man es später als Erwachsener tut. STAND BY ME, einer der großen Coming of Age Klassiker, als solcher wird er mit Kinderaugen nicht wahr genommen. Für mich war STAND BY ME ein Abenteuerfilm, als ich ihn als junger Bub das erste mal sah. Viele, aber nicht alle Elemente, waren mir vertraut, mir war auch bewusst, dass STAND BY ME eine andere Wirkung versprühte als beispielsweise THE GOONIES. Während die GOONIES idealisiert waren, die Figuren Wunschhelden, auch wenn die Wünsche durchaus nachvollziehbar waren, bei STAND BY ME fühlte es sich anders an, näher, näher an den eigenen Schwellen und eigenen Ängsten wie Träumen.

 

STAND BY ME spielt in den sechziger Jahren, und genau das meine ich damit, wenn ich sage, dass sich Coming of Age Geschichten weniger durch den gesellschaftspolitischen Kontext aus Zeit und Ort definieren als durch einen Spiegel des Inneren der Figuren. Mögen moralische Wertvorstellungen und Sitten den Reifeprozess durchaus beeinflussen, im Großen und Ganzen aber sind Gewinn und Verlust innerhalb der Pubertät global und zeitunabhängig nachvollziehbar.

 

 

The spectacular Now

 

Einen Reifeprozess macht man in jeweiligen Altersstadien durch, ihn wirklich verstehen kann man aber nur später, was Coming of Age Geschichten fast immer zu einer retrospektiven Sache macht. Es sind emotionale Erinnerungen, die diesen Prozess erst wirklich abschließen. Nicht selten sind solche Geschichten deshalb in der Vergangenheit angesiedelt, denn diese Entscheidung bewirkt beim Konsumenten jenes schwermütige Gefühl der Erinnerung, an die erste Liebe, den ersten Trennungsschmerz, die Bedeutung von Verlust und den Abnabelungsprozess von Vorbildern. Ein zentrales Element von solchen Filmen ist der Moment.

 

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Meist handelt es sich um ein existenzielles Ereignis, welches die Figuren aus ihrer scheinbar vorgegebenen Bahn wirft, im Positiven wie im Negativen. In MY GIRL erlebt die Figur Vada Sultenfuss (Anna Chlumsky) Gewinn und Verlust zu gleichen Teilen, beide Erfahrungen sind miteinander verknüpft, auch wenn die Geschichte schon eine extreme Erfahrung in Sachen Gewinn und Verlust ist. In vielen Coming of Age Filmen geht Gewinn mit Verlust einher, was ihn grundlegend vom Liebesfilm unterscheidet, der oftmals nur den Gewinn, also das Finden der Liebe, thematisiert.

 

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THE SPECTACULAR NOW (2013), Regie: James Ponsoldt

 

So unterscheidet sich der Coming of Age Film in gleicher Weise auch vom Jugend-Abenteuerfilm, denn trotz Kampf und charakterlicher Herausforderung steht bei THE GOONIES der Gewinn am Ende als erlösender Plotpoint, bei STAND BY ME weitaus mehr. Denn eine Coming of Age Geschichte spiegelt immer auch die Frage der eigenen Identität, des eigenen Wertesystems, eigener Moralvorstellungen und der Diskrepanz zwischen dem Wollen und Nichtwollen einer Veränderung. Figuren in Coming of Age Filmen sind im Gegensatz zum Abenteuerfilm selten Helden. Sie sind unsicher, überspielen Schwächen und widersetzen sich anfänglich einer äußeren wie inneren Veränderung.

 

 

 

Rebel Without a Cause

 

Der Coming of Age Film hat aber trotz seiner Allgemeingültigkeit in Sachen Reifeprozess durchaus Veränderungen erfahren. Denn der Begriff Generation hat auch für Coming of Age eine wichtige Bedeutung und scheint erstmal jener Allgemeingültigkeit zu widersprechen. In den fünfziger Jahren gab es die Generation der Halbstarken, die sich durch Statussymbole wie Motoräder und Autos definierten. Die 68er Generation wollte sich von ihren Eltern abkoppeln, ihre Bedürfnisse lagen in ganz anderen moralischen Fragen begründet.

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Später gab es Begriffe wie Baby Boomers, Genreation X, Millennials oder Null-Bock-Generation. Im Grunde kann ich die Wirkung des Films DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN mit James Dean nur abstrakt verstehen, in gewisser Weise ist diese Coming of Age Geschichte doch zeit- und ortsabhängig. Auch REALITY BITES mit Winona Ryder und Ethan Hawke habe ich geliebt, aber vielleicht missinterpretiert. An diesen Beispielen zeigt sich vielleicht, dass der Kern von Coming of Age Geschichten, also die Schwelle des Erwachsenwerdens zwischen 12 und 19 Jahren, das Genre doch nicht vollständig umreißt.

 

Im Grunde kann man solche Dinge auch noch neu erleben, wenn man in einer ganz anderen Lebensphase steckt. Weil man, auch wenn es kitschig klingt, nie wirklich erwachsen wird. Was uns da Filme erzählen wollen, mag ehrlich sein, Liebe, Schmerz, Verlust, aber erst durch einen eigenen Reifeprozess erlangt man zu der Erkenntnis, dass diese Elemente zwar wahr und nachvollziehbar, aber eben auch idealisiert sind.

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Neuere Coming of Age Filme sind bittersüße Idealwelten, auch wenn sie noch so subtil mit Fragen des Erwachsenwerdens umgehen. Ich meine damit nicht, dass zwischen einer solchen Bittersüße und purem Kitsch ein nur schmaler Grad besteht. In der Rezeption von Coming of Age Filmen ist sicher auch das eigene momentane Befinden ausschlaggebend. Wenn man selbst glücklich und zufrieden ist, kann man Filme wie THE SPECTACULAR NOW, THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER oder THE WAY WAY BACK mit einem sanften Seufzen genießen, Wochen später könnte man sie samt DVD-Player aus dem Fenster werfen.

 

Aber das meine ich noch nicht einmal. Schule, Verknalltsein, alles schön und gut, man erklärt es zum Mantra, sagt dazu “Genau so ist es!” und vergisst dann doch, dass sich dieses emotionale “Genauso” nur in seiner eigenen kleinen Welt abspielt. Wie aber gestaltet sich das Erwachsenwerden, wenn man nicht in Thüringen aufwächst, sondern in Kabul oder Bagdad?

 

 

Locke war hässlich

 

CITY OF GOD beispielsweise ist nicht nur ein Drama mit dokumentarischem Ansatz, es ist auch ein großartiger Coming of Age Film. In diese Kerbe schlagen auch die Filme DRACHENLÄUFER und SLUMDOG MILLIONÄRE und sie heben sich weit vom Coming of Age Verständnis der siebziger und achtziger Jahre ab, nicht nur inhaltlich.

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Es bedurfte wohl erst einer globalisierten Gesellschaft oder zumindest den Blick darauf, dass in neueren Coming of Age Filmen innere Reifungsprozesse eben doch auch abhängig von gesellschaftspolitischen Wandlungen sind. Das ist auch ein wichtiges Element von Filmen wie SONNENALLEE oder GOOD BYE LENIN!, die einen solchen Prozess nicht für Allgemeingültig erklären wie es beispielweise die US-Klassiker von John Hughes in den 80ern taten (DER FRÜHSTÜCKSCLUB, FERRIS MACHT BLAU).

 

Diese Filme umrissen die Generation No-Future, ohne allerdings auf gesellschaftspolitische Veränderungen näher einzugehen. Das ist allerdings keine wirkliche Kritik, denn trotz der Öffnung für eine realistischere Betrachtungsweise weg vom Idealismus ist und bleibt der Coming of Age Film an den Figuren verhaftet, weniger am Drumherum.

 

Und man kann das spüren, wenn auch nur in seiner eigenen kleinen Welt, denn obgleich ich auch nicht diesen Prozess der Figuren in CITY OF GOD wirklich nachempfinden kann, im Fall eines OH BOY beispielsweise kann ich es, bzw. ich kann nachempfinden, dass es für mich nicht funktioniert. Denn OH BOY will mir eine Generation nahebringen, in der ich mich nicht wiedererkenne, trotz dass mir Zeit und Ort und Generation selbst durchaus vertraut sind.

 

 

THE BREAKFAST CLUB (1985), Regie: John Hughes

 

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So ist Coming of Age filmisch gar nicht so eng zu fassen wie man Anfangs glaubt. Wo sind die Unterschiede zwischen AMERICAN PIE und THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER? Sie liegen in der Stilistik, logisch. Vielleicht ist der Coming of Age Film dann am Ende doch breiter, als angenommen, wenn man ihn nicht streng nach psychologischen Faktoren und Generationsfragen abgrenzt. Denn neben all den Interpretationen und dem Wiedererkennen der eigenen Evolution ist der Coming of Age Film ein überaus optimistisches Archipel.

 

 

Schuld haben die Beatles

 

Coming of Age Filme definieren sich ob dieser Fragen dementsprechend weniger über die Story. Im Großen und Ganzen passiert nicht wirklich viel in diesem Genre, der Blick auf die Figurenevolution ist meist mikroskopisch. Wovon Coming of Age Filme leben, ist das gesprochene Wort, obgleich sie keine überbordende Dialogisierung benötigen. Große Erkenntnisse über das Leben können gut und gern in treffenden Voice Over Monologen errungen werden, während anderorts oft Sprachlosigkeit und Zurückhaltung im Vordergrund steht.

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Auch wenn sie meist optimistisch enden, Melancholie und bittere Süße haben sie wohl fast alle gemein und ohne Sarkasmus und Zynismus ist so ein Reifeprozess auch nur schwer überstehbar. Wo Worte nicht das vermögen, was das Herz und die Seele plagt, erreichen in Coming of Age Filmen meist Songs jene innere Leere. Ein Soundtrack ist essentiell für diese Sparte, weil wir Erinnerungen an die Jugend mit all ihren Stolpersteinen auch immer mit bestimmten Songs verbinden.

 

CRAZY (2000), Regie: Hans-Christian Schmid

GOOD BYE LENIN (2003), Regie: Wolfgang Becker

 

Weitere Elemente von Coming of Age sind Fernweh, Freiheitsdrang und Sehnsucht. Der Blick in einen Sonnenuntergang, die Schwermut beim Drehen eines Globus, das erste Auto, der erste Job, finanzielle Freiheit, all die Errungenschaften der Erwachsenen werden zu Zielen der Protagonisten. Aber auch das Gegenteil davon. Knaben wollen nicht so sein wie der Vater, Mädchen sich von der Mutter emanzipieren, ältere Geschwistern einholen, vielleicht Fehler der Eltern vermeiden, letztendlich scheitern aber viele an gleichen Problemen.

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Auch gibt es in Coming of Age Filmen immer eine Figur, die die Funktion eines Mentors einnimmt. Das ist nicht in erster Linie ein Vater- oder Mutterersatz oder Lehrer und Erzieher, das sind meist Figuren, die sich genau die Sehnsüchte erfüllt haben, wovon der Heranwachsende träumt. Auch wenn es nicht selten mit der Erkenntnis einhergeht, dass sich auch solche Vorbilder als Trugschlüsse herausstellen. Was am Ende aber auch lehrreich sein kann.

 

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Genretechnisch lassen sich mit Coming of Age Strukturen wunderbare Hybriden erschaffen. Beim Erstellen der Filmkarteikarten konnte ich teilweise gar keine inhaltliche Abgrenzung treffen. AN EDUCATION neben DRACHENLÄUFER, darunter MEAN CREEK, selten einen Strukturen so verschiedene Filme wie der Komplex Coming of Age. Road Movies, History, Family Entertainment, sogar Science-Fiction, Fantasy und natürlich auch Horror sind damit kompatibel.

 

 

 

“It has nothing to do with Satan, Mama. It’s me.”

 

Vielleicht ist letzteres sogar ein ganz interessantes Nebenkapitel. Gut, auch ein Frodo muss reifen, aber für gewöhnlich sind Fantasy- oder Science-Fiction-Filme keine typischen Andockstationen für Coming of Age Strukturen. Der Horrorfilm jedoch schon, woran könnte das liegen? Der wohl treffendste Hybrid ist der Film CARRIE von Brian De Palma nach einer Geschichte von Stephen King, der auch die Vorlage für den Film STAND BY ME verfasst hat.

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Die Hauptfigur Carrie steht an der Schwelle des Erwachsenwerdens, mit all den Problemen, Sorgen und Hoffnungen, mit denen typische High School Kids zu kämpfen haben. Und doch ist alles ganz anders, bzw. wird über eine ganz andere erzählerische Ebene transportiert.

 

Der Film steckt voller psychologischer und sexueller Metaphern, mehr aber noch speist sich die Geschichte der Figur aus dem Wunsch heraus, jenen Übergang vom Kindes- in das Erwachsenenalter nicht mit Machtlosigkeit zu begegnen. Dieser Wunsch ist essentiell für den Reifeprozess, obwohl er im normalen Leben immer ein Wunsch bleibt. All die Häme, all der Schmerz, den junge Menschen in der Pubertät ertragen müssen, finden hier ein Ventil in der Phantastik. Das ist im Fall von CARRIE sehr extrem, deswegen entfaltet er auch eine solche Wirkung. Aber auch andere Horrorfilme spielen geschickt mit diesen Dingen und geben ihnen neue, sehr treffende Symbole.

 

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GINGER SNAPS – DAS BIEST IN DIR (2000), Regie: John Fawcett

GINGER SNAPS ist ein Hybrid aus Werwolffilm und Coming of Age. Was auf dem Papier seltsam erscheinen mag, es funktioniert über die Maßen. Die erste Menstruation, die erste Frustration, all dem werden Elemente der Werwolfgenesis, von Blut, Stimmungsschwankungen bis zum Erstarken der Persönlichkeit und Erlangen verborgener Kräfte angeheftet, die diese Phase konterkarieren. In IT FOLLOWS ist Sex ein Überträger eines Fluches. In DONNIE DARKO wird der Reifeprozess über eine metaphernhafte Zeitreise erzählt und eine Flucht in eine Phantasiewelt ist jedem Heranwachsenden ein Begriff, wenn sie auch nicht unter so bestürzenden Umständen wie in dem Film PANS LABYRINTH geschieht. Der Horrorfilm scheint ein guter Träger für Coming of Age Strukturen zu sein, weil er Ängste spiegelt. Und Ängste sind ein großer und wichtiger Teil des Erwachsenwerdens.

 

 

Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft.

 

Selbstverständlich hat sich der Coming of Age Film im Laufe der Jahrzehnte verändert. Das liegt aber weniger an großen Veränderung in der Gesellschaftspolitik, sondern im Blick von Autoren und Filmemachern darauf. Probleme und Stolpersteine auf dem Weg zum Erwachsenwerden hat es immer gegeben, nur thematisiert wurden sie mit unterschiedlicher Intensität, weil sie sich auch im gesellschaftlichen Kontext verändert haben. Coming of Age Filme erzählen heute ganz selbstverständlich über sexuelle Ausrichtung, Sucht, Gewalt, in einer globalisierten und informationsüberfluteten Welt stellen sich mit jeder Generation neue Fragen über das eigene Ich in Zeiten physiologischer wie psychischer Veränderung. Filme tragen dem Rechnung, sind ein Teil davon.

 

 

JUNO (2007), Regie: Jason Reitman

 

Wenn man so will, kann man sie trennen in Wunsch und Wirklichkeit. Beide haben die gleichen Wurzeln, Sehnsüchte. Im idealisierten Fall sind es Genrefilme, über Helden, die nicht wanken, die sich bestenfalls nicht verändern, komme, was wolle. Sie sind Fluchtpunkte innerhalb der Gesellschaft und der eigenen Evolution. Aber sie können auch Spiegel sein, in denen man sich selbst erkennt, eigene Schwächen wie Stärken. Deshalb verändern sie sich auch immer, manchmal hat man Zugang dazu, manchmal nicht. Ich habe diese Folge bereits zu Anfang diesen Jahres geplant, jetzt, wo ich sie schreibe, fühle ich mich etwas seltsam, nicht im negativen Sinne. Denn auch ich habe neue Reifungsprozesse durchlebt, die mir jetzt andere Ansichten auf das Genre offenbaren.

 

Im Bereich Coming of Age gibt es diesen schmalen Grat zwischen wohlwollend Nicken und verbittertem Kopfschütteln. Nah am Schmalze, altkluges Geschwätz, was noch vor Monaten unerträglich war, empfinde ich nun als süße Erkenntnis. Das kann und wird sich ändern, denn ein solcher Reifeprozess wird im Leben nie abschließend sein. Vielleicht ist das der Grund für die Zugänglichkeit von Coming of Age Filmen. Sie sind wie komprimierte Erinnerungen an das eigen Erlebte, vielleicht sind sie deshalb filmisch so prädestiniert und die Strukturen so oft zu finden. Weil sie so direkt sind und keine metaphernhafte Übertragung oder Symbolik brauchen. Weil sie sind, wie das Leben ist. Einfach und dennoch kompliziert.

 

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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.

 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

 

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5 Comments

  1. Antworten

    […] Der Coming-of-Age Film als Genre hingegen ist nämlich für die gleichaltrige Zielgruppe völlig uninteressant, obwohl man meinen könnte, es wäre genau das Richtige. Aber der Interpretation solcher Stoffe kann man sich wohl erst hingeben, wenn man dem Alter der Protagonisten entwachsen ist, in der Retrospektive sozusagen. Ich kenne keine 14jährigen, die auf SUBMARINE oder THE WAY WAY BACK abfahren. Ein Zwiespalt, der allerdings in den letzten Jahren durch einen Kniff übertölpelt wurde. Denn Coming-of-Age-Strukturen können sehr wohl Massen in die Kinos bewegen, wenn sie auf einer anderen Ebene gespiegelt werden, im Phantastischen, wie in den HUNGER GAMES Filmen oder auch in Harry Potter. Doch auch da gibt es Widersprüche. […]

  2. Antworten

    […] kann aber auch zu Problemen führen. Ich zum Beispiel habe eine Coming-Of-Age-Zeitreisegeschichte entwickelt, die zu Teilen im Jahr 1990 und in einer Kleinstadt in Thüringen […]

  3. Antworten

    […] und Volljährigkeit wendet und neue Thematiken mit sich bringt. Zudem besteht eine Abgrenzung zum Coming of Age Film, der retrospektiv eher von Erwachsenen als Erinnerung an Kindheit und Jugend rezipiert wird. […]

  4. Antworten

    […] der Medaillen wie Betrug, Doping, Sucht oder Sportunfälle. Viele Filme haben Elemente des Coming of Age Films, Sportfilme, basierend auf echten historischen Ereignissen, erzählen abseits der Sportart auch […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de