Die kleine Genrefibel Teil 29: Mindfuck

Willkommen zurück im Genrestreichelzoo. Unsere letzten beiden Fibeln über Männlein und Weiblein waren inhaltlich eher retrospektiv geprägt. Subgenres in einem historischen wie gesellschaftspolitischen Kontext zu betrachten, das funktioniert allerdings nicht immer und wird irgendwann auch mal langweilig. Manche Sparten im Mikrokosmos Film sind einfach zu jung, andere wiederum definieren sich stärker aus dramaturgischen Aspekten und Fragen der Interpretation. Die Themen (Echt)zeit oder Figurenensembles sind solche Beispiele und auch in dieser Folge der kleinen Genrefibel beschäftigen wir uns vorrangig mit dramaturgischen Betrachtungsweisen.

 

Subgenres, das bedeutet auch immer Streit und Zankerei. Denn was für den einen ein Subgenre ist, muss ein anderer nicht unbedingt akzeptieren. Solang es keine EU-Richtlinie für Filmgenres gibt, darf jeder das gern so sehen, wie er mag. Eine Komödie ist kein Genre, sondern eine Tonalität, mahnt der Filmtheoretiker, Trash ist Trash und Drogen ein Thema, keine Gattung. Sie mögen alle Recht haben, doch wie man sich dem kleinkarierten Kaleidoskop Film nähert, liegt im Auge des Betrachters. Manchmal stolpert man auch über Begriffe, die irgendetwas zu bündeln versuchen. So tauchte in den letzten Jahren der Terminus “Mindfuck” im Bereich Film auf. Was kann man sich darunter vorstellen?

 

 

 

 

Mindfuck steht für eine Verzerrung der Realität, sie spielt sich allerdings nicht ausschließlich im jeweiligen Medium Buch oder Film ab, sondern auch im Kopf des Konsumenten. Geprägt wurde der Begriff Mindfuck erstmals 1968 von Robert Anton Wilson und Robert Shea in der Romantrilogie “Illuminatus”, ab den Zweitausender Jahren gilt Mindfuck im Bereich Film als Synonym für etwas, was den Zuschauer in die Irre führt, verwirrt oder falschen Fährten folgen lässt. Das tun aber auch Psychothriller oder Krimis. Dann werden unter diesem Aspekt häufig eine Handvoll Filme gebündelt, die sich entweder durch einen Storytwist definieren oder erzählerisch völlig wirr sind- sucht man nach Mindfuck, landet man sehr schnell bei THE SIXTH SENSE, FIGHT CLUB oder MULHOLLAND DRIVE. Nun wollen wir das aber genauer wissen, kann man den Begriff Mindfuck nur so verstehen, dass er den Zuschauer lediglich an der Nase herumführt? Fragen über Fragen!

 

Doch zunächste ein kleiner Einschub.

 

 

Spoiler, Spoiler, lecker Spoiler!

 

Man kann nicht über Mindfuck oder Twist-Movies sprechen, ohne die Spoilerkeule zu schwingen. Hier wird alles schonungslos aufgedeckt und kein Blatt vor den Mund genommen. Da es sich jedoch ausnahmslos um Klassiker handelt, die ich hier inhaltlich offenlege, wird das schon nicht so schlimm sein. Denn wer in seinem Leben noch nie FIGHT CLUB oder THE SIXTH SENSE sah, den frage ich, was er hier wohl zu suchen hat?

 

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Also, Mindfuck ist erstmal gar kein Genre, sondern vielmehr ein Resultat, das Ergebnis manipulativer Erzähltechniken. Ein Storytwist, ob nun am Anfang oder am Ende, macht dabei noch keinen Mindfuck aus. Wir unterscheiden hier und heute zwischen Mindfuck und twistorientiertem Storytelling, also Filme mit überraschenden, unerwarteten Wendungen, egal ob am Anfang, in der Mitte oder am Ende – von mir als Twist Movies bezeichnet. Denn es verhält sich wieder einmal so, dass ein Mindfuckfilm durchaus ein überraschendes Ende haben kann, es aber nicht haben muss. Auch ist nicht jeder Twist Movie auch gleichzeitig Mindfuck, obwohl diese Aussage nicht haltbar ist. Denn jeder muss für sich entscheiden, wie sehr er sein Hirn von einem Film bespringen lassen will.

 

 

Mindfuck, Twist-Movie und surrealistische Erzählweise

 

Das klingt in erster Linie mal ziemlich kleinkariert. Aber es gibt in dieser Auffassung von Mindfuck und Twist Movie durchaus gravierende, dramaturgische Unterschiedlichkeiten. Zudem möchte ich noch einen Begriff in die Runde werfen, der gleich einen ganzen Stapel Filme aus diesem Komplex eliminiert – der Begriff surrealistische Erzählweise. Wir haben uns surrealistischen Filmen bereits in Teil 14 der kleinen Genrefibel angenommen. Als Mindfuck-Film wird häufig MULHOLLAND DRIVE von David Lynch genannt und ja, dieser Film kann Dein Gehirn ficken, so viel steht fest. Aber surrealistische Filme wie die von Lynch, Buñuel oder Jodorowsky funktionieren doch auf einer anderen erzählerischen Ebene. Wo der Surrealismus Dinge unscharf darstellt, bietet der klassische Mindfuck eher eine detaillierte, scharfe Betrachtungsweise. Ist die Entschlüsselung von surrealistischen Erzählungen mehr eine Interpretationsfrage, dekodiert sich Mindfuck eher als eine komplexe, logische Bastelanleitung.

 

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Warum filmischer Surrealismus und Mindfuck häufig gleichgesetzt werden, liegt darin begründet, dass beide Erzähltechniken auf einen Effekt am Zuschauer abzielen. Doch tun sie das in unterschiedlicher Herangehensweise. Was dem Mindfuck-Film zugrunde liegt, ist eine tiefe innere Logik, jedoch nicht bezogen auf eine Logik hinsichtlich dem Vergleich mit der Realität, sondern einer in sich stimmigen Logik der Realität in der Geschichte.

 

In vielen Mindfuck-Filmen wird eine einzigartige Filmrealität konstruiert, welche durch inhaltliche Stützstreben zusammengehalten wird. In dieser Welt sind die Gesetze zwar different zur Wirklichkeit, aber in sich logisch und bedingen die Geschichte, die Figuren, einfach alles. Das muss nicht ultra-komplex sein, erst recht nicht surrealistisch. Ein Mindfuck funktioniert so, dass man die Ausgangslage sehr gut verstehen kann, sich aber mit den Auswirkungen auf Story und Figuren das Hirn zermartert.

 

 

Somit kann der Mindfuck-Film häufig im phantastischen Sektor verankert sein, im Science-Fiction oder Fantasybereich, aber auch im Thriller und Horrorfilm. Beim Thema Mindfuck denkt man häufig an schwer zugängliche, komplexe und verwirrende Erzählungen. Dabei ist der Kern meist ein schlichter und einfacher Storypunkt, erst die Entwicklung der Geschichte innerhalb dieser festen Gesetzmäßigkeiten lässt die ein andere andere Denknuss entstehen. In MATRIX ist es eine künstliche Welt, ein Leben in einer Simulation, in INCEPTION die Möglichkeit, Träume zu manipulieren.

 

Was Mindfuck ausmacht ist, wie man die Realität der Geschichte um diesen festen Kernpunkt auslegt, über die Figuren transportiert und dem Zuschauer vermittelt. Noch treffender bilden das Filme über den Themenkomplex Zeitreisen ab, denn wenn man die logischen Konsequenzen einer Zeitreise und die Veränderung von Raum und Zeit auf eine Geschichte und auf Figuren überträgt, entsteht genau das, was Mindfuck kennzeichnet und man deswegen auch so tolle Mindmaps zu Filmen wie INCEPTION und BUTTERFLY EFFECT findet – es ist die in sich geschlossene Logik solcher Geschichten.

 

 

 

Diese in sich geschlossene Stringenz der Logik ist der Unterschied zu einer surrealistischen Erzählweise, die Logik und Nachvollziehbarkeit häufig verzerrt. Beide erreichen den gleichen Effekt beim Zuschauer, nur mit unterschiedlichen Mitteln. Irgendwann wird sich ob der Verzerrung der Logik in MULHOLLAND DRIVE beim Zuschauer das Gefühl “What The Fuck?” einstellen.

 

 

THE GAME (1997)

 

Was da passiert, ist nicht wirklich greifbar, aber faszinierend. In INCEPTION hingegen resultiert das WTF-Gefühl aus der nachvollziehbaren Logik. Der Sachverhalt ist glasklar, die daran gegliederte Logik der Ereignisse fördert eine nachvollziehbare Kausalität und fordert erhöhte Aufmerksamkeit. Denkt man sich bei MULHOLLAND DRIVE: “WTF? Was geht hier ab?” ist es bei INCEPTION: “WTF? Hier geht was ab!”

 

Links blinken, Rechts abbiegen

 

Mindfuck bedeutet auch, an seinen eigenen Sinneseindrücken zu zweifeln. Hieraus ergeben sich auch Unterschiede zu twistorientierten Geschichten. Ich will zwei Begriffe in den Raum werfen, die man nicht so leicht auseinander halten kann: manipulatives Erzählen und unzuverlässiges Erzählen. Beispiele für typischen Mindfuck sind INCEPTION, MATRIX, MEMENTO oder THE BUTTERFLY EFFECT, die durch das Installieren einer Welt mit ihren eigenen Gesetzen und den daraus abhängigen Folgen für Geschichte und Figuren funktionieren.

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Diese Beispiele sind allesamt nicht wirklich twistorientiert und somit technisch weniger manipulativ, denn sie beziehen ihre Faszination stärker aus der installierten Welt und der Geschichte. Filme wie STAY oder THE MACHINIST allerdings, die zwar ebenfalls einen hirnfickenden Effekt haben können, sind stark auf eine Wendung, einen Twist, ausgelegt. Um das zu erreichen, bedienen sich Autoren und Regisseure oft manipulativer Werkzeuge und treiben ein doppeltes Spiel mit dem Zuschauer.

 

 

Sie erzählen die Geschichte so, führen den Zuschauer so, wie sie es wollen, damit sie die Kontrolle über die Wirkung der Geschichte, das Erkennen, stärker bestimmen können. Manipulatives Erzählen, das galt nicht immer als innovativer Kniff. Ich selbst habe mir von Produzenten böse Worte über manipulatives Erzählen anhören müssen. Das war allerdings schon ein Weilchen her.

 

 

THE BUTTERFLY EFFECT (2004)

 

Es ging dabei um die Frage, ob ein Autor oder Regisseur das Recht hat, mit seinem Publikum umzuspringen, wie er vermag. Man muss das Publikum ernst nehmen, man muss ehrlich sein, man darf es nicht betrügen, das hab ich oft gehört. Das kommt allerdings aus einer Zeit vor dem Jahr 2000, wo man in Deutschland noch sehr konservativ mit neuen Erzähltechniken umgegangen ist. Das ist in dem Fall mal keine allgemeine Kritik am heimischen Filmmarkt, das war international nicht unbedingt anders. Wenn wir über Mindfuck oder Twist Movies reden, dann reden wir über ein wirklich junges Gebilde, welches resultierte, als Filmemacher sich nicht immer wieder den gleichen dramaturgischen Richtlinien unterwerfen wollten.

 

Manipulatives Erzählen ist eine Folge jahrelanger klassischer Prägung. Es liegt nichts schlechtes in diesem Begriff, meines Erachtens nach. Denn dramaturgische Regeln aufzubrechen oder sich ihrer zu eigenen, manipulativen Zwecken zu bedienen, ist ja die Folge von exzellenter Beobachtungsgabe zwischen klassischen Dramaturgieträgern und deren Wirkung auf das Publikum. So sind der Großteil von Mindfuck-Filmen auch relativ neu und nahmen erst ab 2000 so richtig Fahrt auf. Über die Jahre haben Erzähltechniken im Kino den Zuschauer geprägt, dass sich ein Manipulieren ob dieser Prägung auch erst in jüngerer Zeit abbildet.

 

 

Der unzuverlässige Malcom Crowe

 

Allerdings wird manipulatives Erzählen zum Großteil nur dahingehend eingesetzt, um den Zuschauer inhaltlich zu überraschen. Ein Twist, eine überraschende Wendung, kann zum einen aus der Karikatur zwischen etwas Vertrautem und etwas völlig Unerwartetem entstehen oder aufgrund von falsch gelegten Fährten. Manipulieren bedeutet hier absichtlich etwas anders zu meinen als beabsichtigt. Doch das ist nur die halbe Miete, denn twistorientierte Filme funktionieren nicht nur ob der Manipulation, der Veränderung, sondern auch durch geschicktes Unterschlagen von Ereignissen – womit wir bei dem Begriff “Unzuverlässiges Erzählen” kommen.

 

Literarische Beispiele für diese Erzähltechnik sind die Abeuterer von Don Quixote und Sancho Pansa oder die des Baron Münchhausen. Beim Film ist das anders, weil es sich um ein visuelles Medium handelt. Um diesen Begriff nicht ganz abstrakt zu behandeln, will ich das an einem Beispiel festmachen. Wie es Regisseure gibt, die zweifelsohne einer surrealistischer Erzählweise oder Visualität zugetan sind, gibt es auch Filmemacher, die als Manipulatoren gelten. David Fincher hat sich mit seinen ersten Filmen den Namen Manipulator verdient, weil er Figuren und Geschichte am Ende in einen markerschütternden Twist geführt hat, und somit auch den Zuschauer. Allerdings verlangt Fincher mehr von einem Stoff als eine überraschende Wendung am Ende.

 

Auch M.Night Shyamalan ist bekannt dafür, seine Filme in einem überraschenden Twist enden zu lassen. Der arme Mann hat diese Erwartungshaltung allerdings nicht wirklich verdient, es ist das Resultat einer Glanzleistung, die ihn in diese Erwartungshaltung des Konsumenten gepresst hat und der er kaum wieder gerecht wurde. Beschäftigen wir uns mit THE SIXTH SENSE aus dem Jahr 1999, der ein sehr gutes Beispiel für unzuverlässiges Erzählen darstellt.

 

Jeder weiß, am Ende erfahren Bruce Willis Figur Malcom und der Zuschauer, dass Malcom bereits tot ist. Am Anfang der Geschichte wird Malcom angeschossen, die Story springt ein Jahr in die Zukunft und Malcom, ein Kinderpsychologe, lernt den jungen Cole kennen, der ihm anvertraut, tote Menschen sehen zu können. THE SIXTH SENSE ist ein Twist Movie, denn er arbeitet auf einen fundamentalen Twist hin. Er ist in gewisser Weise aber auch ein Mindfuck-Movie, denn er installiert eine Welt mit eigenen Gesetzen und einer stringenten Logik, eine Welt, in der Geister existieren. Die Logik dieser simulierten Realität wird in vier Sätzen zusammengefasst, die am Ende alles erklären:

 

Die drei Grundregeln des Twist-Konstruktes in THE SIXTH SENSE (1999)

Diese drei Punkte sind der Bauplan der Dramaturgie und der Schlüssel der Lösung, des Twists. Anhand dieser drei Punkte wird einem der Twist praktisch auf dem Silbertablett serviert. Warum er dennoch funktioniert und überrascht, ist die Folge einer unzuverlässigen Erzählweise.

 

Shyamalan liefert immer wieder Szenen, in denen er Malcom, Cole und andere arrangiert und man nicht klar erkennt, was wirklich passiert. Doch viel entscheidender für die Wirkung des Twist ist nicht das, was Shyamalan erzählt, sondern das, was er nicht erzählt. Der Film THE SIXTH SENSE will dem Zuschauer weis machen, Malcom ist tot, er merkt es aber nicht. Geht man streng mit Logik an diesen Umstand heran, erkennt man zweifelsfrei, dass es Momente geben muss, in denen Malcom auffallen muss, dass er tot ist. Der Film spart solche Momente aber aus, er erzählt sie nicht und bleibt deswegen innerhalb dessen, was er erzählt, logisch. Diese Unzuverlässigkeit des Erzählens ist eine Technik, die den Twist als solchen überhaupt erst entstehen oder funktionieren lassen und nennt sich auch underreporting.

 

Das Manipulieren des Zuschauers ist in THE SIXTH SENSE aber in vielen Dingen verborgen. Viel funktioniert in der Erwartungshaltung des Konsumenten und seiner Prägung. Obwohl Cole (Haley Joel Osment) dem Zuschauer alle wichtigen Fakten für den Twist liefert (Er kann toten Menschen sehen, die sehen sich nicht gegenseitig, sondern nur das, was sie wollen und die wissen nicht, dass sie tot sind) fällt der Zuschauer auf einfachste Prägungen herein, weil diese ein Resultat jahrzehntelangem Filmkonsums sind. Das beginnt bei der Besetzung, einen Actionhaudegen wie Bruce Willis, der erst ab THE SIXTH SENSE im Dramafach glänzte und dem man nicht abnimmt, in den ersten Filmminuten zu sterben. Er steht als Synonym für einen Helden und seine Besetzung ist ein klares Manipulieren an der Erwartungshaltung des Zuschauers.

 

Schlüsselszene unzuverlässiger Erzählweise

Darüber hinaus sind es vorrangig Regieentscheidungen, die manipulativer und unzuverlässiger Natur sind. Die Szene, in der Cole nach Hause kommt und seine Mutter sowie Cole sitzen wartend im Wohnzimmer ist so eine manipulierte Szene. Sie ist logisch, sie ist doppeldeutig, aber man kann sie erst nach dem Twist richtig interpretieren. Auch die Kamera ordnet sich der Manipulation unter, es gibt keine klaren Subjektiven im Film, die genau zeigen, aha, das sieht jetzt Malcom und das sieht Cole. Es ist die Wahl der Sitzposition im Restaurant, die Malcom und seine Frau verraten, man es aber erst später versteht. Auch der Schnitt manipuliert, aber viel eher gibt er Hilfestellungen – die langsamen Abblenden symbolisieren das, was Malcom sehen will und was nicht.

 

 

“Ich bin Jack’s vollkommenes Defizit an Überraschung!”

 

Unzuverlässiges Erzählen ist demzufolge nicht nur das Weglassen von Informationen, sondern auch die absichtliche Weitergabe von Fehlinformationen. Das kann man noch besser am Beispiel FIGHT CLUB erkennen, der stärker falsche Informationen streut als entscheidende Dinge einfach nicht zu erzählen. Der Twist in FIGHT CLUB ist, dass die Figuren von Edward Norton und Brad Pitt eigentlich eine Person sind. Infos darüber finden sich bereits in den ersten Filmminuten, in der Ausstattung (gleicher Koffer im Flugzeug), darin, dass die Figur von Norton gar keinen Namen trägt, er dennoch über Jack spricht und das beide nie gleichzeitig in einem Raum sind, wenn andere Figuren es sind.

 

Wichtig für die Funktionalität solcher Twist ist das installieren einer erzählerischen Basis, in der die Manipulation bereits drin steckt. Das, was man mit Story und Figuren am Anfang setzt, hat direkte Auswirkungen auf das Ende, den Twist, deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch von planting und pay off, also Säen und Ernten.

 

 

INCEPTION (2010)

 

Manipulatives und Unzuverlässiges Erzählen sind die wichtigsten Werkzeuge für Mindfuck- und twistorientierte Stoffe. Weniger clever sind Übererklärungen und nachträglicher Pfusch am Bau. Denn obwohl Filme wie INCEPTION oder SHUTTER ISLAND großartiges Mindfuck-Kino darstellen, sie geben sich letzten Endes zu stark der Übererklärung hin. Doch ein Twist ist viel mehr etwas organisches als dass er durch eine Erklärung ausgelöst wird. Die besten Twists erlebt man wie einen Schlag ins Gesicht, wenn das gefickte Gehirn endlich bereit ist, Verknüpfungen einzugehen. Das funktioniert, so man es nicht vorher ahnt, in THE SIXTH SENSE hervorragend, wie auch in THE GAME oder ZWIELICHT auf einer anderen Ebene als die der wörtlichen Erklärung. Es ist eher so, dass der sprichwörtliche Groschen fällt.

 

Dieser Effekt ist einzigartig und funktioniert kein zweites Mal. Dafür kann ein Twist-Movie bei der Zweitsichtung ein ganz anderes Filmerlebnis darstellen. Denn mit dem Wissen um den Twist sieht man einen Film plötzlich aus einem ganz anderen Blickwinkel, man wird zu Detektiv, der die falschen Fährten des Filmemachers lesen kann, erkennen kann. Das führt dazu, dass ein Mindfuck- oder Twist-Movie beim zweiten oder dritten Mal immer noch eine spannende Angelegenheit sein kann.

 

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Man kann so unendlich viel entdecken und kombinieren in Filmen wie FIGHT CLUB, THE SIXTH SENSE, MEMENTO oder STAY, so richtig hilfreich für den eigenen Entwicklungs- und Schreibprozess ist das alles nicht. Denn ein Twist resultiert selten aus einer Geschichte, viel mehr ist ein Twist der Dreh- und Angelpunkt der Story und der Figurenanlage. Nach dem Erfolg von THE SIXTH SENSE und dem Konstrukt “Figur-ist-bereits-tot” sprossen unzählige Horrorfilme aus dem Boden, die diesen Twist aufgegriffen und umgetopft haben. THE OTHERS oder STIRS OF ECHOES sind da noch die besten Ableger, doch der Großteil ist ein lahmer Gaul, der nicht wirklich überzeugen kann. Denn einen Twist-Movie entwickeln zu wollen, ist eine denkbar schlechte Herangehensweise im Bereich Storytelling. Dafür ist der Twist oft zu starr und festgelegt, dass aus ihm viel mehr die Geschichte resultiert als anders herum. Wenn man sich als Autor hinsetzt und eine Geschichte mit Twist entwickeln möchte, hat man meist schon verloren.

 

 

Im gebeutelten Hirn eines Filmemachers

 

Wenn, dann beginnen dererlei Überlegungen immer mit dem Ende der Geschichte. Willis ist tot, Norton und Pitt sind Aspekte einer Persönlichkeit, am Ende ist alles ein Traum, ein Videospiel, eine Matrix, eine Nahtoderfahrung. Andersherum wird es schwierig, denn eine straighte Nach-vorn-Entwicklung von Figuren und Geschichte bedingt andere Techniken als die Manipulation. Hinzu kommen häufig Tricks und Kleister, denn im Falle von elementar-logischen Fragen weichen viele Autoren in die vermeintliche Freiheit der Surrealität aus, was im Endeffekt aber nur bedingt erfüllend ist. Vielleicht gibt es keinen konkreten Rat für das Schreiben eines entscheidenden Twists oder puren Mindfucks. Viele Tipps sind eher grundsätzlicher Natur, deswegen aber noch lang nicht lapidar.

 

Mindfuck ist das Ergebnis davon, dass sich junge Filmemacher nicht länger mit den althergebrachten Erzählformen herumschlagen und neue Wege im Storytelling gehen wollten. Das betrifft non-lineares Erzählen, unzuverlässiges Erzählen bis hin zum scheinbaren Betrug der Manipulation. Aus diesem Grund ist die größte Hilfe für Autoren die der Analyse. Nicht nur von Mindfuck-Geschichten, vorrangig von klassischer Erzählweise. Denn daher kommen die meisten Ideen, wie man mit der Erwartungshaltung des Publikums spielen kann. Filme immer wieder und wieder schauen kann einem ein gutes Gefühl und Verständnis für Zeit und Erzählfluss geben. Man kann dabei auch erkennen, dass Filme mit Twist und Mindfuck-Filme erzählerisch doch unterschiedliche Wege gehen.

 

Trotz der Benutzung diverser Handwerkzeuge sind die meisten Beispiele für Twist-Movies eher geradlinig und schlicht, denn so ist der Twist stärker, weil nachvollziehbarer. Im Mindfuck braucht es diese Nachvollziehbarkeit auch, denn darauf beruhen die Gesetzmäßgkeiten einer simulierten Welt, nur braucht es den Twist nicht. Nur im Bereich surrealistischer Erzählweise sind innere Logik und Stringenz vernachlässigbar, so sie nicht völlig der Willkür entspringen.

 

Ein Twist funktioniert über das Erkennen, das Ordnen von Fakten, von innerer Logik. Mindfuck ist begründet in einer Idee, der man gnadenlos folgt. Beides scheint gut kombinierbar. Dutzende Horrorfilme nutzen die Mindfuck-Lösung, aber die verpufft meist und lässt einen unbefriedigt zurück. Zu stark werden Figuren gebogen, zu sehr die Geschichte verschachtelt, als es ihr gut tut. Und Mindfuck inklusive Twist ist wohl die Königsdisziplin, die selten gelingt. Ich persönlich kann sogar davon abraten, auf Biegen und Brechen einen Twist heraufbeschören zu wollen. Das hat bereits großen Regisseuren und Autoren das Genick gebrochen, siehe M. Night. Shyamalan, der dies nach THE SIXTH SENSE nur bedingt wiederholen konnte. David Fincher ist aus dieser Falle entwachsen, ihm wird nicht mehr abverlangt, dass er Gehirne knechtet.

 

Wirklich neue Konstrukte an Twists gibt es zudem nicht wie Sand am Meer. Die Ausprägungen sind überschaubar, wie oft hat man es mit gespaltenen Persönlichkeiten zu tun (IDENTITÄT), mit verdrängten Erinnerungen und Erlebnissen (TALE OF TWO SISTERS), mit der Konfrontation des eigenen Todes (THE OTHERS) oder der eigenen Schuld (HIDE AND SEEK). Das gelingt manchmal (THE MACHINIST), manchmal überhaupt nicht (HIGH TENSION). Mindfuck und Twists sind schwierige Angelegenheiten und man darf sich ob des Erfolges von THE SIXTH SENSE nicht täuschen lassen, solche Stoffe sind ob ihrer Komplexität und Struktur weniger gute Garanten für´s Kinogeschäft. Aber Zeiten ändern sich und auch die Aufnahmebereitschaft des Publikums. Auch im Fernsehen und im Bereich Serie sind dramaturgische Hilfsmittel wie manipulatives oder unzuverlässiges Erzählen mittlerweile ein beliebtes Instrument, welches auch erfolgreich sein kann (LOST, FRINGE).

 

 

Fuck The Twist!

 

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Auch wenn Filme wie LOST HIGHWAY oder MULHOLLAND DRIVE vieles auf den Kopf stellen, typisches Mindfuck-Kino stellen sie nicht dar. Mindfuck ist eher eine Weiterentwicklung eines Puzzlespiels als ein dadaistischer Trip, der seine Auflösung wesentlich konkreter, schärfer formuliert. Diese kann ein Twist sein, muss aber nicht.

 

INCEPTION verfügt nicht über einen elementaren Storytwist, dem gegenüber ist ZWIELICHT kein typischer Mindfuck-Film. Viele Filme funktionieren nach dem Prinzip, dass sowohl Zuschauer als auch Protagonist am Anfang der Geschichte über ihr Schicksal mehr oder minder Bescheid wissen. Der Zuschauer nimmt Teil an seiner Entwicklung, verfügt über mehr Informationen als die Figuren. Damit ein richtiger Mindfuck entsteht, ist es aber von Nöten, den Zuschauer wie den Protagonisten so lang wie möglich im Unklaren über seinen Zustand zu lassen, meist bis zum bitteren Ende. Nicht nur im Unklaren, sondern viel mehr in der Vorgaukelei falscher Tatsachen.

 

 

Das führt dazu, dass das Ende von Mindfuck-Filmen per se überrascht, aber sich nicht nur durch den Twist definiert. So kann auch ein Film wie PANIC ROOM ein bestürzendes Ende haben, obwohl es gar kein wirkliches Ende erzählt, sondern dem Zuschauer viel mehr vorenthält. Doch auch das ist genau eine Konsequenz der Erwartungen, die man an David Fincher nach THE GAME oder FIGHT CLUB projiziert und die das fehlende Ende ebenso zu einem überraschenden Ende macht.

 

 

STEREO (2014) ist ein Paradebeispiel für einen intelligenten Mindfuck-Trip

 

Mindfuck und Twist, das scheint zusammenzugehören und eben auch nicht. Es ist ein schmaler Grat zwischen Sieg und Scheitern, denn nicht häufig wird ein solcher Film nur über das Wirken seines Twists bewertet. Es ist schwer, so etwas zu konstruieren. Aber manchmal entsteht so eine Idee innerhalb von klassischem Storytelling, als Konsequenz der eigenen Vertrautheit, die von einer obskuren Idee durchbrochen wird. So hat man entweder von Anfang an einen Twist vor Augen oder der Twist liegt plötzlich vor einem, ohne dass es so geplant war. Vielleicht muss man sich erst davon befreien und sagen: “Scheiß auf den Twist!”, weil diese Herangehensweise mehr blockiert als freischaufelt? Vielleicht ist es aber auch nur einfacher, überrascht zu werden als selbst zu überraschen? Vielleicht existiert das alles nur in Deinen Kopf? Wer kann das alles schon so genau wissen?

 

 

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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.

 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

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4 Comments

  1. Antworten

    […] Twists und Turns aber ist die Wirkungsweise von „Planting and Payoff“ nicht so gut nachvollziehbar, zum […]

  2. Antworten

    […] Die kleine Genrefibel Teil 29: Mindfuck « traumfalter filmwerkstatt | stoffentwicklung – gen… 29. November […]

  3. Antworten
    American Horror Stories 24. Januar 2018

    […] Unberechenbarkeit gegenüber Figuren, ein Storytelling, welches den einmaligen Schock eines Twists einer Weiterentwicklung der Figuren vorzieht, häufig zum Selbstzweck, hat nämlich Grenzen. Da die […]

  4. Antworten

    […] besetzt mit Adam Scott, Britt Lower, John Turturro, Christopher Walken und Patricia Arquette. Mindfuck pur vom Intro bis zum Abspann, […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de