Die kleine Genrefibel Teil 15: Märchenfilme

Ach ja, Märchenfilme, das ist ein schönes Thema für Weihnachten. Da hab ich aber kürzlich gehört, dass das nervigste an Weihnachten, neben Weihnachten an sich, nicht “Last Christmas” von Wham wäre, sondern der Film DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL. Entweder direkt nervig, weil einem dieses Klingeling-Lied aus den Ohren heraussuppt oder indirekt nervig, weil alle bei der bloßen Nennung des Titels DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL total hysterisch ausflippen, wie schön das is und dass man das Weihnachten immer kucken muss, weil man das jedes Weihnachten gekuckt hat. Das ist wie jedes Silvester dieses dämliche DINNER FOR ONE zu schauen und immer wieder lachen zu müssen, wenn der Butler über den Eisbären stolpert. Oder war´s ein Tiger? Woher diese plötzliche Aggressivität? Es soll doch besinnlich zu gehen heuer. Am Besten wir fangen nochmal an.

 

 

Für die Weihnachtsausgabe der kleinen Genrefibel standen zwei Themen zur Auswahl, Christmas Slasher und Märchenfilme. Für die Erwachsenen gibts die Schlitzfilme auf Facebook, wir wenden uns hier aber Märchenverfilmungen zu. Vom Aschenbrödel-Überdruss mal abgesehen machen Märchen selbstverständlich Spaß zur Weihnachtszeit, und das nicht erst, seit die HERR DER RINGE Franchise das Weihnachtsfest in seinen Orkklauen festgekrallt hat. Märchen als Genre zu behandeln, ist mal wieder ein zweischneidiges Schwert, denn man kann unter märchenhaften Filmen und Filmen, die Adaptionen von Märchen sind unterscheiden. Beim Ersteren kommt man dabei in Teufels Küche selbst, denn Märchen besitzen so grundlegende, dramaturgische Essenzen, dass Märchenstrukturen in sämtlichen Bereichen des phantastischen Films auftauchen und Spure hinterlassen haben.

 

 

Ich bin so satt, ich mag kein Blatt…Mäh!

 

Grundmotive von Märchen sind eben der eherne Kampf von Gut gegen Böse, von Archetypen wie die böse Stiefmutter, die böse Königin, die verwunschene Prinzessin, der eitle Prinzengalan und so weiter. Märchenthemen speisen unzählige Horror- und Fantasyfilme, aber auch Komödien á la PRETTY WOMAN besitzen das Grundgerüst eines Märchens. Wenn man so an die Materie herangeht, kann fast jeder Film ein Märchen sein.

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Beschränken wir uns deshalb größtenteils auf Filme, die tatsächliche Adaptionen von Märchen sind, aber auch ein paar Grenzgänger, die Märchenthemen auf interessante Weise interpretiert haben.

 

 

 

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Die Geschichte des Märchenfilms ist deswegen so unüberschaubar, weil jedes Land und jede Region ihr eigenes Füllhorn an Sagen, Legenden oder Märchen besitzt. Weil Weihnachten ist, wollen wir es mal ruhig angehen lassen und die Gans,…ne, die ganze filmgeschichtliche Entwicklung des Märchenfilms einfach mal beiseite schieben. Damit man nicht wieder gezwungenermaßen DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL an den Weihnachtsfeiertagen schauen muss, picken wir uns doch lieber ein paar interessante Märchenhighlights heraus, die nicht so offensichtlich sind.

 

Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?

 

Ein paar der bekanntesten und beliebtesten Märchenverfilmungen stammen aus den DEFA-Studios, allen voran DAS KALTE HERZ von 1950 von Paul Verhoeven (der nichts mit Paul “ROBOCOP” Verhoeven zu tun hat!), mit Erwin Geschonnek als Holländer Michel. Er war der erste DEFA-Farbfilm und hat auch heute noch eine hypnotische Wirkung, ein unglaublich düsteres und poetisches Meisterwerk, nur definitiv nichts für Kinder.

 

Ich selbst hatte ja mit ROTKÄPPCHEN meine erste Kinoerfahrung gemacht. Ich finde den verkleideten Wolf immer noch gruselig. Mein liebster DEFA-Märchenfilm aber ist GRITTA VON RATTENZUHAUSBEIUNS (zur Retro Review gehts hier lang).

 

 

Ich glaube, ich habe wohl jeden relevanten DEFA-Märchenfilm gesehen, dafür klafft bei mir eine große Lücke, wie sich der Märchenfilm in der BRD gestaltet hat. Bei meiner Recherche stieß ich auf Autor und Regisseur Fritz Genschow, der in den fünfziger und sechziger Jahren die bekanntesten Grimm-Märchen verfilmt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich vielleicht doch ein paar davon kenne. Sollte es jemanden geben, der sich besser mit Märchenverfilmungen der BRD auskennt, so male er dieses Gedankenstroh zu purem Bloggold.

 

Das Fernsehen ist eine üppige Weide für Märchenstoffe. In den letzten Jahren gab es so etwas wie ein Revival an Märcheninterpretationen, einerseits die PRO SIEBEN MÄRCHENSTUNDE, andererseits die Reihe MÄRCHENPERLEN auf dem ZDF und SIEBEN AUF EINEN STREICH im Ersten. Die PRO SIEBEN MÄRCHENSTUNDE war schon nicht so schlecht, klamaukig, ja, aber doch irgendwie sympathisch. Den Märchenerzähler Thomas Fritsch fand ich toll, der Bern Hoecker-Running-Gag hingegen, naja. An die MÄRCHENPERLEN kann ich mich gar nicht entsinnen, wohl aber an die ARD-Staffeln von SIEBEN AUF EINEN STREICH, die es immerhin auf 26 Filme gebracht haben.

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Ein paar sind wirklich toll, vor allem, weil sie behutsam modernisiert wurden und im Gegensatz zur PRO SIEBEN MÄRCHENSTUNDE eher klassisch inszeniert wurden. Spaß macht vor allem TISCHLEIN DECK DICH mit Winfried Glatzeder, BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN mit Andrea Sawatzki und FRAU HOLLE mit Mariane Sägebrecht und Herbert Feuerstein.

 

DIE MÄRCHENBRAUT (ARABELA), 1979 – 1981

BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN (2008)

 

Bei TV-Märchen fällt auch oft die Serie PRINZESSIN FANTAGHIRO, eine deutsch-italienische Koproduktion, die ich zwar schrecklich fand, die aber eine große Fangemeinde besitzt. Ich war indess Feuer und Flamme für Prinzessin Arabela, Rumburak und den Zauberring aus der tschechischen Serie DIE MÄRCHENBRAUT, welche ich jedem Märchenfan wärmstens ans Herz legen kann.

 

Kikeriki! Kikeriki! Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!

 

Märchenfilme gibt es für Kinder, für Halberwachsene und Volljährige. Nach dem Erfolg der HERR DER RINGE Verfilmungen haben Märchen in den letzten Jahren auch wieder im Fantasyskino Einzug gehalten. Aber so richtig funktioniert das nicht, denn der moderne Fantasyfilm ist eher actionreich, Märchen hingegen verlangen nach einer ruhigen, getragenen Erzählweise.

 

 

SNOW WHITE AND THE HUNTSMAN (2012)

 

Auch sind die vermeintlich großen Märchenblockbuster wie SNOW WHITE AND THE HUNTSMAN oder RED RIDING HOOD eher für eine speziellere Zielgruppe zugeschnitten, für Fans von Fantasybombast oder twilightscher Gefühlsduselei.

 

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Wenn schon Kitsch, dann AUF IMMER UND EWIG (EVER AFTER) aus dem Jahr 1998 nach Motiven des Märchens Aschenputtel, ein absolut fantastischer Film mit Drew Barrymoore und Anjelica Houston als böse Baroness.

 

Filme zwischen Kinderunterhaltung und Horrormärchen wie DIE BRAUT DES PRINZEN oder PENELOPE basieren zwar auf keinem literarischen Märchen, sind aber im Kern echte Märchenfilme für erwachsene Kinder.

 

Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang auch LADY IN THE WATER von M.Night Shyamalan, von den ich anfangs schwer enttäuscht war. Doch das war nur der erste Eindruck, damals dachte ich noch, Shyamalan könnte wieder zu Höchstform á la THE SIXTH SENSE auflaufen. Obwohl der Film Bryce Dallas Howard und Paul Giamatti im Vergleich zu Shyamalans späterem Output ein Meisterwerk ist, kam ich mit dem modernen Märchen Anfangs nur schwer klar.

 

EVER AFTER (1998)

LADY IN THE WATER (2006)

 

Ich muss aber sagen, LADY IN THE WATER ist ein extrem unterschätzter Film, der sich bei jedem Mal Schauen mehr entfaltet. Es fängt damit an, dass der unvergleichliche Score von James Newton Howard im Ohr kleben bleibt und mit dem Auftauchen der Nymphe namens Story echte Magie spürbar ist.

 

 

Ruggidiguu – Blut ist im Schuh!

 

Zu guter Letzt werfen wir noch einen Blick auf Märchen für Erwachsene. Von reinen Horrorstreifen abgesehen gibt es einige tolle Filme zwischen Dark Fantasy, Coming-of-Age und Surrealismus. Gesehen haben muss man definitiv ZEIT DER WÖLFE (THE COMPANY OL WOLVES) von Neil Jordan als auch VALERIE – EINE WOCHE VOLLER WUNDER, die dunkle, doppeldeutige Märchen voller bizarrer Optik, verschwenderischer Ausstattung und natürlich Sex sind.

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Auch LA BÊTE aus dem Jahr 1975 erzählt eine Erwachsenenversion von “Die Schöne und das Biest” als metaphysisches Erotikdrama. Diese drei Filme erzielen durch ihre Atmosphäre, der surrealistischen Symbolhaftigkeit und der alptraumhaften Inszenierung wesentlich mehr Wirkung als direkte Horrormärchenfilme.

 

 

BROTHERS GRIMM (2005)

 

BROTHERS GRIMM oder HÄNSEL UND GRETEL HEXENJÄGER sind dabei mehr Fantasy, bestückt mit ein paar Horrorelementen. Filme wie RUMPELSTILZKIN hingegen haben zwar eine märchenhafte Stimmung, aber wirklich Horror strahlen die wenigsten aus. So einen richtigen Märchenhorrorklassiker gibt es eigentlich gar nicht, aber unzählige Horrorfilme, von SUSPIRIA über TANZ DER TEUFEL sind allesamt von Märchen-Archetypen geprägt. Mehr noch, tolle Variationen von Märchenstoffen verstecken sich auch hinter BLACK SWAN, HARD CANDY, HANNAH, PANS LABYRINTH oder THE FALL.

 

SNOW WHITE – A TALE OF TERROR (1997)

HÄNSEL & GRETEL HEXENJÄGER (2013)

 

Ein ganz spezieller Tipp für erwachsene Märchenkost stellt dann aber der Film GRIMMS MÄRCHEN VON LÜSTERNEN PÄRCHEN von 1969 dar, in der Märchenklassiker von Schneewittchen, Dornrösschen bis Aschenputtel als Sextrashfarce durch den Kakao gezogen werden – echte bundesdeutsche Exploitation vom Feinsten, aber mit Sicherheit nicht das geeignete zwischen Frühstück und Gänsebraten.

 

 

Übermorgen hol ich mir der Königin ihren Blu-ray-Player!

 

Ja, liebe Kinder, da sind wir heut mal früher fertig, ne. Was Märchenverfilmungen der Zukunft betrifft, ich glaube ja, dass es da in den kommenden Jahren zu so mancher Auferstehung kommen wird.

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Denn das internationale Märchenportfolio ist riesig, die Herren Disney werden Animationsmärchenfilmen wie RAPUNZEL – NEU VERFÖHNT oder DIE EISKÖNIGIN – VÖLLIG UNVERFROREN mit Sicherheit weitere neue Adaption von Märchenklassikern folgen lassen. Und das ist gut so, denn beide Filme sind echt drollig.

 

 

Großartiges Märchenmashup in INTO THE WOODS (2015) von Rob Marshall

 

Mit MALEFICENT erschien eine gelungene Dornröschen Adaption und zwar aus der Sicht der bösen Hexe, gespielt von Angelina Jolie. Kenneth Branagh brachte CINDERELLA neu in die Kinos und auch DIE SCHÖNE UND DAS BIEST kehrte als Realfilm Adaption auf die Kinoleinwände zurück. Guillermo del Toro´s PINOCCIO-Version mit Christopher Walken indess hat es nicht ins Kino gebracht, dafür startet 2018 sein neuer Film THE SHAPE OF WATER in den Kinos, welcher auch märchenhafte Züge hat.

 

 

Jedes Jahr neue Märchenfilme: MALEFICENT (2014), CINDERELLA (2015), DAS KALTE HERZ (2016), DIE SCHÖNE UND DAS BIEST (2017)

 

Also dann, Märchenfreunde. Ich wünsche Euch allen ein tolles Weihnachtsfest, und bleibt im nächsten Jahr der kleinen Genrefibel treu! Christian von Traumfalter Filmwerkstatt.

 

 

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In der Reihe DIE KLEINE GENREFIBEL habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sämtliche Genre, Subgenre, Mikro- und Nanogenre des Genrefilms vorzustellen. Eine Aufgabe, die mich bis weit nach mein Lebensende beschäftigen wird. Ich lege den Fokus auf Dramaturgie und Buch, werde mich aber auch mit der Inszenierung sowie den jeweils besten Vertretern befassen.

 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

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4 Comments

  1. Antworten
    Markus 8. Januar 2014

    Finde ja das eine Burtons in der Auflistung fehlen.
    – Edward mit den Scherenhänden
    – Big Fish
    – Sleepy Hollow
    – Corpse Bride (nach einem Russischen Märchen)
    – Alice im Wunderland (auch wenn ich den nicht mag)

  2. Antworten

    […] bald Weihnachten, also auch wieder Zeit für eine kleine Weihnachtsfibel. Im letzten Jahr waren es Märchenverfilmungen aus aller Welt und was passt besser zu Weihnachten, als Geschichten zu erzählen. Am Heiligen Abend […]

  3. Antworten
    Mathias 3. April 2015

    Mir fallen spontan noch die Filme “Das neunte Herz” sowie “Jorinde und Joringel ” ein, die ich beide als Kind sah und die durch ihre erwachsene Aufbereitung direkt eine Angst vor dem Märchenfilm als Genre geprägt haben…

  4. Antworten

    […] des Ersten Weltkrieges inszenierte Paul Wegener auch eine aufwändige Märchenfilmtrilogie. Neben traditioneller Folklore war Wegener auch von fremden Kulturen begeistert und somit neben […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de