Die digitale Seele
Wenn ich in den letzten Tagen über das ausgehende Filmjahr 2013 nachdenke, welche Geschichten mich am meisten beeindruckt haben, dann fällt mir als Erstes gar kein Film ein, sondern ein Konsolenspiel. Das ist nichts ungewöhnliches, PC- und Konsolenspiele können inszenatorisch längst mit gängiger Blockbusterware konkurrieren, wirtschaftlich ohnehin – eine Großproduktion wie GTA 5 hat ein geschätztes Budget von ungefähr 200 Millionen Euro und erzielt in wenigen Tagen weltweit Milliardenumsätze.
Genau wie beim Film fasziniert mich an Spielen schon jeher die erzählerische Komponente mehr als die technische. Ich liebe Geschichten, egal ob sie in Filmen, Büchern, Comics oder Liedtexten erzählt werden und so ist es nicht verwunderlich, dass ich vor allem von Action-Adventures und Rollenspielen abgetan war und bin. Inspirierende Abenteuer erlebte ich bereits in jungen Jahren mit GAMEBOY-Klassikern wie CASTLEVANIA ADVENTURE. Der Spriteklumpen, der Simon Belmont darstellen sollte, war allerdings mundfaul und mit seinen zwei bis drei Animationsstufen recht kümmerlich anzuschauen. Es ist aber nicht so, dass man erst Generationen später durch maximierte Rechenleistung komplexe Stories und Figuren zum Mitfühlen erleben konnte.
Bereits auf dem Super Nintendo hat mich der Tod meiner drolligen Koboldin aus SECRET OF MANA heftig mitgenommen. Hat sich einfach geopfert, die Kleine. Auch ich erlag der dramatischen Wendung in FINAL FANTASY VII, die zu Aeriths Tod führte. Sich mit einer Videospielfigur zu identifizieren, mit ihr zu leiden oder sich mit ihr zu freuen, ist nicht vorrangig der Verdienst technischer Leistungsfähigkeit, ein Pixelhaufen wie die kleine Koboldin vermag das eben so gut ein multipolygonales Gesichtsmodell.
Ich bin Konsolenspieler von Kindauf, meine erste Konsole war der ATARI 7800 mit Spielen wie H.E.R.O.. Was hat sich die Branche seitdem verändert. Früher beispielsweise waren Filmlizenzumsetzungen meist ein spielerischer Graus, heute sind sie ein Teil eines marketingtechnischen Gesamtpakets für Zielgruppen und Fans.
Ohne die ARKHAM-Teile würde mir in meinem geliebten Batman-Universum einiges fehlen. Die GOD OF WAR Teile schlagen inszenatorisch locker KAMPF und ZORN DER TITANEN. 2013, am Lebensende der current gen (PS3, XBOX 360, Wii), die ja mittlerweile bereits die last gen ist, sind zwei Spiele erschienen, die vielleicht einen kleinen Blick auf die Zukunft des Mediums erlauben, und das vorrangig in Sachen Storytelling und Interaktivität – THE LAST OF US und BEYOND TWO SOULS. So unterschiedlich beide Spiele in Sachen Story und Spielmechanik sind, beide beschäftigen sich mit der Frage, wie man einen Spieler stärker in die Spielwelt eintauchen lassen kann. Dabei gehen beide unterschiedliche Wege. Um das im Bezug auf Story und Figuren zu konkretisieren, werde ich wohl um dicke Spoiler nicht herumkommen.
In diesem Sommer erschien THE LAST OF US, das langerwartete Spiel der UNCHARTED-Macher Naughty Dog für die PLAYSTATION 3. Ich bin kein großer Freund der UNCHARTED-Serie und war damit nicht per se in freudiger Erwartung eines neuen Spiels dieser Softwareschmiede, aber THE LAST OF US hat mich seit der Vorberichterstattung fasziniert. Das lag weniger an der Geschichte um eine Zombie-Epidemie, die durch einen Pilz hervorgerufen wurde.
Es war ein Blick auf die beiden Hauptfiguren Joel und Elli, die sich ihren Weg durch eine Postapokalypse schlagen, die vergleichbar mit DIE ZUKUNFT OHNE MENSCHEN ist. In leeren Metropolen werden Wolkenkratzer von Pflanzen eingenommen, die Welt verwuchert und verwildert zusehends. Der Ausbruch der Pandemie wird in einem spielbaren Prolog erzählt, allerdings sehr distanziert über die Figur von Joels kleiner Tochter Sarah. Auf der Flucht vor dem Chaos geraten Joel, Sarah sowie Joels Bruder Tommy an einen Soldaten, der den Befehl hat, alle möglicherweise Infizierten zu erschießen. Im Handgemenge zwischen Joel und dem Soldaten fällt ein Schuss und trifft Joels Tochter. Sarah stirbt. Die Handlung springt 20 Jahre in die Zukunft.
Joel ist inzwischen ein Schmuggler, der Waren innerhalb der Quarantänezonen in Boston verschiebt. Er und seine Partnerin Tess gehen auf einen Deal mit der Widerstandskämpferin Marleen, ein, welche ihnen Waffen verspricht, wenn sie im Gegenzug eine Person zu den Fireflies, einer paramilitärischen Organisation, eskortieren. Diese Person ist ein 14-jähriges Mädchen namens Elli.
Was Joel und Tess zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, Elli ist ebenfalls mit dem Pilzerreger infiziert, doch bricht die Krankheit bei ihr nicht aus. Elli ist möglicherweise immun. Doch Joel hält weder was von Elli noch von dem riskanten Plan, sie aus der Stadt zu schmuggeln. Als Tess bei einem Angriff Infizierter verletzt wird, ist ihre letzte Bitte an Joel, Elli zu helfen. Von diesem Augenblick an sind Joel und Elli auf sich gestellt und ihre leidvolle Reise mit ungewissem Ausgang beginnt.
THE LAST OF US erzählt eine lineare Geschichte, grob aufgeteilt in vier Jahreszeiten, die als Kapitel fungieren. Rein storytechnisch bieten die Geschehnisse in THE LAST OF US bekannte Versatzstücke aus Filmen wie CHILDREN OF MEN und THE ROAD.
Auch wird einem scheinbar recht schnell klar, wohin die Reise von Joel und Elli zwischenmenschlich gehen mag. Joel, der mürrische, verbitterte und emotional abgestumpfte Einzelgänger, der seine Tochter verloren hat, der Elli als Last empfindet und sie am liebsten schnell wieder loshaben möchte. Elli hingegen wurde nach Ausbruch der Epidemie geboren, ihr ist das Leben, wie es vor dem Ausbruch war, völlig fremd. Elli ist neugierig, aufmüpfig und fordernd. Es scheint klar, dass Joel im Laufe des Spiels eine väterliche Zuneigung für Elli entwickelt, obwohl das zwangsläufig dErinnerungen an seine Tochter zurückholt. Der Plot scheint bekannt und er verläuft auch in dieser Richtung, er schlägt nur in letzter Instanz einen Haken, den ich verglichen mit Filmen ähnlicher Exposition für mutig und einmalig halte.
Unumstrittene Opfergabe
Elli könnte, bedingt durch ihre Immunität, der Schlüssel zu einem Heilmittel sein. Doch der Pilzerreger wächst im Gehirn und eine Extraktion würde Ellis Tod bedeuten. Nachdem es beide letztendlich zu den Fireflies geschafft haben, ist Elli bereit, sich für den Fortbestand der Menschheit zu opfern. Joel indessen ist das nicht. Er befreit Elli kurz vor der Operation aus dem Krankenhaus und flieht mit ihr. Am Ende belügt Joel Elli, behauptet, es gäbe weitaus mehr immune Infizierte, doch ein Heilmittel konnte nie hergestellt werden. Elli ahnt die Lüge, bittet Joel, das zu beschwören. Joel schwört, und obwohl der direkte Schluss offenbleibt, man kann in Ellis Augen deutlich sehen, dass sie ihm nicht glaubt, es aber hinnimmt.
Dass eine Figur wie Joel, getrieben durch väterliche Gefühle und Zuneigung für Elli, ihre Opferung nicht zulässt und sie am Ende rettet, ist emotional nachvollziehbar. Doch so etwas wurde in dieser Konsequenz noch nicht inszeniert. Es ist gegen das Spock´sche Prinzip, dass das Wohlergehen Vieler mehr bedeutet als das Einzelner. Das Feindbild jedenfalls rechtfertigt Joels Entscheidung nicht. Bei THE LAST OF US sind es keine rüden Wissenschaftler, denen ein Menschenleben nichts bedeutet, kein Militär, welches unbarmherzig alles dem größeren Ziel unterordnet. Bis zu einem Moment innerhalb der Geschichte empfand ich es auch als Richtig, worauf sich Elli einlassen will. Die Figur Marleen beispielsweise, die Anführerin der Fireflies, bringt verständliche Argumente vor und hat sogar eine tiefere Beziehung zu Elli, denn sie kennt sie seit ihrer Geburt. Im dramaturgischen Kontext würde man Ellis Opferung nachvollziehen können, sie vielleicht schweren Herzens dulden, weil die Argumente eindeutig dafür sprechen.
Aber diese Entscheidung liegt nicht beim Spieler. Joel stellt seine persönlichen Gefühle vor die Rettung einer Menschheit, deren grausames Antlitz vor allem nach Ausbruch der Pandemie sichtbar wurde. Man kann am Ende beide Seiten nachvollziehen, das Spiel selbst lässt aber nur eine Möglichkeit zu. Diese Möglichkeit ist streitbar, sie ist unbequem, sie führt zu einem Ende, welches nicht schwarz oder weiß ist, kein hoffnungsloses Ende, aber auch kein Happy End. Es ist nicht so, dass dieses Ende, ob der zwei Möglichkeiten, die sich früh manifestieren, einem nicht behagt. Es ist die Konsequenz der Macher, von Anfang an, dem Spieler diese Möglichkeit zu verwehren. Es gibt eine Szene, die kurz vor Ellis Rettung durch Joels stattfindet, im Operationssaal des Krankenhauses. Man kann spielerisch Elli erst dann befreien, wenn man die umstehenden Ärzte tötet.
Es liegt aber keine Entscheidungsgewalt seitens des Spielers in dieser Szene, um Elli retten zu können muss man die Anwesenden eliminieren. Innerhalb der Spielergemeinde, gemessen an den Reaktionen in Internetforen, ist diese Sequenz umstritten, wesentlich mehr als das eigentliche Ende. Es sei ein großer Unterschied, ob ich eine solche Charakterwandlung über eine Zwischensequenz erzählt bekomme oder in einer spielbaren Szene, die nur die eine storyrelevante Möglichkeit zulässt.
Scheint so, ist es aber eigentlich nicht. Ich halte das Ende für die eigentlich mutige Entscheidung der Spielemacher, die Machtlosigkeit vor Joels Taten nur eine konsequente Weiterentwicklung der erzählerischen Ebene des Spiels. THE LAST OF US ist nun mal kein interaktives Spiel. Man hat zwar spielerisch die Möglichkeit, sich zwischen offensiver Spielweise in Form von Durschlagen mit Waffengewalt und defensivem Vorgehen wie Schleichen zu entscheiden. Ein Verändern der Geschichte allerdings ist nicht möglich. Storylastige Spiele wie THE LAST OF US stehen hier Spielen gegenüber, in denen Handlungen wirklich die Geschichte und die Charakterentwicklung beeinflussen.
In RED DEAD REDEMPTION beispielweise haben die Aktionen des Spielers Auswirkungen auf das dramaturgische Gut und Böse. Ich kann mich durch meine Handlungen in einen Held oder einen niederträchtigen Charakter entwickeln. THE LAST OF US lässt das nicht zu, ich spiele dort eine Rolle, ich bin nicht Joel, wie ich beispielsweise John Marston aus RED DEAD REDEMPTION sein kann, frei in meiner Entwicklung. THE LAST OF US ist mehr spielbarer Film als es andere Spielevertreter sein wollen, vorrangig jener aktuelle Vertreter, der selbst gar kein klassisches Videospiel sein will.
Neben THE LAST OF US, GOD OF WAR: ASCENSION und GTA 5 ist BEYOND TWO SOULS eines der letzten Mammutprojekte für die auslaufende Konsolengeneration. Es wurde von der Softwareschmiede Quantic Dream entwickelt und stammt aus der Feder von Spieledesigner David Cage, der Spiele wie FAHRENHEIT oder HEAVY RAIN kreierte. Innerhalb der Spielebranche ist Cage einzigartig wie umstritten, weil seine Spiele mehr sein wollen als Videospiele. Cage sieht seine Spiele als interaktive Filme. Das wirft gleich mal auch die Frage auf, ob Spiele nicht generell interaktive Filme sind? Was Cage mit Interaktivität meint, sind stärkere Auswirkungen von spielerischen Entscheidungen auf Story und Charakterentwicklung, das allerdings in anderer Art und Weise als bei Sandboxspielen wie GTA oder RED DEAD REDEMPTION.
BEYOND TWO SOULS will nicht nur wie ein spielbarer Film wirken, das Spiel will gänzlich einer sein. Anders sind bestimmte Produktionsentscheidungen nicht zu interpretieren. Es ist nichts Neues, dass bekannte Schauspieler ihr Antlitz für Videospiele zur Verfügung stellen, selbst bevor das technisch relevant wurde gab es schon Kooperationen wie die von Bruce Willis mit den Entwicklern des Spiels APOCALYPSE für die Playstation. Für BEYOND TWO SOULS engagierte Quantic Dream die Mimen Ellen Page und Willem Dafoe, die per Motion Capture Verfahren in die Rollen Hauptfiguren Jodie und Nathan schlüpften. BEYOND TWO SOULS erzählt Abschnitte aus dem Leben von Jodie, die seit ihrer Geburt mit einer unsichtbaren, fremden Existenz namens Aiden verbunden ist. Stationen ihres Lebens zwischen ihrem achten und dreiundzwanzigsten Lebensjahr werden unchronologisch erzählt, eine Art Zeitstrahl zeigt lediglich an, wo sich diese Fragmente im Leben Jodies einordnen. Man erlebt einen Test ihrer übernatürlichen Fähigkeiten als Kind, dann gibt es Sprünge in Jodies Jugend innerhalb der Behörde für paranormale Aktivitäten, dann zu einem geheimen Einsatz, dessen Hintergrund im Dunkeln liegt.
Eine derartige nichtlineare Erzählweise ist nicht unbedingt neu, nach und nach fügen sich Puzzleteile der Story wie ein Flickenteppich zusammen. Rein technisch ist BEYOND TWO SOULS extrem beeindruckend, es existiert ein natürlicher Fluss zwischen spielbaren Sequenzen, Zwischensequenzen und Kameraführung, die ein homogenes Ganzes erzeugen. Um tiefer in ein storylastiges Spiel eindringen zu können, desto konsequenter muss man als Spielehersteller Dinge eliminieren, die etwas über das Spielgerüst verraten. Was cinematische Zwischensequenzen von Gamerplaystellen unterscheidet, sind meist Spielicons oder Anzeigen, wie das HUD, das Heads Up Display, welches dem Spieler Informationen wie Lebensbalken oder Munition anzeigt.
Es gibt viele Spiele, deren HUD man verbergen kann, um den filmischen Gesamteindruck zu steigern. BEYOND TWO SOULS bietet weder ein HUD noch andere Hilfsmittel, die ein Spiel als solches enttarnen, die einzigen Interaktionspunkte sind dezente weiße oder bläuliche Punkte sowie die Gestaltung der Antwortmöglichkeiten Jodies. Die interaktiven Möglichkeiten des Spiels werden ausschließlich darüber realisiert.
Interinaktiv
Im Gegensatz zu THE LAST OF US will BEYOND TWO SOULS interaktiver sein, vor allem durch die Entscheidungen des Spielers auf Figur und Story. Bereits nach wenigen Sequenzen aber wird klar, in wie weit das funktioniert oder nicht. Die größte Schwierigkeit, ein Spiel durch Entscheidungen zu lenken, liegt darin, dass solche Veränderungen erst dann offensichtlich werden, wenn man das Spiel ein weiteres mal mit anderen Entscheidungen spielt.
Zwar kann ich mich in der Artikulation Jodies zwischen Wahrheit und Lüge entscheiden, zwischen aufbrausender Reaktion oder besonnener. Einen Unterschied wird man wohl aber erst beim zweiten Durchgang bemerken. Natürlich ist die Figur Jodie freier gestaltbar als Joel oder Elli, die gar nicht gestaltbar sind. In fast jeder Konversation kann ich vermeintlich Nuancen verändern. Doch in nicht allen ist für mich ersichtlich, ob es sich dabei bloß um Spielereien handelt, die den Ausgang einer Szene wenig bis gar nicht beeinflussen. Von Szenen, die mir mehrere Male die Möglichkeiten geben, bestimmte Sachen zu erfragen, erfahre ich wohl auch nicht mehr, als würden sie als Cutscene ablaufen. An manchen Stellen halte ich das interaktive Potential von BEYOND TWO SOULS für vollkommen überschätzt. Das mag bereits bei HEAVY RAIN so gewesen sein, ist aber keine Entschuldigung.
Es ist jedoch nicht das, an dem BEYOND TWO SOULS bei mir scheitert. Das Spiel verspricht viel im Vorfeld, jedes Spiel von David Cage tut das, auch FAHRENHEIT und HEAVY RAIN wollten mehr als nur Videospiele sein. Das konkrete Ergebnis ist aber zum Teil eine Mogelpackung. Warum diese Inkonsequenz? Die narrative Struktur, die wilden Sprünge durch Jodies Leben, finde ich ziemlich spannend, aber diese Erzählweise wird nach Hälfte des Spiels fallen gelassen. Auch funktionieren zusammenhängende, lineare Parts besser als kurze Erinnerungsschnipsel. Allerdings beisst sich von Anfang an das vermeindliche Genre des Spiels, eine Art Sci-Fi-Coming-Of-Age mit dieser Erzählweise. Denn die charakterliche Entwicklung Jodies wird von der Nichtlinearität mehr oder weniger verschlungen. Die Bruchstücke mögen ein Erfassen der Handlung ermöglichen, für ein Nachvollziehen von Jodies Innenleben ist die Erzählweise eher kontraproduktiv. Und dadurch leidet die Glaubwürdigkeit des Charakters immens.
Immerhin wurde ein ebenso immenser Aufwand betrieben, diese Figuren durch A-Klasse-Schauspieler perfekt in Szene zu setzen. Die machen ihren Job auch hervorragend, nur überträgt sich das eben nicht auf den Spieler. Daran hat die nichtlineare Erzählweise als solche keine Schuld, aber was innerhalb der Szenen erzählt wird, schwankt zu sehr zwischen Nichtigkeit, Klischee und Peinlichkeit. Es gibt Szenen innerhalb eines Kindergeburtstages, die einerseits hohes Fremdschämpotential besitzen und sich plötzlich völlig plump auflösen. Irgendwie schrammt die Erzählweise immer knapp daran vorbei, mir Jodie und ihr “Problem” emotional näherzubringen. Ich erlebe zwei Anzeichen für einen Selbstmordversuch von Jodie, kann sie aber nicht einordnen. Vielleicht erklärt mir das eine vorangegangene Sequenz, die erst später folgt, doch die folgt nicht.
Selbst wenn sie folgen würde, es hätte keinen Einfluss mehr auf die Jodie. Am Ende führt das zu etwas seltsamen, zu etwas, mit dem ich nun gerade nicht gerechnet habe: Jodie erscheint mir völlig leer, unsympathisch und ich mir fehlt emotionaler Zugang zu ihr, etwas, was Page gewöhnlich in jedem fast jedem Film schafft. Vielleicht ist Page in dem Fall auch fehlbesetzt, eine ähnliche Unnahbarkeit, die sich negativ auf die Identifikation mit der Figur auswirkt, strahlt sie auch in INCEPTION aus.
Doch es gibt auch großartige Szenen im Spiel. Die CIA-Ausbildung ist superb geschnitten, die Obdachlosenrettung gleichermaßen. Das Problem von BEYOND TWO SOULS ist, dass es ein Hin- und Her an tollen, mitreißenden Sequenzen und purer Langeweile, Übertreibung und Schwarz-Weiß-Malerei gibt. Auch die Gesamtstory entwickelt sich zu einem vollkommenen Potpourris, die häufig ins Alberne driftet.
Am Ende habe ich das Gefühl, mich als Jodie auch gänzlich anders benehmen hätte können, ohne den Storybogen essentiell zu beeinflussen. Man kann Jodie moralisch färben, in ihren Antworten und Reaktionen. Vielleicht kann man dadurch Entscheidungen relativieren, vorrangig eigene, mehr aber auch nicht. Selbst wenn ich BEYOND dutzende Male durchspiele, um den ganzen Kontext zu sehen, der für alle möglichen Entscheidungen programmiert wurde, ich bezweifle, dass es die Wirkung zur Figur steigert.
Letzten Endes scheitert BEYOND TWO SOULS hauptsächlich am eigenen Anspruch. Wenn ein Spiel so stark auf Story und Figuren fokussiert ist, eine Schnittstelle zwischen intelligentem Blockbusterkino á la INCEPTION und Serien wie FRINGE, dann muss es auch Vergleiche zu ähnlichen Formaten dulden. Sicher ist BEYOND TWO SOULS neben HEAVY RAIN einmalig in seiner Machart, doch gerade beim Drehbuch versagt es. Der anfängliche Realismus, welcher der Figur zu Gute kommt, wandelt sich in völlige Gaga-Fantasy, wird mutlos, wenn es dem Spieler plötzlich fiktive Länder wie Kirgistan vor die Füße wirft und beantwortet kaum eine der brennenden Fragen, selbst im finalen Twist. Wo THE LAST OF US konkret ist, weicht BEYOND TWO SOULS immer wieder aus.
Digitale Nabelschnur
BEYOND TWO SOULS ist mir zu wankelmütig. Zum Ende hin verlässt BEYOND gar seine narrative Struktur, wird wesentlich linearer und greift viele Anleihen aus klassischen Videospielen auf, dafür, dass BEYOND kein klassisches Videospiel sein will. Wir erleben in THE LAST OF US bis auf das Ende eine wesentlich konventionellere Story und Erzählweise, doch wird die gänzlich von den Figuren getragen und auf den Spieler übertragen. Es gibt eine Stelle in THE LAST OF US, die sich spürbar wie ein Hänger im vierten Akt anfühlt. Es ist die Stelle, in der Joel und Elli getrennt werden. Es ist mühsam, mit Joel oder Elli allein zu spielen und erst nach ihrer Wiedervereinigung war ich wieder in der richtigen “Spur”. Da es keinen signifikanten Wechsel der Spielemechanik gibt, die die Figuren allein oder im Team unterscheiden, liegt diese gefühlte Zähigkeit der Szenerie hauptsächlich daran, dass man tief im Inneren eine Verbindung zu beiden aufgebaut hat, was sich dann auch wieder einstellt, wenn beide wieder zueinander finden.
Es liegt nicht daran, dass beide Spiele unterschiedlichen Genres entstammen, THE LAST OF US ist ein Action-Adventure mit starken Survivalaspekt, BEYOND TWO SOULS eher ein Point-and-Click-Adventure. Beide Spiele konzentrieren sich stark auf ihre Figuren, aber BEYOND gelingt es irgendwie nicht, dass ich sonderlich mit Jodie mitfühle. Wäre THE LAST OF US ein Film, wäre er so eindringlich wie THE ROAD, viel bewirkt beispielsweise auch die Musik von Komponist Gustavo Alfredo Santaolalla (BABEL, 21 GRAMM). BEYOND TWO SOULS dagegen wirkt wie HANNAH mit Saorise Ronan, bei dem es mir auch schwer fiel, die Figuren in irgendeiner Weise nachzuvollziehen. Ich finde BEYOND TWO SOULS allerdings schon unterhaltsam, Spaß gemacht hat es mir.
Doch das, was Cage immer so vollmundig verspricht, eine neue Form der Unterhaltung zwischen Interaktivität und Filmemacherei, kann ich in BEYOND TWO SOULS nicht entdecken. Dafür erzählt es mir Dinge mit dem Vorschlaghammer. Ich kann in BEYOND TWO SOULS bei einer Geburt assistieren, inklusive Nabelschnur durchschneiden. Dieser Videospielmoment mag extrem und einzigartig sein, er lässt mich völlig kalt, ich weiß nicht einmal, ob ich soetwas wirklich spielen will. Viel wird mit ganz großen Fanfaren verkündet und verpufft. Jodie spielt Gitarre als Obdachlose, es lässt mich kalt. Nicht, weil es albern ist, schief klingt oder stümperhaft inszeniert ist – im Gegenteil, die Szene ist sehr schön. Aber sie ist verkniffen, so penetrant direkt. Nach Wochen trostloser Reise begegnen Elli und Joel in Salt Lake City einer Horde verwilderter Zootieren, darunter Giraffen. Das kam unerwartet und ein emotionaler Schlag ins Gesicht. Erzählerisch ist THE LAST OF US viel weiter als die Aneinanderreihung von filmischen Klischees in BEYOND TWO SOULS.
Immer wieder hört man im Zusammenhang mit BEYOND TWO SOULS, jene Art Spiele seien die Zukunft der Branche. So ein Käse, warum muss immer etwas die Zukunft für etwas sein. Beide Spiele, THE LAST OF US und BEYOND TWO SOULS, sind eher Ausnahmeerscheinungen der Spielelandschaft. THE LAST OF US allerdings gehört erzählerisch zu den herausragenden Erlebnissen, durch den Mut, etwas unbequemes zu wagen, was nicht jedem Spieler schmecken wird, konsequent.
THE LAST OF US ist in dieser Hinsicht ein größerer Schritt in Sachen Verquickung von Spielen und Filmen. BEYOND TWO SOULS dagegen scheitert, wenn auch nicht komplett, es ist kein konsequentes Ganzes und bauscht die neue Freiheit der Interaktivität mehr auf als es sie im Spiel bedient. Vor allem aber, weil es trotz des erheblichen Produktionsaufwandes nicht gelungen ist, Jodie und Nathan mit dem zu füllen, was bei Elli oder Joel gelungen ist: Seele. Die hatte bereits der Pixelhaufen Link oder die Koboldin aus SECRET OF MANA. Es ist nicht die Frage der Programmierung, eines technischen Verfahrens oder der Schärfe von Texturen. Es sind meist Kleinigkeiten, unbedachte Äußerungen, Spielereien. Jodie aus BEYOND TWO SOULS bemitleidet sich und ihr Schicksal stellenweise bis zur Unerträglichkeit. Elli aus THE LAST OF US übt stattdessen Pfeifen. Es wirkt fast paradox, weil man gerade Jodie aus BEYOND TWO SOULS und Elli aus THE LAST OF US gut vergleichen kann, nicht nur optisch. Bei Elli und Joel klappt es mit der Identifizierung, bei Jodie oder Nathan nicht.
Während Nathan in BEYOND TWO SOULS eine moralische Lachsalve nach der anderen verschießt, benötigt Joel, wenn er will, kaum mehr als eine Handvoll Wörter, um sein Innenleben in all seiner Entkräftung und mit pragmatischen Zynismus preiszugeben. Bevor Joel am Ende Marleen erschießt, die bewusstlose Elli in seinem Arm, sagt er schlicht: “Du würdest ihr bloß folgen!” Etwas authentischeres hört man selbst in Filmen selten.
[…] Filme, man könnte sich totschreiben. Erwähnnt werden muss aber definitiv auch ein Spiel, nämlich THE LAST OF US auf der PS3, welches so manchen genreverwandten Film in Sachen Figuren und Story alt aussehen […]