Der Traumfalter Jahresrückblick 2020

Ende Mai 2021 auf der Mülldeponie Sargleben in Mecklenburg-Vorpommern, zertifizierter Entsorgungsfachbetrieb zur Ablage von Gewerbe- und Baustellenabfällen mit Sickerwasserreinigungsanlage, da liegt ein kleiner Haufen gelber Staub, daneben ein grüner Rechnungsdurchschlag – Kultur 2020, Entsorgungskosten 24 Euro und 19 Cent. Was ist denn hier los? denke ich und wühle in dem Häuflein, der sich ein bisschen so anfühlt wie Kartoffelpüreepulver von Pfanni, bis ich auf etwas hartes stoße, einen mp3-Player der Firma SanDisk, darauf höre ich ein Lied schauriger Kunde: „Ein Alptraum wurde wahr. Das schlimmste Jahr aller Zeiten. Wir geben keinen Cent. Fick 2020.“ Und dann noch irgendetwas mit einem toten Kamel. Die Worte des Propheten Hans Peter Baxxter machen mir Angst. Was ist 2020 nur passiert, dass von all der Kultur im Jahr 2021 nur noch ein Häufchen Kartoffelpüreepulver übrig ist?

 

Ich wache hoch und schrecke auf. Ein Alptraum im Alptraum. Das vermaledeite Jahr 2020 ist noch nicht mal vorbei und mich plagen schon jetzt wahnhafte Visionen aus zukünftiger Vergangenheit. So war das alles nicht abgemacht. Das Fabulieren über den Beginn einer neuen Dekade Film im Januar, vielleicht war das alles eine Nummer zu selbstgefällig. Made im Speck halt. Denn im Angesicht der globalen Todesfälle durch die Viruspandemie Covid-19 und dem Coronavirus SARS-CoV-2, dem wirtschaftlichen wie sozialen Schaden weltweit und der damit verbundenen berechtigten wie fragwürdigen Hysterie scheint nun kaum etwas so nebensächlich zu sein wie der Film. Außer für Filmschaffende natürlich. Film ist eben nicht nur Ringelpietz mit (ohne) Anfassen, dahinter stehen eben Existenzen wie in allen anderen Zweigen von Wirtschaft, Sozialwesen und Kultur. Darum über Film schreiben, jetzt erst Recht. Auch weil Film, wie alles Kulturelle, helfen kann, schwere Zeiten wie diese zu überstehen. Aus diesem Grund lasst uns kurz dem Irdischen entfliehen und das Film- und Serienjahr 2020 rekapitulieren. Willkommen zum Traumfalter Jahresrückblick 2020.

 

This episode of BLACK MIRROR sucks!

 

Was war das Film- und Serienjahr 2019 doch putzig, man stritt sich darüber, ob MARVEL Filme emotional sind, Netflix zu den Oscars darf und wer seinen Kaffeebecher am Set von GAME OF THRONES hatte stehenlassen. Große Dramen. Das schien sich Anfang 2020 fortzuspinnen, doch bereits da lag etwas in der Luft. Neben allen erdenklichen Lebensbereichen ereilte die Corona-Pandemie auch die Film- und Kinobranche. Der Shutdown des öffentlichen Lebens traf auch die Kinos, welche im März 2020 ihre Pforten schließen mussten, mit weitreichenden Folgen: Filmstarts wurden gecancelt und verschoben, Dreharbeiten kamen zum Erliegen. In stiller Hoffnung, im Sommer und Herbst würde alles wieder normal sein, zelebrierte man neben Homeoffice nun eben auch Homecinema.

 

 

Kinoverschiebungen 2020

Geplante große Kinostarts 2020, verschoben auf 2021 oder in unbekannte Ferne: NO TIME TO DIE, BLACK WIDOW, GHOSTBUSTERS: AFTERLIFE & Steven Spielbergs WEST SIDE STORY.

 

 

Der neue BOND, TOP GUN MAVERICK und GHOSTBUSTERS: AFTERLIFE wurden auf Herbst 2020 oder Sommer 2021 verlegt, Filme, welche gerade noch im Kino anliefen, wurden vorzeitig On Demand gebracht, darunter DER UNSICHTBARE, BIRDS OF PREY: THE EMANZIPATION OF HARLEY QUINN und TROLLS WORLD TOUR. Klang radikal, das Zeitfenster zwischen Kino- und Zweitauswertung war in den letzten Jahren zwar merklich geschrumpft, aber das nun war ein Quantensprung. Aber eben längst nicht das Ende der Fahnenstange. Während es in Deutschland im Sommer 2020 zu einer zaghaften Öffnung der Lichtspielhäuser kam, schlug in den USA die Pandemie umso brachialer zu. Das führte zur ungewohnten Situation, dass US-Filme nun zuerst in Europa zu sehen waren.

 

 

Kino Lockdown 2020

Kino Lockdown im März, Öffnung unter strengen Hygieneregeln im Sommer und erneute Schließung der Lichtspielhäuser im November 2020.

 

 

Auch internationale Filmfestivals fielen aus, zum Leidwesen der Branche, einzig die Absage der offiziellen Verleihung der Goldenen Himbeere 2020 war für Stars und Sternchen hinnehmbar. Im Sommer 2020 wurde dann klar, das Jahr war gelaufen. Als Fels in der Brandung stilisierte sich TENET, der neue Film von Christopher Nolan, und wurde zur letzten Hoffnung in Sachen Box Office Erfolg. TENET aber kämpfte gegen rückwärts drehende Windmühlenräder, im Zuge dessen wurde auch der letzte verbliebene Blockbuster DUNE von Dennis Villeneuve auf 2021 verschoben. Gleichzeitig wanderten diverse Kinofilme zu Streaminganbietern, glücklich konnten sich diese nennen, die ein eigenes Portal dafür in petto hatte, wie Disney. Einmalig in der Kinogeschichte veröffentlichte der Mäusekonzern seinen Sommerblockbuster MULAN exklusiv auf Disney+ und forderte rund 30 US-Dollar für den Streamingabruf.

 

 

Kino 2020

MULAN wandert exklusiv zu Disney+ für eine stolze Leihgebühr, Autokinos erleben eine Rennaissance und alte Klassiker kommen zurück auf die Leinwand, wenn auch nur für einen Tag.

 

 

Was in den Vorjahren pessimistisch prophezeit wurde, schien sich 2020 zu erfüllen, das Ende des Kinos, wie wir es kennen. Boom! Streaming in den USA, dünnes Kino in Europa, Blockbusterpremieren im Bezahlfernsehen, Bieterwettstreit der Streamingriesen für den neue BOND, exklusiv für 800 Millionen US-Dollar, verdrehte Welt. Aber es gab auch positive Nachrichten. Das Autokino erlebte eine Renaissance, aus Mangel an neuen Filmen kam es zur Wiederaufführung von Klassikern. Würde doch wieder alles gut? Aber Covid-19 forderte vor allem in den USA täglich tausende Tote, dass an Kinobetrieb nicht zu denken war. Und auch in Europa führte die zweite Welle der Pandemie im Herbst zu einer erneuten Schließung der Lichtspielhäuser, Adieu Kino 2020, schreib ne Karte!

 

 

Corona Movie Memes

Das Postitive: in schweren Zeiten blüht die Meme-Kultur.

 

 

Würde ich nur über das Kino schreiben, wäre hier jetzt Schluss. Ich aber schreibe über Filme. Trotz der erschütternden Bilanz des Kinobetriebes 2020 und der düsteren Aussichten, ob man es glaubt oder nicht, aber auch im worst year ever 2020 fand Film statt. Vielleicht hat man es mehr geschätzt als zuvor. Natürlich war und ist 2020 für die Filmbranche verheerend gelaufen, wahrscheinlich wird 2021 sogar alles noch schlimmer. Aber auch 2020 gab es mit Filmen und Serien Momente der leidenschaftlichen Erfüllung, des puren Staunens und der freudigen Überraschung. Die Hiobsbotschaften nun mal beiseite, was waren die besten Filme und Serien des Jahres, die beeindruckendsten Darstellungen und die emotionalsten Höhepunkte?

 

Corona Protector Man

 

Auch wenn die Kernkompetenz der Streamingportale nach wie vor Serienformate sind, immer mehr Filme werden von bekannten Regisseuren für Bezahldienste produziert. Spike Lee, David Fincher, Charlie Kaufman, Filmemacher, bei dessen Erwähnungen die Herzen der Filmfans aufgehen, sie alle haben 2020 neue Werke präsentiert, und das ausschließlich auf Netflix. Doch mitten in der Kinoauszeit schaffte es ein ganz anderer Netflixfilm, dass man die Lockdown-Misere für 123 Minuten lang vergisst. Hätte man mir gesagt, dass die Filmüberraschung des Jahres 2020 eine Komödie mit Will Ferrell über einen Liederwettbewerb ist, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Aber so ist es, die Überraschung des Jahres heißt EUROVISION SONG CONTEST: THE STORY OF FIRE SAGA.

 

 

Eurovision Song Contest

Überraschung des Jahres 2020: EUROVISION SONG CONTEST – THE STORY OF FIRE SAGA (Netflix)

 

 

EUROVISION SONG CONTEST: THE STORY OF FIRE SAGA ist ein Feelgood Movie der Sonderklasse. Wenn auch Will Ferrell nicht jedermanns oder jederfraus Liebling und sein Humor eher speziell ist, die Geschichte um die isländische Band Fire Saga, bestehend aus Ferrell und Rachel McAdams, geht, soweit ich das mediale Echo beurteilen kann, fast jedem zu Herzen. Nach launigem Auftakt und einem Faustschlagtwist im ersten Drittel entwickelt sich EUROVISION SONG CONTEST zu einem wahren Feuerwerk an Kitsch, Fremdscham, Poporgasmus und Gänsehautfinale inklusive grandiosem Songwriting und Elfenmassaker. Wer hätte das gedacht?

 

 

DA 5 BLOODS

DA 5 BLOODS von Spike Lee (Netflix)

 

 

So fluffig EUROVISON SONG CONTEST war, so sperrig und kantig kamen die Exklusivtitel der bereits genannten Regiegrößen daher. Sperrig ja, aber allesamt faszinierend. Den Anfang machte im Juni der neue Film von Spike Lee DA 5 BLOODS über ein vergessenes Kapitel afroamerikanischer Soldaten im Vietnamkrieg. Neben Kriegsfilm und Rassismusdrama inszenierte Lee DA 5 BLOODS zudem als abenteuerlichen Exploitationfilm mit starkem B-Movie Einschlag, die Gewichtung der Elemente ist nicht immer stimmig, dafür begeistern die Schauspieler, vor allem Delroy Lindo und der im August 2020 verstorbene BLACK PANTHER Star Chadwick Boseman.

 

 

I’M THINKING OF ENDING THINGS

I’M THINKING OF ENDING THINGS von Charlie Kaufmann (Netflix)

 

 

Nach fünf Jahren Regieabstinenz inszenierte Regiesonderling Charlie Kaufmann (BEING JOHN MALKOVICH) sein neustes Werk I’M THINKING OF ENDING THINGS exklusiv für Netflix und in gewohnt unzugänglicher wie faszinierender Erzählweise. Auf der Fahrt zu seinen Eltern geraten Jake und seine namenlose Frau in einen Schneesturm, die Szenerie wird ausschließlich durch ihren teils skurrilen Dialog und dem inneren Monolog von Hauptdarstellerin Jessie Buckley bestimmt. Als wäre das nicht bizarr genug kommt es beim Zusammentreffen mit den Eltern Toni Collette und David Thewlis zu noch merkwürdigeren Situationen, doch auch das wird von einem noch wahnhafteren Finale getoppt. Trotzdem schafft es I’M THINKING OF ENDING THINGS 134 Minuten lang zu fesseln.

 

 

MANK

MANK von David Fincher (Netflix)

 

 

Sperrig, unzugänglich, chiffriert und geradezu sterbenslangweilig, so war die Reaktion auf den neuen Film von David Fincher MANK über den Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz und dessen Zusammenarbeit mit Orson Welles am Drehbuch für CITIZEN KANE. Auf der einen Seite kann ich die Kritik schon verstehen, wer keine filmgeschichtliche Lösungsschablone dabei hat, ist hier reichlich aufgeschmissen. Gleichzeitig schafft es Fincher aber, einen so stilsicheren Film in 40er Jahre Noir Look zu entwerfen wie kein Retrowerk in Schwarz-Weiß zuvor. Und abermals darf Gary Oldman als Mank eine Glanzvorstellung seiner langen Karriere geben.

 

 

Netflix 2020

Starke bis gute Netflix Originals: THE DEVIL ALL THE TIME, THE TRAIL OF THE CHICAGO 7 und REBECCA

 

 

Doch auch die Streaming-Konkurrenz hatte große Filmproduktionen im Exklusivangebot, im Fall Disney+ aber waren diese eher Notlösungen, denn drei Filme waren fest für den Kinoeinsatz vorgesehen. Am leichtesten fiel das Downgrade wohl im Fall ARTEMIS FOWL von Kenneth Branagh, der im August exklusiv auf Disney+ landete und im normalen Kinobetrieb wohl abgeschmiert wäre und das nicht zu Unrecht. Denn ARTEMIS FOWL leidet stark unter einer wirklich unsympathischen Hauptfigur und einem eher lustlosen Hauptdarsteller – kein Vergleich zu Harry Potter, dessen Vibe in ARTEMIS FOWL durchaus mitschwingt. Was den Film aber vor dem Komplettverriss bewahrt ist die tolle Nebenfigur Captain Holly Short, grandios gespielt von Newcomerin Lara McDonnell.

 

 

Mulan

MULAN von Niki Caro (Disney+)

 

 

Weit tragischer für Disney sollte die fehlende Kinoauswertung von MULAN werden, der als Sommerblockbuster geplant war und im September direkt zu Disney+ ging, aber auch von Abonnenten extra bezahlt werden musste und das nicht zu knapp. Möglicherweise war das aber immer noch billiger als eine Runde Kino für die Kids, aber MULAN ist im Gegensatz zu DIE SCHÖNE UND DAS BIEST oder DER KÖNIG DER LÖWEN kein wirklicher Kinderfilm, enthält keine Songs (Echo: „Das ist ok.“), aber auch keinen Drachen Mushu (Echo: „Das geht gar nicht!“). Entgegen der Kritik aber halte ich MULAN von allen Disney Realverfilmungen am gelungensten, die Transformation der Zeichentrickvorlage in einen Realfilm ist hier deutlich stimmiger als in den Werken zuvor.

 

 

Disney+ 2020

Disney+ Exclusives 2020: ARTEMIS FOWL, DER EINZIG WAHRE IVAN & SOULS von Pixar.

 

Auch der neue, langerwartete Pixar Film SOUL kam Ende 2020 direkt zu Disney+, war aber gar nicht die einzige Pixar Produktion, denn im März lief auch ONWARD – KEINE HALBEN SACHEN AN und das sogar noch im Kino. ONWARD ist ein durchaus amüsanter Fantasy Slapstickspaß, der aber in Sachen Figurenentwicklung und Worldbuilding nicht an die großen Pixar Klassiker herankommt, stilistisch gar ein wenig beliebig erscheint. Ganz im Gegensatz zu SOUL um einen jazzbegeisterten Musiklehrer, dessen Seele zu früh in den Himmel berufen werden soll und der sich mit einer anderen verlorenen Seele aufmacht, in seinen Körper und ins Leben zurückzukehren. SOUL versprüht bereits in den ersten Minuten die volle Packung Pixar Magie und strotzt nur so vor Ideenreichtum.

 

 

Borat 2

BORAT ANSCHLUSS MOVIEFILM von Jason Woliner (Amazon Prime Video)

 

 

Relativ überraschend kam im Oktober 2020 der Anschluss Moviefilm zu BORAT aus dem Jahr 2006 exklusiv zu Prime Video von amazon mit dem Titel…äh BORAT ANSCHLUSS MOVIEFILM. Verrückt. Und genauso verrückt wie radikal boshaft geht es in Sacha Baron Cohens Werk auch wieder zu, nur eine Sache macht Teil 2 noch besser, nämlich die über die Maßen sympathische Figur von Borats Tochter Tutar Sagdiyev und das damit verbundene grandiose Debüt von Marija Bakalowa. Very Niiice.

 

 

Enola Holmes

Millie Bobby Brown als ENOLA HOLMES von Harry Bradbeer (Netflix)

 

 

Überaus sympathisch, das trifft auch auf ENOLA HOLMES zu im gleichnamigen Netflixfilm über die jüngere Schwester von Sherlock Holmes. Die reichlich naive und harmlose Geschichte mit einem eher blassen Henry Cavill als Sherlock wird am Ende gänzlich durch das erfrischende Spiel von Millie Bobby Brown (STRANGER THINGS) gerettet. Zum den Streaming Damen gesellte sich dann am ersten Weihnachtsfeiertag auch noch WONDER WOMAN 1984 mit der titelgebenden Amazone Diana Prince aka Wonder Woman, leider nur per Stream aus dem Überseeanbieter HBO Max, in Deutschland erscheint der Film erst 2021, wann und wo auch immer.

 

Tales With A Loop

 

Von den Streamingfilmen direkt rüber zu den Serien des Jahres 2020. Lange Zeit gab es einen Wettlauf dreier Science-Fiction Serien um den begehrten Traumfalter Award Beste Serie 2020, wie sie auch im Science-Fiction Genre kaum unterschiedlicher hätten sein können. Den Anfang machte im April TALES FROM THE LOOP von amazon. Trotz eines roten Storyfadens erzählt TALES FROM THE LOOP in acht Folgen Einzelgeschichten um merkwürdige Ereignisse im Umkreis der Forschungseinrichtung The Loop. Nicht alle Geschichten sind rund, Folge 2 und 8 allerdings gehören zum besten Sci-Fi-Kopfkino überhaupt und haben mich zu Tränen gerührt.

 

 

Science-Fiction 2020

Überragendes Science-Fiction Serienprogramm 2020: DEVS von Alex Garland, TALES FROM THE LOOP unter anderem von Jodie Forster & RAISED BY WOLVES von Ridley Scott.

 

 

Wie unterschiedlich Science-Fiction ist, demonstrieren die Mitbewerber DEVS von Alex Garland (ANNIHILATION, EX MACHINA.) und RAISED BY WOLVES von Ridley Scott (ALIEN). DEVS ist Hard Sci-Fi in Vollendung, spannend und mitreißend inszeniert und wie alle Werke von Garland mit streitbarem, aber definitiv ungefälligem Ende. RAISED BY WOLVES hingegen steht für einen anderen Zweig der Science-Fiction und erzählt eine dystopische Geschichte der menschlichen Evolution in ferner Zukunft, visuell atemberaubend, unglaublich spannend erzählt und das beste Werk von Ridley Scott seit Langem. Alle drei Serien hatten das Potential für die beste Serie des Jahres, aber wenn drei sich streiten, dann freut sich bekanntlich die Vierte.

 

 

The Queens Gambit

Serie des Jahres 2020: DAS DAMENGAMBIT (THE QUEENS GAMBIT) von Scott Frank

 

 

Alle drei Science-Fiction Serien wurden von einer Dame geschlagen, denn im Oktober startete auf Netflix die Miniserie THE QUEEN‘S GAMBIT um…Schach. Richtig gelesen, eine Serie über Schach schaffte es auf die Spitze des Podiums, nicht nur weil sie kongenial geschrieben, inszeniert und mit einer grandiosen Hauptdarstellerin besetzt wurde, sondern weil THE QUEEN’S GAMBIT einen popkulturellen Impact hinterließ. Infolge der Serie schoss der Verkauf von Schachspielen um 100% in die Höhe, Google meldete eine Verdopplung des Suchbegriffes Schach zwischen Oktober und November, Anmeldungen zu Online-Schachspielen verfünffachten sich. Im Jahr 2020 geht in Sachen Serien nichts an THE QUEEN’S GAMBIT vorbei.

 

 

Schach ist 2020 das, was Baby Yoda 2019 war. Apropos Baby Yoda, normalerweise weise ich ja selten auf neue Serienstaffeln im Jahresrückblick hin, die schon im Vorjahr besprochen wurden, aber THE MANDALORIAN auf Disney+ hat es in zwei Folgen geschafft, sämtliche Kapitel zuvor zu übertreffen und mehr. In CHAPTER 13: THE JEDI überschlagen sich die Ereignisse, Mando trifft auf Ahsoka Tano (Rosario Dawson), erfährt Baby Yodas wahren Namen, kämpft an der Seite der Jedi-Abtrünnigen gegen Fucking Michael Biehn und STAR WARS Fans rasten beim Droppen des Namens Gran Admiral Thrawn vollkommen aus. Bestes STAR WARS seit THE EMPIRE STRIKES BACK, tönt es von den Evaporatoren. So sieht’s aus, meine Damen und Herren. Was die Euch aber nicht sagen in dem Heft, CHAPTER 16: THE RESCUE toppt das Ganze nochmal derart, da fliegt dir der Hydroschraubenschlüssel weg.

 

 

The Mandalorian

Das beste Stück STAR WARS seit STAR WARS: THE MANDALORAN Staffel 2 KAPITEL 13: DIE JEDI von Dave Filoni

 

 

Licht und Schatten bei den restlichen neuen Serien 2020. Im Februar startete auf amazon die Serie HUNTERS mit Al Pacino um eine Gruppe Nazijäger in den USA der 70er Jahre. Bis zur letzten Folge war die Chose exploitativ launig und derb, doch dann machte ein Storytwist das Ganze meiner Meinung nach dezent zunichte. Ebenfalls via amazon Prime Video kam das US-Remake der britischen Kultserie UTOPIA, hier ist die Sachlage andersherum. Jeder Moment in Folge 1 macht einem klar, wie genial das Original von 2013 ist und das Remake dagegen abstinkt, aber es entwickelt sich interessanter als erwartet und macht letztendlich doch auch Spaß.

 

 

Serien 2020

Unbefriedigender Twist in HUNTER (Amazon Prime Video), Style over Substance in RATCHED (Netflix) und die Gurke des Jahres DRACULA von Steven Moffat und Mark Gatiss.

 

 

RATCHED von Netflix hingegen ist stilistisch beeindruckend, aber die Vorgeschichte zu EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST um Schwester Mildred passt weder zur Vorlage, noch begeistert sie storytechnisch. Die Miniserie aus der Feder von AMERICAN HORROR STORY Showrunner Ryan Murphy ist dennoch kein Vollflopp, dieses Prädikat haben sich 2020 zwei ganz andere Macher geschnappt. Groß waren die Erwartungen an eine neue Serie der SHERLOCK Schöpfer Steven Moffat und Mark Gatiss, auch das Thema und die Figur klangen für eine Modernisierung vielversprechend. Aber letztlich war der Dreiteiler DRACULA auf Netflix wirklich übler Schund und hart über der Grenze des Albernen, dass sich die britische Miniserie den Award Gurke des Jahres redlich verdient hat.

 

Stars, Comebacks, Breakthroughs & Goodbyes

 

Wie immer küren wir an dieser die besten Schauspieler und Schauspielerinnen des Jahres Wer hat sich in die Herzen der Zuschauer gespielt, wer hat mit ungewöhnlichen Rollen überrascht, wer ist über sich hinausgewachsen? In jedem Jahr gibt es verlässliche Typen, die grandiose Rollen bekleiden, starke Performances lieferten 2020 beispielweise Delroy Lindo in DA 5 BLOODS ab, Ben Affleck im eher tristen THE WAY BACK, Hugh Grant in THE GENTLEMEN und natürlich Oscarpreisträgerin Renée Zellweger in JUDY.

 

 

Schauspieler 2020

Herausragende Performances 2020: Delroy Lino in DA 5 BLOODS, Amanda Seyfried in MANK, Ben Affleck in THE WAY BACK, Jessie Buckley in JUDY, Thmoasin MacKenzie in JOJO RABBIT, Daniel Craig in KNIVES OUT, Haley Bennet in SWALLOW & Hugh Grant in THE GENTLEMEN.

 

 

Alles grandios, keine Frage, aber irgendwann habe ich für mich mal den Anspruch erhoben, Schauspieler des Jahres werden nur diejenigen, die mich dreimal „wow“ sagen lassen. Doofe Regel, das bringt einen ganz schön in Zugzwang. Umso glücklicher bin ich, dass es dieses Jahr wieder geklappt hat. Schauspielerin des Jahres ist zweifelsohne Anya-Taylor Joy für ihr hinreißendes Spiel in THE QUEEN’S GAMBIT und EMMA. Und für THE NEW MUTANTS. In THE QUEEN’S GAMBIT spielt sie die Schachspielerin Beth Harmon in vollendeter Selbstbewusstheit, Sturheit und Eleganz, als EMMA ist sie bissig-biestig und in THE NEW MUTANTS besitzt sie wirklich einen hypnotischen Blick. Und ein riesiges Schwert! Anya-Taylor Joy war hier im Blog mit THE WITCH und SPLIT bereits Newcomer und Durchstarter des Jahres, wie freue ich mich, sie nun zur Schauspielerin des Jahres küren zu dürfen.

 

 

Anya-Taylor Joy

Schauspielerin des Jahres 2020: Anya-Taylor Joy in DAS DAMENGAMBIT, EMMA & THE NEW MUTANTS

 

 

Bei den Männern hingegen herrschte lange Zeit Ratlosigkeit. Es gab wirklich gute Einzelleistungen in diversen Filmen, aber selten Bandbreite. Sacha Baron Cohen begeisterte in BORAT 2 und THE TRIAL OF THE CHICAGO SEVEN, auch Keanu Reeves musste ich irre Respekt zollen für seine Selbstironie in BILL UND TED RETTEN DAS UNIVERSUM und seinen witzigen Kurzauftritt im SPONGEBOB SCHWAMMKOPF: EINE SCHWAMMTASTISCHE RETTUNG. Ich mein das ernst, Leute! Trotzdem, dreimal „wow“ gesagt habe ich 2020 nur bei einem Schauspieler und ich freue mich riesig, dass es ein deutscher Mime ist – Alexander Scheer. Alexander Scheer spielt sich in der Serie SLOBORN um Kopf und Kragen, ängstigte mich beinahe zu Tode in HAUSEN und haute am Ende noch einen grandiosen Andy Warhol in Oskar Roehlers ENFANT TERRIBLE raus. Wahnsinn! Glückwunsch Alexander Scheer.

 

 

Alexander Scheer

Schauspieler des Jahres 2020: Alexander Scheer in SLØBORN, HAUSEN & ENFANT TERRIBLE

 

 

Weil wir gerade bei der heiligen Dreifaltigkeit der Schauspielerei sind, gibt es dieses Mal auch drei Awards für die besten Newcomer. Unerreicht auf Platz 1 steht hier Marija Bakalowa in BORAT ANSCHLUSS MOVIEFILM für ihre Performance als Borats Töchterlein, die sich vom hässlichen Entlein in einen stolzen Schwan verwandelt. Ich prophezeie ihr eine Weltkarriere. Die kann auch gern Roman Griffin Davis hinlegen nach seinem grandiosen Debüt in Taika Waititis JOJO RABBIT. Last not least geht der Award Bester Newcomer auch an Lara McDonnell für ihr erfrischendes Spiel als Elfenpolizistin Captain Holly Short in ARTEMIS FOWL.

 

 

Newcomer 2020

Newcomer 2020: Marija Bakalova in BORAT ANSCHLUSS MOVIEFILM, Roman Griffin Davis in JOJO RABBIT & Lara McDonnell in ARTEMIS FOWL

 

 

Schon ein wenig länger im Geschäft, aber 2020 auf dem finalen Sprungbrett zu einer famosen Karriere, stehen ebenso drei Mimen, die mich nachhaltig begeistert haben. Die da wären Jessie Buckley für JUDY und I’M THINKING OF ENDING THINGS, John David Washington, Sohnemann von Denzel Washington, der nach BLACKKKLANSMAN 2018 in Christopher Nolans TENET einen virtuosen Anti-Bond abgibt und irgendwie auch Lulu Wilson, die bereits einige denkwürdige Auftritte in SPUK IN HILL HOUSE und STAR TREK: PICARD hinter sich hat und 2020 in BECKY derbe vom Splatterleder ziehen darf. Glückwunsch an alle Preisträger.

 

 

Durchstarter 2020

Durchstarter 2020: Jessie Buckley in I’M THINKING OF ENDING THINGS & JUDY, John David Washington in TENET & Lulu Wislon in BECKY

 

 

Auch ein großes Comeback durfte im Jahr 2020 bestaunt werden. Sie wurde in den 60er Jahren zum Weltstar und ward zuletzt 2009 im Kino zu sehen. Nach zehn Jahren Pause ist sie nun wieder da mit dem wundervollen Netflixfilm DU HAST DAS LEBEN NOCH VOR DIR, welcher von Edoardo Ponti inszeniert wurde, ihrem eigenen Sohn. Sie ist schöner und bissiger als je zuvor und es ist eine große Freude, sie wieder spielen zu sehen – das Comeback des Jahres gebührt Sophia Loren.

 

 

DU HAST DAS LEBEN NOCH VOR DIR

Comeback des Jahres 2020: Sophia Loren in DU HAST DAS LEBEN NOCH VOR DIR

 

 

Leider heißt es an dieser Stelle auch wieder leise Abschied nehmen von all jenen Granden der filmschaffenden Kunst, welche 2020 in den Himmel aufgestiegen sind. Möget ihr da oben nicht ruhen, Frieden finden ja, aber bitte bloß nicht ruhen. Macht Party, es gibt keine Maskenpflicht (außer für David Prowse), drückt Euch fest und busserlt Euch, wir schauen derweil neidisch nach oben. Hui, wie immer makaber und unpassend, ich weiß, diese Kurve krieg ich nie, es tut mir leid, ey ich schwör.

 

 

r.i.p. 2020

Rest in Peace: Chadwick Bosemann (BLACK PANTHER), Terry Jones (MONTY PYTHON), Kirk Douglas (SPARTACUS), Max von Sydow (DAS SIEBTE SIEGEL), Stuart Gordon (RE-ANIMATOR), Joel Schuhmacher (FALLING DOWN), Brian Dennehey (FIRST BLOOD), Ian Holm (ALIEN), Ennio Morricone (SPIEL MIR DAS LIED VON TOD), Sean Connery (James Bond), David Prowse (Darth Vader), Hugh Keays-Byrne (MAD MAX).

 

soniK sed retteR red redo TENET

 

Zurück zum Kerngeschäft. Kino. Kino gabs 2020 nicht. Tschüss. Moment, Kino gabs doch, das ist sogar das bemerkenswerteste an 2020, Filme, die es trotz der Umstände doch in die Lichtspielhäuser geschafft haben. Manche haben sogar noch mehr gemacht, sie haben die Fahne für das Kino unbeirrt in die Höhe gehalten. Es mag auch an der glücklichen Startkonstellation gelegen haben, aber ein most wanted 2020 hat es gerade so ins Sommerkino geschafft, trotz zweimaliger Verschiebungen – Christopher Nolans TENET. TENET wurde gar zum Retter des Kinos schlechthin hochstilisiert und irgendwie war es ja auch so.

 

 

Tenet

TENET von Christopher Nolan

 

 

TENET hat wacker gekämpft, unter normalen Umständen hätte er die Milliardenmarke geknackt wie seinerzeit THE DARK KNIGHT und RISES, der Hype war definitiv vorhanden. Letzten Endes sind es gerade mal 350 Millionen US-Dollar geworden, aber TENET steht für etwas anderes, für die Zukunft des Kinos, für dessen Wichtigkeit. Ist TENET deshalb automatisch Kinofilm des Jahres? Nein. Auf der Habenseite steht eindeutig Nolans Kompromisslosigkeit in Sachen Vision, TENET ist ein Originalstoff, kein Remake, kein Sequel, keine Marke. Und TENET erzählt eine wirklich wahnsinnige Geschichte, für die man bestenfalls ein Zusatzgehirn dabeihaben sollte. Aber wie immer bei Christopher Nolan hapert es mit der Emotionalität, TENET ist diesbezüglich noch unnahbarer und kühler als DUNKIRK. TENET fordert den Verstand heraus, aber er berührt nicht das Herz.

 

 

Box Office 2020

Box Office Hits 2020 neben TENET (Deutschland Platz 2, USA Platz 8) – erfolgreichster Film des Jahres in Deutschland und den USA: BAD BOYS FOR LIFE, in den USA auf Platz 2, in Deutschland auf Platz 4: die überraschenderweise ziemlich coole Verfilmung von SONIC – THE HEDGEHOG und DIE FANTASTISCHE REISE DES DR. DOLITTLE (USA auf Platz 4, Deutschland auf Platz 8).

 

 

Irgendwie verhält es sich wie im Vorjahr mit JOKER, der auch weniger berührte als dass er als popkulturelles Großereignis von sich reden machte und irgendwie kalkuliert erschien. Ich ärger mich noch heute, nicht ROCKETMAN zum besten Film des Jahres gekürt zu haben. Aber das passiert mir kein zweites Mal, 2020 stand der Beste Film des Jahres zum Glück relativ früh fest, es war der erste Film, den ich 2020 gesehen habe, noch dazu am 1. Januar 2020, er ist tief, er ist herzlich, er ist bitter, streitbar, kontrovers, grandios geschrieben, wundervoll gespielt, in allen Belangen großartig – Film des Jahres ist JOJO RABBIT von Taiki Waititi.

 

 

Jojo Rabbit

Film des Jahres 2020: JOJO RABBIT von Taiki Waititi

 

 

Trotz der sich abzeichnenden Misere begann 2020 im Kino regelrecht fulminant. Mit KNIVES OUT strafte Regisseur Rian Johnson alle seine Kritiker Lügen, die ihm für STAR WARS: THE LAST JEDI vor allem unzugänglichen Humor vorwarfen. KNIVES OUT von Johnson ist ein cleveres und irre witziges Revival des altehrwürdigen Detektivkrimis à la Agatha Christi und schlägt Branaghs MORD IM ORIENTEXPRESS um Längen. Auch Guy Ritchie ist mit THE GENTLEMEN wieder in Hochform, die spröde Redseligkeit der ersten zehn Minuten weicht schnell Begeisterung um eine famose Gangsterfarce. Und mit DER UNSICHTBARE von Leigh Whannell kam im Februar ein höllisch spannender Horrorthriller mit Schauspielerin des Jahres 2019 Elisabeth Moss gerade noch so in die Kinos.

 

 

Kino 2020

Großes Kino Anfang 2020: KNIVES OUT von Rian Johnson, DER UNSICHTBARE von Leigh Whannell & THE GENTLEMEN von Guy Ritchie

 

 

Nach dem ersten Lockdown und der zaghaften Wiedereröffnung deutscher Lichtspielhäuser kam es dann zu ungewöhnlichen Filmstarts, zumindest in der Betrachtung. Denn nachdem die großen Blockbuster und Highlights in weite Ferne rückten, konnten kleinere Produktionen plötzlich mehr Aufmerksamkeit erhaschen. So schaffte es mit GUNS AKIMBO ein wahrer Höllenritt von Actionfilm mit Daniel Radcliffe und Samantha Weaving in die Kinos, auch Nicolas Cage durfte wieder overacten, dass die Schwarte kracht, das sogar in einer wahnwitzigen Lovecraftverfilmung namens DIE FARBE AUS DEM ALL von Richard Stanley.

 

 

Von Fans heiß erwartet wurde die späte Fortsetzung der Kultfilme um BILL & TED, tatsächlich traten Keanu Reeves und Alex Winter in BILL & TED FACE THE MUSIC erneut in ihre Paraderollen. Der Film ist ein grenzdebiler Spaß, aber den hatten wohl auch Reeves und Winter, denn man merkt beiden (Reeves ein bisschen mehr) die Freude am Spiel sichtlich an. Spaß hatte bestimmt auch Anne Hathaway als Oberhexe in Robert Zemeckis Neuverfilmung von Roald Dahls HEXEN HEXEN, dem im Oktober nur wenige Tage Kino in Deutschland vergönnt waren, bevor er zu Sky wanderte und der nicht so schlecht wie sein Ruf ist.

 

 

Monos

MONOS von Alejandro Landes

 

 

Fehlen die Blockbuster, erringen die kleineren Filme vielleicht mehr Aufmerksamkeit. Durch die Abwesenheit von MARVEL und Co. 2020 kann man zwar nicht von einem Arthouse Jahr des Films sprechen, aber diverse Kleinode gab es doch. MONOS beispielsweise erzählt eine eindringliche Geschichte um eine paramilitärisch organsierte Gruppe von Jugendlichen in einer Bergregion, die eine Amerikanerin als Geisel halten – ein atemberaubend fotografierter Film zwischen DER HERR DER FLIEGEN und APOCALYPSE NOW.

 

 

Kino 2020

JUDY von Rupert Goold, LITTLE WOMEN von Greta Gerwig & BOMBSHELL von Jay Roach

 

 

Die Filme EMMA, LITTLE WOMAN, JUDY und BOMBSHELL gaben 2020 grandiosen Schauspielerinnen wundervolle Rollen, sämtliche Filme hatten zudem das Glück, in Deutschland im Kino zu laufen. Schwer beeindruckt hat erwartungsgemäß auch der neue Film von Terrence Malik EIN VERBORGENES LEBEN mit August Diehl, überraschender kam indes das Spielfilmdebüt von Ladj Ly DIE WÜTENDEN – LES MISERABLES aus Frankreich daher, ein wuchtiges Filmerlebnis wie ein Schlag in die Magengrube.

 

Slow Burn Hausen

 

Auf dem internationalen wie nationalen Genrefilmmarkt sah es ob der Corona-Pandemie natürlich ebenfalls fatal aus, kleinere Produktionen für Genrenischen haben es ohnehin schwerer und sind vor allem auf Festivals angewiesen, um beispielweise Verleiher zu finden. Das jene nun teilweise ausfielen, machte die Lage noch prekärer. Das Fantasy Filmfest in Deutschland hatte wenigstens das Glück, sein Jahresprogramm zu zeigen, wenn auch verspätet (Fantasy Filmfest Nights) oder entschlackt (Fantasy Filmfest).

 

 

The Nightingale

THE NIGHTINGALE von Jennifer Kent

 

 

Highlights des Programms waren zweifelsohne THE OTHER LAMB von Małgorzata Szumowska, BECKY von Jonathan Milott und Cary Murnion, nicht ins Festivalprogramm geschafft, aber dennoch bemerkenswert, hatte es THE NIGHTINGALE, der zweite Spielfilm von Jennifer Kent nach ihrem großen Erfolg von THE BABADOOK. Das Fantasy Filmfest im September bot zudem eine überaus launige Zeitschleifen-Komödie namens PALM SPRINGS. Kurioserweise kam im Oktober der deutsche Film HELLO AGAIN – EIN TAG FÜR IMMER mit fast derselben Prämisse in die Kinos. So richtig gezündet hat diese Variante im Vergleich zu PALM SPRINGS aber nicht.

 

 

Genre 2020

Genre Bizarr 2020: DER SCHACHT (THE PLATFORM) von Galder Gaztelu-Urrutia, THE OTHER LAMB von Małgorzata Szumowska & VIVARIUM von Lorcan Finnegan

 

 

Um den deutschen Genrefilmmarkt schien es noch schlechter zu stehen als zuvor, nach der fulminaten GENRENALE6 im Vorjahr fiel das Festival für den deutschen Genrefilm erneut aus, nicht einmal pandemiebedingt. Dafür standen im TV und via Stream die Sterne für deutsche Genreware umso günstiger. Den perfekten Zeitpunkt erwische die ZDF-Serie SLØBORN von Christian Alvart, die im Juli auf ZDF Neo und in der ZDF Mediathek veröffentlicht wurde. SLØBORN wurde 2019 konzipiert und gedreht, wahrscheinlich waren alle Beteiligten überrascht von den gespiegelten Ereignissen im Jahr 2020, im Zuge dessen SLØBORN große Aufmerksamkeit zuteilwurde. Dennoch muss ich sagen, bis auf Alexander Scheer hat mich SLØBORN nicht von Hocker gehauen, erst ab Serienmitte wurde die Geschichte spannender, aber für seinen Riecher muss man Christian Alvart und seinem Team durchaus Respekt zollen.

 

 

SLØBORN

SLØBORN von Christian Alvart (ZDF Mediathek)

 

 

SLØBORN also nach DOGS OF BERLIN 2018 hier nicht Serie des Jahres, sorry. Wohl aber ein anderes Serienprodukt, bei dem ich kaum Superlative bei mir halten kann. Serie des Jahres? – Check, Horrorserie des Jahres? – Check, German Genre Award? – ohnehin, Schauspieler des Jahres? – verfolgt mich heute noch in meinen Träumen. Machen wir es kurz, das beste Stück German Genre geht an HAUSEN von Till Kleinert, Anna Stoeva und Stuber. HAUSEN ist clever konzipiert und verdammt stilsicher, was Haunted House Horror angeht. Aber eben noch mehr, ungewöhnliche Figuren, ein alptraumhafter Trip, superb besetzt mit Charlie Hübner, Tristan Göbel und Alexander Scheer, beklemmend, düster, ganz eigen wie schon DER SAMURAI 2014, aber natürlich ganz anders. Schwer zu beschreiben, aber wer auf echten Horror steht, kommt um HAUSEN nicht herum.

 

 

Hausen

German Genre Award 2020: HAUSEN von Till Kleinert, Anna Stoeva und Thomas Stuber (Sky)

 

 

Via Streaming gab es 2020 noch weitere Genre-Serienhighlights aus deutschen Landen. Im März startete auf dem Kabelsender SYFY die achtteilige Miniserie SPIDES von Rainer Matsutani zwischen Sci-Fi und Bodyhorror, ich muss leider gestehen, dass ich SPIDES bislang noch nicht sehen konnte. Ebenso wenig die vielbesungene Netflixserie BARBAREN, ein düsteres Historienspektakel um die Schlacht im Teutoburger Wald, so richtig gut kam BARBAREN aber nicht weg in der Kritik. Ebenfalls auf Netflix schloss die dritte Staffel DARK von Baran bo Odar und Jantje Friese mehrere Zeitreisezirkel, mitgekommen bin ich da storytechnisch längst nicht mehr, fasziniert hat mich DARK aber dennoch durchweg, nun bin ich echt gespannt auf 1899 und TYLL.

 

 

Der deutsche Kinofilm hatte es da natürlich schwerer ob der partiellen Kinoschließungen. Manche hatten sogar richtig Pech mit einem Kinostart im Oktober, kurz vor dem erneuten Teillockdown. Das traf zum Beispiel CORTEX, das Regiedebüt von Moritz Bleibtreu, der nach einem vielversprechenden düsteren Thriller ausschaute und dessen Kritiken bislang superb waren. Konnte ich leider auch nicht sehen. Bitter traf es auch DIE KÄNGURU CHRONIKEN von Dani Levy, der am 05. März 2020 in die Kinos kam und ein Millionenpublikum gefunden hätte, wenn nicht…nuja. Dafür kann man sich mittlerweile auch wieder für dezente Genreware im Öffentlich-Rechtlichen begeistern wie den Sci-Fi Thriller EXIT und den gelungenen Grusel-TATORT: PARASOMNIA, beide von Sebastian Marka, sowie die Serie DUNKELSTADT von Asli Ötzge nach Drehbüchern von Axel Melzener und Julia Nika Leviandt.

 

Knusper Knusper Kreischen

 

Das Jahr 2020 bezeichnen manche als puren Horror, da fällt mir ein, was gab es denn von der Horrorfilmfront 2020 zu berichten? Gleich vorweg, 2020 war kein guter Jahrgang für den Horrorfilm, ein paar Highlights aber gab es dennoch. Wie den Zweikampf um den Award Bester Horrorfilm, um den sich in diesem Jahr zwei Filme stritten. Einer schaffte es just zur Wiedereröffnung der Kinos sogar auf die Leinwand. Nach seinem Regiedebüt DIE TOCHTER DES TEUFELS 2015 kehrte Oz Perkins, Sohn des großen Anthony Perkins, mit GRETEL & HÄNSEL in den Regiestuhl zurück und bescherte dem Horrorfilmfreund eine durchaus stimmungsvolle und unheimliche Variante des Grimmschen Märchens. Vor allem die beiden Hauptdarsteller Sopha Lillis als Gretel und Alice Krige als Hexe begeistern durch ihr virtuoses Spiel, nur gegen Ende geht der gruseligen Märchenstunde ein wenig die Luft aus.

 

 

Gretel und Hänsel

GRETEL UND HÄNSEL von Oz Perkins

 

 

Mehr begeistert hat mich dagegen die Horrorfilmperle RELIC von Natalie Erika James mit Emily Mortimer, Robyn Nevin und Bella Heathcote. In RELIC geraten drei Generationen Frauen in eine wahrlich beängstigende Geschichte. Nach dem Verschwinden der Großmutter irgendwo in einer Einöde versuchen ihre Tochter und deren Tochter herauszufinden, warum die Oma verschwunden ist. Doch plötzlich taucht diese wieder auf, doch die Merkwürdigkeiten nehmen von da an erst ihren unheimlichen Lauf. RELIC ist definitiv kein konventioneller Horrorfilm, er erzählt die schaurige Geschichte als Parabel um Demenz und lässt einem im Finale wahrlich das Mark in den Knochen gefrieren, oder wie das heißt. Horrorfilm des Jahres.

 

 

Relic 2020

Horrorfilm des Jahres 2020: RELIC von Natalie Erika James

 

 

Der Rest des Horrorfilmprogramms 2020 ist wesentlich konservativer, aber auch da gibt es ein paar Erfolgsgeschichten innerhalb der Krise. Das Low Budget Werk THE WRETCHED (THE WITCH NEXT DOOR) profitierte sogar vom Kinolockdown und schaffte es durch den Einsatz in diversen Autokinos sogar auf Platz 1 der US-Kinocharts. Respekt. Und bisschen gruselig ist er durchaus.

 

 

Traumfalter Schauspielerin des Jahres 2013 – Andrea Riseborough – trat in gleich zwei Horrorfilmen auf, in dem von der Kritik meines Erachtens zu Unrecht verrissenen Remake von THE GRUDGE von Nicolas Pesce (PIERCING) und in POSSESSOR von Brandon Cronenberg, Sohnemann des berühmten David Cronenberg (DIE FLIEGE), ich fand beide Horrorfilme durchaus sehenswert.

 

 

Horror 2020

Schaurig gut: Carla Juri (FEUCHTGEBIETE) in AMULET, Andrea Riseborough in POSSESSOR und Autokinohit THE WITCH NEXT DOOR (THE WRETCHED)

 

 

Zum Politikum wurde zudem der Film THE HUNT von Craig Zobel, produziert von Blumhouse Productions, welche als blutige Satire auf den US-Politbetrieb hochstilisiert wurde. Derbe und pointiert ist THE HUNT durchaus, aber da wurde wohl ein wenig zu viel hineininterpretiert. Aktuelle Bezüge zur gesellschaftspolitischen Lage lieferten auch die Horrorfilme ANTEBELLUM und HIS HOUSE, beide in jedem Fall sehenswert und frisch. So ein richtiger Horrorkracher allerdings fehlte 2020, aber wie gesagt, das Jahr selbst war ja nun Horror genug, ach jetzt hab ich Euch schon wieder daran erinnert. Da hilft wohl nur…

 

Akzeptieren und Weiter

Nun isses ja so, man kann leider nicht sagen Schwamm drüber, geht’s am 01. Januar 2021 eben wieder neu los, aber Pustekuchen, 2021 beginnt komplett kinofrei. Die Aussichten werden für den Kinofreund noch düsterer, wenn man beispielweise auf die Pläne von Warner Bros. schaut, alle neuen Produktionen 2021 zeitgleich im Kino und über HBO Max zu veröffentlichen, darunter DUNE, MARTX 4, GODZILLA VS. KONG und SUICIDE SQUAD. In Deutschland hingegen wird HBO Max 2021 nicht starten, aber vielleicht landen einige Filme bei Sky wie WONDER WOMAN 1984. Ist das nun ein weiterer Sargnagel für das Kino?

 

 

Streaming 2021

Die (düstere) Prognose beginnt bereits jetzt – WONDER WOMAN 1984 gleichzeitig im Kino und via HBO Max, die Pläne von Warner, alle Kinofilme 2021 zeitgleich auch via Stream zu veröffentlichen und das gigantische Portfolio von Disney+ 2021.

 

 

Die Pläne von Disney befeuern diese Befürchtung noch, so unglaublich viel Content wurde für das hauseigene Disney+ vorgestellt. 2021 wird möglicherweise ein noch fataleres Jahr für die Kinobrache, weil ein definitives Ende der Pandemie wohl auch nach einem Impfstart schwer zu berechnen ist und sich diverse noch in Produktion befindliche Filme gleich vorsorglich auf 2022 verschoben haben. Ich sage Euch aber, das Kino wird nicht sterben, aber es muss andere Wege finden und sich möglicherweise spezialisieren, ob nun für Blockbuster Mehrteiler mit Eventcharakter Jahr für Jahr, als kuratiertes Filmtheater, welches Nischen bedient oder auch Wiederaufführungen fokussiert, für Menschen, die Kino erleben und nicht nur neue Filme auf der Leinwand sehen wollen.

 

 

Wolfwalkers

Redaktionsschluss knapp verpasst, trotzdem eine dicke Empfehlung für WOLFWALKERS (Apple TV+), MIDNIGHT SKY mit George Clooney und Felicity Jones (Netflix) und die 2. Staffel von HIS DARK MATERIALS (Sky).

 

 

Ich habe eine tiefe Verbindung zum Kino seit Kindesbeinen, es würde mich sehr traurig machen, würde Kino verschwinden. Aber noch trauriger wäre ich, gäbe es gar keinen Content mehr. 2020, trotz aller Umstände, war Film- und Serientechnisch sogar ein ziemlich gutes Jahr, qualitativ. Ob sich eine Jahresvorschau 2021 lohnt, ich glaube nicht. Wir werden sehen, ich wünsche Euch jedenfalls einen geruhsamen Jahreswechsel und hoffe, Ihr alle bleibt gesund, optimistisch und leidenschaftlich.

 

 

2 Comments

  1. Antworten
    Miss Booleana 9. Januar 2021

    Der beste und gründlichste Jahresrückblick, den ich bisher auf das Filmjahr 2020 gelesen habe. Vielen Dank dafür! :)

  2. Antworten
    Nummer Neun 10. Januar 2021

    Fantastischer Jahresrückblick, der ein wirklich schönen rundum Blick gibt – wow! Und das sage ich nicht nur, weil ich Jojo Rabbit auch als Film des Jahres gesehen habe ;) Mich freut auch die Erwähnung von Sløborn, die Serie hatte sich nach überschaubarem Beginn sehr gesteigert. Mit Hausen konnte ich mich allerdings nicht anfreunden.

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de