Der Doppeldenker

Folgt man der Entstehung der Gattung Science-Fiction in der Literatur, landet man zwangsläufig bei dem 1516 veröffentlichten Roman von Thomas Morus – Utopia. Utopia ist der Entwurf einer idealen Gesellschaft, einer Wunschzukunft, in der der Mensch all seine Träume verwirklicht hat. Man möchte meinen, dass sich letztendlich auch der moderne Science-Fiction-Film aus der utopischen Literatur heraus entwickelt hat.

 

Doch die Definition von Utopie, einer perfekten Zukunft, die alles Schlechte getilgt hat und die friedliche Vision einer besseren Welt propagiert, ist filmisch gesehen meist handlungsarm und unspannend. Ein Film braucht Konflikte, Anspannung und Dramatik. Der utopische Film ist somit fast nicht existent. Science-Fiction-Filme beziehen ihre Faszination eher aus einer unperfekten, fehlerhaften, pessimistischen Zukunft und den daraus resultierenden Konflikten. So sind Filme wie SOYLENT GREEN, LOGANS RUN oder THX1338 keine wirklichen Utopien, sondern deren Gegenentwurf, die Anti-Utopie oder Dystopie.

 

Utopie und Dystopie sind gegensätzliche Pole, bei denen auf Seiten der Utopie vielleicht noch das STAR TREK Universum hineingehört, auf Seiten der Dystopie hingegen die zynischen und deprimierenden Welten von CHILRDEN OF MEN oder TWELVE MONKEYS. Doch es gibt auch Welten zwischen dem Weiß und Schwarz einer ungewissen Zukunft.

 

Einer der besten Drehbuchautoren in diesem Bereich ist der Neuseeländer Andrew Niccol.

 

 

 

Niccols Zukunftsvisionen sind Welten, in denen man Personalausweis gegen Blutbild und DNA-Analyse eintauscht, in denen Zeit als Zahlungsmittel fungiert, Stars entweder aus dem Computer kommen oder gar nicht wissen, dass ihr Leben nur eine Fernsehshow ist. In Niccols Vorstellung einer dystopischen Gesellschaft verbrennen Feuerwehrmänner keine Bücher, dort speist man kein grünes Menschenfleisch, Niccols schöne, neue Welten sind sauber und artifiziell. Sie sind eigene Mikrokosmen, die durch ihre Gesetze und Regeln definiert sind.

 

Auch wenn man seine Drehbücher zu THE TERMINAL oder LORD OF WAR schwer in das Science-Fiction-Genre einordnen kann, beide Geschichten funktionieren im Prinzip genauso. In THE TERMINAL ist es ein Flughafen, der einen Ministaat mit Regeln und Vorschriften darstellt, in dem sich die Figur Viktor Navorski wie in einer anderen Welt fühlen muss. Und auch LORD OF WAR beschreibt die Welt des zynischen Waffenhändlers Yuri Orlov wie eine Parallelgesellschaft. Niccol hat auf der einen Seite einen originären Mikrokosmos mit Regeln und Gesetzen, auf der anderen Seite Figuren und Charaktere, die dieses System bedienen oder darin zurechtkommen müssen – woraus letztendlich der Plot resultiert.

 

 

Jim Carrey als Truman Burbank in THE TRUMAN SHOW (1995)

 

Es sind starke Plots, die man in knappen Worten zusammenfassen kann: Ein Mann weiß nicht, dass sein Leben nur eine Fernsehshow ist. Ein Mann gibt sich mit Hilfe geliehener DNA als jemand anders aus. Ein Mann stielt Lebenszeit von Reichen und gibt sie den Armen. Niccols Plots sind so treffend und spannend, weil die Welt, in der sie spielen, perfekt arrangiert ist. Vielleicht zu perfekt. Denn im Gegensatz zu Phantasten wie George Lucas oder Ridley Scott sind Niccols Welten minimalistisch, realitätsnah, clean und sehr fokussiert. Dieser starre Blick auf die Protagonisten kann schon mal dazu führen, dass die Stabilität seiner Welten ins Wanken gerät, wenn man nach links und rechts schaut.

 

Was Niccol beispielsweise in THE TRUMAN SHOW erzählt, ist nur so lange logisch, bis man den Blick von der Hauptfigur auf das lenkt, was nicht erzählt oder ausgespart wird. Ich würde das aber keineswegs als Logikbruch oder gar Loch bezeichnen. Niccol hat ziemlich gut verstanden, dass Geschichten erzählen oder Drehbücher schreiben auch immer das geschickte Weglassen von Ereignissen ist. Wenn man die Momente hinterfragt, in denen Truman Burbank auffallen muss, dass seine Welt gar nicht existiert, beginnt die Fassade zu bröckeln.

 

Neben cleveren Ideen und starken Plots sind auch die Figuren, die Niccol entwirft, einzigartig. Es sind keine strahlenden Helden, aber auch keine Antihelden. Die Figuren in Niccols Büchern sind meist tragische Wesen, die Schlupflöcher in seinen Mikrokosmen suchen und nutzen und mit unter symbolhafte Namen tragen: Truman Burbank (THE TRUMAN SHOW), Vincent Freeman (GATTACA) oder Will Sales (IN TIME) sind wunderbar geschriebene Charaktere, ebenso die Nebenfiguren (allen voran Raimond Leon aus IN TIME, Jack Valentine aus LORD OF WAR und Jerome Morrow aus GATTACA).

 

 

Phantastische Figurenkonstellation: Vincent Freeman (Ethan Hawke) und Jerome Morrow (Jude Law) in GATTACA (1998)

 

Auch gelingt Niccol meist das Kunststück, für diese Figuren wirklich gute Kommentare zu schreiben. Sarkasmus und Zynismus sind Niccols Stärken im Bereich Voice Over und Dialog. Letztendlich ist Niccol aber nicht nur Autor, sondern auch Regisseur seiner Stoffe, was ihm dann teilweise nicht so gut gelingt wie das Schreiben.

 

Die beste Verfilmung eines Niccol-Drehbuches bleibt für mich THE TRUMAN SHOW von Peter Weir, während Steven Spielberg an der Umsetzung von THE TERMINAL durch Kitsch und Pathos scheiterte. Wenn Niccol seine Bücher selbst verfilmt, landet er meist irgendwo zwischen diesen Polen. Bei GATTACA und S1MONE gelingt ihm das narrativ noch am Besten, während er mit IN TIME an der Actioninszenierung scheitert und bei LORD OF WAR Szenen ohne Bezug zum Waffenhandel meist zäh und farblos daherkommen. Das ändert aber nichts daran, dass Niccols Bücher verdammt cleveres Kopfkino sind, story driven, sehr stilistisch, realistischer Science-Fiction ohne Pomp. Für mich ist Andrew Niccol ein kleiner Philip K. Dick oder Isaac Asimov und definitiv einer der besten Autoren des amerikanischen Kinos.

 

 

Andrew Niccol latest updates: GOOD KILL (2014), ANON (2017 , post production), MONOPOLY (2018, screenplay)

 

Andrew Niccols neuer Film SEELEN (THE HOST) kommt im Juni 2013 in die Kinos und ist schon aus dem Grund interessant, weil Niccol zwar auch für das Drehbuch verantwortlich ist, aber das erste Mal den Stoff eines Fremdautors inszeniert. Das ist zu allem Überfluss auch noch ein Roman von Stephenie Meyer (Twillight). Trotzdem vertraue ich auf Niccol, denn enttäuscht hat er mich bislang noch nie, und wenn, dann auf sehr hohem Niveau. Wenn doch, was soll’s, spielt ja immer noch Saoirse Ronan mit.

 

12 Comments

  1. Antworten

    […] wird. Der Film erzählt aber keine Parabel über das Menschwerden einer Maschine oder eine Dystopie wie 1984 oder FAHRENHEIT 419. Das besondere an dem Film ist, dass er eigentlich nur die schlichte […]

  2. Antworten

    […] Die Themenfelder, die das Genre Science-Fiction tangieren, reichen von Zukunftsvisionen wie Utopien & Dystopien, Aliens, apokalyptische Weltuntergangsszenarien bis hin zu Geschichten über künstlicher […]

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    […] DER DOPPELDENKER – Andrew Niccol […]

  4. Antworten

    […] zur Science-Fiction, aber das kann man noch besser klassifizieren. STAR TREK ist eine der wenigen Utopien in der Filmgeschichte, also eine Wunschzukunft der Menschheit, in der Zivilisationen friedlich […]

  5. Antworten

    […] nur aus Tradition wegen freut es mich, den neuen Film von Drehbuchautor und Regisseur Andrew Niccol zu besprechen. Die bisherigen Kritiken sind allesamt vernichtend. Und auch ich war durchaus […]

  6. Antworten

    […] Film einen Titel wie GATTACA oder MEMENTO zu geben, aus Sicht eines hiesigen Autors, kann aber eben auch größeres, […]

  7. Antworten

    […] den seinen Ruf als surrealistischer Künstler. Gilliams wichtigstes Werk ist der Film BRAZIL, eine Dystopie um einen Überwachungsstaat, der mehr als nur eine visuelle Reizüberflutung an bizarren Momenten […]

  8. Antworten

    […] digitaler Schauspieler, sowas gab es bereits in Andrew Niccols Film S1MONE mit Al Pacino und Rachel Roberts als computergenerierter Megastar, patzte der Typ. Ich […]

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    […] zur Science-Fiction, aber das kann man noch besser klassifizieren. STAR TREK ist eine der wenigen Utopien in der Filmgeschichte, also eine Wunschzukunft der Menschheit, in der Zivilisationen friedlich […]

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    […] digitaler Schauspieler, sowas gab es bereits in Andrew Niccols Film S1MONE mit Al Pacino und Rachel Roberts als computergenerierter Megastar, patzte der Typ. Ich […]

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    […] ANON, der neue Film von Andrew Niccol (GATTACCA, LORD OF WAR), kam weder ins Kino noch in die deutsche Netflixbibliothek. Zwar kann […]

  12. Antworten

    […] Filmen wurden das Thema Geld weitergedacht, am ehesten noch in der cleveren Metapher IN TIME von Andrew Niccol. Darin wird aus Geld im wahrsten Sinne des Wortes zu Lebenszeit. In einer dystopischen Zukunft […]

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Christian Hempel | Autor, Dramaturg und Stoffentwickler | Gesslerstraße 4 | 10829 Berlin | +49 172 357 69 25 | info@traumfalter-filmwerkstatt.de